Das sind Monster, keine Menschen mehr
"Die Philosophie im Boudoir" des Marquis de Sade ist radikal, grausam, obszön. Herbert Fritsch inszeniert den quälenden Text in Bochum mit einem unglaublichen Ideenreichtum – aber das Sexgelaber und die Körperverrenkungen sind am Ende doch zu viel.
So viele gute Ideen stecken in diesem Abend, so viel konzeptionell Sinniges und Konsequentes, und am Ende zeigt sich doch: De Sade bleibt seelenlos, selbst wenn sich Regisseur Herbert Fritsch seiner annimmt.
"Die Philosophie im Boudoir" ist ein quälender Text, weniger wegen der Grausamkeiten, die darin vorkommen, als vielmehr wegen der Redundanzen und technischen Variationen vor allem des Geschlechtsverkehrs.
Eine junge adelige Witwe und ihr Bruder laden einen verderbten Libertin auf ihr Lustschloss ein, um eine 15-Jährige zu "erziehen". Die ist ganz begeistert und auch ihr Vater, ebenfalls ein Libertin, freut sich auf das Ergebnis – nur die Mutter steht plötzlich in der Tür und möchte die Tochter abholen. Stattdessen wird sie mit fürchterlichsten Todesstrafen bedroht, schließlich mit der Syphilis infiziert und vorne und hinten zugenäht.
Seine wüstesten Fantasien wurden überholt
Schön ist das nicht. Herbert Fritsch zeigt es auch nicht. Man sieht keine nackten Leiber, keine Kopulationsakte; den Text hat die Dramaturgie klug zusammengestrichen und erzählerische "Justine"- und "Juliette"-Passagen eingefügt. Es gibt keine identifizierbaren Rollen, alle Darsteller sprechen alle Figuren, der Text wandert von einem zum anderen. Das ist konsequent, denn es geht auch nicht um Charaktere.
De Sades dialogischer Text mitsamt dem manifestartigen Einschub an die "Franzosen, noch eine Anstrengung, wenn ihr Republikaner sein wollt" stammt von 1795. Da war er selbst ganz knapp dem Tod entronnen, unter anderem wohl deshalb, weil Robespierre, von dessen Urteil er abhing, kurz zuvor selbst entmachtet und getötet worden war. In Frankreich fraß die Revolution ihre Kinder.
Über das, was auf der Straße vor sich ging, schrieb selbst de Sade entgeistert. Es war, als hätte der Tugendterror seine wüstesten Fantasien überholt. 1789 hatte er wenige Tage vor dem Sturm auf die Bastille noch selbst dort eingesessen und von dort aufwiegelnde Reden gehalten, bevor er als Häftling, der vollkommen von der Gnade des Königs abhing, verlegt worden war. "Die Philosophie im Boudoir" erschien dann unter Pseudonym.
Kraftstrotzende Angeberei
Der Text verherrlicht die Natur (im Gegensatz zur Religion, die lächerlich gemacht und abgeschafft werden soll) als zerstörerische Kraft (im Gegensatz zu Rousseaus positivem Bild), unter der selbst ein Mord kein Verbrechen ist, weil ja alles, was ist, werden und vergehen muss, und ein Mörder nur den Willen der Natur ausführt.
Das heißt: Der Mensch ist nichts Besonderes auf der Welt. Und innerhalb der Menschheit hat man sich gegenseitig zur Verfügung zu stehen, wenn mal jemanden die Triebe überfallen. "Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht."
Das und die kraftstrotzende Sexualangeberei sind an sich immer wieder schon so überdreht, dass es komisch ist.
Fritsch, der auch die Bühne gestaltet hat, ist mit Kostüm (Victoria Behr), Licht (Bernd Felder) und Musik (Otto Beatus) eine kongeniale Komplizenschaft eingegangen. Zusammen zeigen sie düstere Bilder, in denen Bühnenelemente mitsamt Darstellern im Nichts zu schweben scheinen, Schatten wabern, helle Körper- und Kostümteile sich im schwarzglänzenden Boden spiegeln, grüne und rote 3D-Illusionen den Blick minutenlang verrutschen lassen, Bachs Johannes-Passion zerdehnt gesungen wird und gesprochene Stimmen verfremdet klingen, die Akustik atavistische Räume vortäuscht.
Die "überflüssigen" Menschen
Es ist ein unglaublicher Ideenreichtum, schon allein das Kostüm von Svetlana Belesova erinnert an Christkind, "Metropolis" und Mephisto gleichzeitig. Das Ensemble ist präsent, schneidet Grimassen, zeigt Körpereinsatz und insgesamt eine großartige Leistung, nimmt den Text Wort für Wort auseinander und bringt ihn sorgsam auf die Bühne – denn Natur ist Bewegung.
Aber es ist zu viel, zu viel Zungenstrecken und Körperverrenken, zu viel Sexgelaber, trotz aller Kürzungen, und deshalb dringt kaum durch, wie aktuell der Stoff tatsächlich ist. Die Bochumer haben "Frankreich" durch "Europa" ersetzt. Plötzlich bekommt das verächtliche Gerede über "überflüssige" Menschen einen extrem bitteren Beigeschmack. Aber leider geht die Sache etwas unter in den lustig-mechanischen Variationen des sexuellen Körpertheaters.
Als die Gesellschaft der Libertins dazu übergeht, die Mutter des jungen Mädchens zu foltern, erscheinen alle Darsteller mit weißen Strumpfmasken, gesichtslos, blind. Ohne Sinne, Sinnlichkeit und Sinn. Diesen Figuren geht selbst die Sade'sche Parodie ab. Sie sind keine Ausgeburten der Hölle mehr, sondern komplett leer.
Grauen, Abgrund und Langeweile lassen Teile des Publikums das Weite suchen – fatal für die Dunkelheit des Raumes, die so ständig gestört wird, und ein Schlag ins Gesicht für Ensemble und Konzept.
Denn bei aller typisch Fritsch'schen Überdreht- und Gewitztheit ist das ein sehr texttreuer Abend. Womöglich ist gerade das ein Teil des Problems.
Kunst darf schwer ertragbar sein. Diese Inszenierung schwankt nur so sehr von einem todlustigen Extrem ins abgrundtief Seelenlose, dass sie mitunter das Gleichgewicht verliert. Möglicherweise entwickelt sie sich ja auch noch. Hier und da hat man den Eindruck, dass manche Szenen einfach zu lang oder zu körperlich geraten sind. Das pendelt sich vielleicht noch ein.
Informationen des Schauspiels Bochum zur Inszenierung von "Die Philosophie im Boudoir".