Die Poesie erfundener Tiere
Er erfand Figuren wie die Ameise oder den Briefmark. Joachim Ringelnatz verstand es, im Kleinen das Große zu finden, meint Thomas Gsella. Der Chef des Satiremagazins "Titanic", selbst Lyriker und Ringelnatz-Preisträger, bekennt, er habe die "Lust am schönen Nonsens, der in absolutem Unsinn verebbt", von dem Dichter gelernt, der nun seinen 125. Geburtstag begeht.
Ulrike Timm: Joachim Ringelnatz, der wurde heute vor 125 Jahren geboren und bezeichnete das Leben immer als ein "Rutsch- vorbei". Und seinetwegen warten wir immer noch auf die Rückkehr des Bumerangs. Er schenkte uns auch die beiden Ameisen, die ihre Weltreise schon in Hamburg Altona beenden, der Beine wegen. Joachim Ringelnatz war ein liebevoller Spötter und ein genialer Allesverwerter, der Briefmark, die Ameise oder die Schraube. Nichts war ihm zu klein und für alles fand er putzige und überraschende Verse. Thomas Gsella ist Lyriker, Chef des Satiremagazins "Titanic", Ringelnatz-Preisträger und jetzt unser Gast. Schönen guten Tag!
Thomas Gsella: Guten Tag!
Timm: Herr Gsella, ist es der Blick für die ganz kleinen Dinge, der an Joachim Ringelnatz so fasziniert?
Gsella: Ich glaube, das ist ein Grund, warum er so berühmt wurde und auch auf der Bühne so erfolgreich war. Er hat ja so das Genre des Tiergedichtes ins Unendliche erweitert und ich glaube, er hat sogar Tiere noch dazu erfunden, die es gar nicht gab, damit er da noch schöne, lustige Reime machen konnte. Er ist schon der Beobachter des Kleinen, um dann in dem Kleinen das Große zu finden. Er hat ja viele Gedichte geschrieben, die es auf die Augen der Tiere abheben, dass da eine ganz fremde Welt herausschaut. Und weil er auch so schön vortragen konnte, passte das sehr gut zusammen.
Timm: Das ist putzig, das ist possierlich. Ist das heute noch moderne Dichtung?
Gsella: Es ist gerade heute wieder moderne Dichtung, weil sehr viele Jungreimer, die es ja wieder gibt dank der Vorarbeit von Rühmkorf und Gernhardt, heute wieder ganze Hallen damit füllen, dass sie so in Ringelnatz oder auch gern, also in seinem Stil und seinem Gefolge, wieder Tierreime machen, ganz brav, AB-AB-Reime. Das scheint wieder modern zu sein, weil man, glaube ich, wieder mehr meint als früher, dass der Reim doch eine sehr zauberhafte Technik ist, die zu einem Gedicht dazugehört.
Timm: Und sie gehört dazu, selbst wenn es ein bisschen Rumpel-reimig wird. Thomas Gsella, wie viel Melancholie steckt in diesem Humor von Joachim Ringelnatz?
Gsella: Sehr viel, wie ja alle großen Komiker todtraurige Menschen sind, ich hoffe, mich ausgenommen. Doch das ist auf jeden Fall, viel Traurigkeit steckt dahinter. Er hatte ja auch kein sehr fröhliches Leben, bis er dann sehr erfolgreich war und mit dem Flugzeug hin- und herfliegen konnte zu seinen Terminen. Sonst hatte er sich in vielen, in mehreren Dutzend Berufen versucht, ist mal im Gefängnis gelandet, war dann ganz unten sozusagen, um dann mit Glück und Können da rauszufinden. Er hatte auf jeden Fall allen Grund, sehr traurig zu sein. Er hatte viele tiefe Erfahrungen auch, und so weiter.
Timm: Dieses Leben, Sie haben es angedeutet, war ja nicht unkompliziert. Die Jobs, mit denen er sich über Wasser hielt und mit denen er seinen Schnaps bezahlte, die waren sehr zahlreich. Schlangenbändiger, Wahrsager im Bordell, Matrose, alles gehörte dazu. Wie würden Sie den Menschen Joachim Ringelnatz überhaupt charakterisieren?
Gsella: Er hatte ja alle Gelegenheit, recht brav und bieder aufzuwachsen. Er ist in einer bildungsbürgerlichen Familie groß geworden.
Timm: In Sachsen.
Gsella: In Sachsen. Genau. Ich hoffe, er hatte nicht allzu viele Probleme mit dem Dialekt, aber das ist nicht überliefert. Sein Vater war ja Kinderbuchautor und, also, die Eltern waren belesen und auch schon ein bisschen frech. Und diese Frechheit und diese Unangepasstheit hat er sehr schön ins Unendliche getrieben. Also, er ist dann, glaube ich, von der Schule geflogen, weil im Klassenbuch stand dann auch, er sei ein Schulrüpel ersten Ranges. Und dann fuhr er schon auf See, um der Enge dieses bürgerlichen Lebens zu entfliehen, ist dann sehr zurechtgestutzt worden, weil das natürlich wie Barbarei war auf den Schiffen. Er wurde getriezt, auch wegen seiner langen Nase. Also, er war von Anfang an wild und anarchisch und hatte überhaupt keine Lust, eine biedere, langweilige Berufskarriere zu verfolgen. Er wollte immer gucken, was los ist, was kann man machen, was kann man anders machen.
