„Wohin er auch blickte wucherte Vegetation. Hennen legten unaufhörlich Eier von keiner besonderen Färbung. Dann erinnerte er sich mit einem Seufzer seiner eigenen Zeugungskraft und seiner armen Ehegattin Jane, die nun in den Wochen ihres fünfzehnten Kindbetts im Haus drinnen lag, und er fragte sich, wie er da das Federvieh tadeln könne. Die ganze Himmelskuppel war nichts als ein ungeheures Federbett; und die unterschiedslose Fruchtbarkeit des Gartens, des Schlafzimmers und des Hühnerstalls war dort nachgeahmt: Er ging ins Haus, steckte den Kopf in den Gasherd, und als man ihn auffand, war er nicht mehr wiederzubeleben.“
Hühner in der Weltliteratur
Hühner sehen nett und ungefährlich aus, doch ihr plötzliches Erscheinen in literarischen Texten lässt nichts Gutes ahnen. © picture alliance / blickwinkel / McPHOTO / A. Schauhube
Die pickende Katastrophe
55:50 Minuten
Fliegen können sie kaum, krähen sehr wohl, am lautesten zur Unzeit, und Angst ist ihr ständiger Begleiter. Mit Hühnern ist kein Staat zu machen. Ihre Bedeutung in der Literatur sollte man jedoch nicht unterschätzen: ein Huhn im Text verkündet Unheil.
Das Federvieh ist nicht immer lieb, scheint aber ungefährlich. Es ist nämlich ausgesprochen ängstlich und ruckelt so lächerlich mit dem Kopf, dass man es gern übersieht. Dabei leben viermal mehr Hühner als Menschen auf der Welt, 30 bis 40 Milliarden, die meisten davon in qualvoller Enge und recht kurz. Glücklich dürfen sich wohl nur jene Tiere schätzen, denen noch ein „putt, putt, putt“ entgegenschallt.
Krallenspuren in der Kultur
Als Geschöpf, das den Menschen seit altersher begleitet, hat das Huhn in der Kultur zahlreiche und tiefe Krallenspuren und manche Feder hinterlassen. Alltägliches und Kulinarisches rund um Hahn, Henne und Ei dominieren die Überlieferung, doch die Metaphernlast des Hausvogels ist nicht zu unterschätzen. Zumal das Alltäglichste, etwa die sagenhafte Fruchtbarkeit des Huhns, dem an sich leidenden Bewohner in der Moderne ein Urteil spricht, das jemand wie Eusebius Chubb in Virginia Woolfs Roman "Orlando" nur demütig akzeptieren kann:
Taucht ein Huhn im Text auf, droht Unheil. Sind es mehrere, wird es noch schlimmer. Dieser Überzeugung sind so unterschiedliche Schriftsteller wie Virginia Woolf, Michail Bulgakow, Marcel Proust, Wilhelm Busch, Elias Canetti und Daniil Charms.
Brüten über dem Henne-Ei-Problem
Rolf Cantzen hat sich von der innigen Nähe der Glucke zu Tod und Verderben nicht schrecken lassen, auch nicht von Christian Morgensterns warnendem Galgenlied über „die Fingur und ihr Volk“, das mit einer „Nachtalp-Henne“ einsetzt.
Das Manuskript der Sendung können Sie hier herunterladen.
Begleitet von Gackern und Musiken über den kaum flugfähigen Vogel blickt er in zahlreiche weltliterarische Hühnerställe, brütet über dem Henne-Ei-Problem und ruft sein "putt, putt, putt“ in die Dunkelheit der Bibliotheken, in denen neben den gemeinen Haushühnern und manchen Kampfhähnen auch Jogging- und Yoga-Hühner, esoterische Hühner, Macho-Gockel und Familienglucken ihr harmlos scheinendes Unwesen treiben.
Es sprechen Frauke Poolman, Monika Oschek, Axel Wandtke und Holger Bülow
Ton: Thomas Monnerjahn
Regie: Beatrix Ackers
Redaktion: Jörg Plath
Deutschlandfunk Kultur 2022