Timm: Steht er für Sie damit auch im Gegensatz zu anderen Künstlern seiner Zeit? Es war ja Weimarer Republik auf dem Sprung ins Dritte Reich, als er aktiv war.
Gsella: Also, ich finde schön bei ihm, dass er, also modern auch darin war, dass er die Sachen beim Namen nannte, die Ereignisse, die Menschen und die Körperteile werden nun mal eben so genannt, wie sie heißen. Er war sehr, sehr weit entfernt von dieser Mystik dieses Georgeschen Geraunes, dessen hat er sich nie angenommen. Das ist sehr erfrischend und macht ihn auch gerade heute zu einem sehr, sehr lesenswerten Künstler, weil man muss nicht erst in Sprachkonstruktionen hinabsteigen, um ihn zu begreifen. Er ist sofort verständlich und sofort gut.
Timm: Und das ist nicht so deutsch, wabernd, tiefsinnig, verschwurbelt, oder?
Gsella: Ja, eben.
Timm: Herr Gsella, die bekannteste Ringelnatz-Figur, das ist Kuddel Daddeldu, der Rum-durchtränkte Seemann, der das Blaue vom Himmel spinnt. Sie haben kurz schon auf Ringelnatz' Matrosenzeit abgehoben. Ringelnatz, den Sachsen, plagte ja zeitlebens die Sehnsucht nach dem Meer und nach dem sehr handfesten Leben an Bord. Vielleicht auch, weil da ein Sensibelchen lernt, wie man sich abhärtet?
Gsella: Das könnte sein. Andererseits gab es damals auch eh so eine Bewegung, dass ganz viele Autoren so als Nachwehe der Jugendbewegung und des Jugendstils zum Meer gepilgert sind regelrecht. Also, es gibt sogar von Thomas Mann eine Stelle, wo er sagt, das Meer ist der Urgrund des Lebens. Also, es war wohl allgemein so, vielleicht als Gegenbewegung zur Vergroßstädterung. Die Sehnsucht nach dem offenen Meer, dem bewegten Land, wo man also ganz anders leben konnte, als in der durchreglementierten Großstadt. Das war wahrscheinlich so ein Grund, dass er das gemacht hat. Und natürlich diese frühe Erfahrung, als er dann von zu Hause abgehauen ist und dann zur Seefahrt ging, wo er natürlich ganz früh Erfahrungen gemacht hat, die ihm schon gefallen haben werden.
Timm: Ein bisschen auch der Vordenker der deutschen Auswanderungswelle. Oder ist das zu viel?
Gsella: Ja, er ist zwar ganz brav wieder zurückgekehrt, aber natürlich um viele Fässer Rum reicher.
Timm: Was sagt der Lyriker, was sagt der Literat Thomas Gsella? Kennen wir den Seemann Kuddel Daddeldu zu gut und Joachim Ringelnatz trotzdem zu schlecht?
Gsella: Das ist ganz bestimmt so! Er ist ja damit berühmt geworden und es war ja so die Grundlage seines Reichtums und seiner Bekanntheit. Aber er hat viel, viel schönere Gedichte geschrieben als den "Kuddel Daddeldu". Er konnte ja, wie es gerade passte, wie er wollte, konnte er ja vom Lustigen ins Komische, ins Melancholische, ins Traurige, ins Wütende wechseln. Deswegen lohnt es sich auf jeden Fall, also nicht nur den "Kuddel Daddeldu" zu lesen, sondern den ganzen Ringelnatz. Das ist auch gar nicht so viel, es sind glaube ich 1500 Gedichte, die kann man ja in einem Jahr mal weglesen.
Timm: Es ist übersichtlich. Deutschlandradio Kultur, das Radiofeuilleton heute zum 125. Geburtstag von Joachim Ringelnatz. Wir sprechen darüber mit dem Lyriker Thomas Gsella, der selber Ringelnatz-Preisträger ist. Und Herr Gsella, ein Kollege hat mal sehr schön Sie einen Fußgängerzonen-Erzähler genannt. Würden Sie anders dichten, wenn Sie Ringelnatz nicht kennen würden?
Gsella: Bestimmt. Von ihm habe ich hoffentlich die Lust an schönem Nonsens, der wirklich in absolutem Unsinn verebbt und versandet, und da auch bleibt und sich dessen erfreut. Das habe ich bei ihm gelernt.
Timm: Haben Sie ein Lieblingsgedicht?
Gsella: Ich habe ein Gedicht, das finde ich sehr schön: In der "Schnupftabakdose" schreibt Ringelnatz, ich weiß nicht, darf ich es vorlesen?
Im dunklen Erdteil Afrika
Starb eine Ziehharmonika.
Sie wurde mit Musik begraben.
Am Grabe sassen zwanzig Raben.
Der Rabe Num'ro einundzwanzig
Fuhr mit dem Segelschiff nach Danzig
Und gründete dort etwas später
Ein Heim für kinderlose Väter.
Und die Moral von der Geschicht? -
Die weiss ich leider selber nicht.
Das Ende endet so schön sinnlos und, wenn ich jetzt noch darf, mein Gedicht, das ich glaube ich sogar vorher geschrieben habe, vor Ringelnatz:
Ach ja, oh weh, das liebe Geld,
ein Nacktmull ging nach Bielefeld,
zu finden Weisheit, Reichtum, Ruhm,
und starb recht spät, ja fast postum.
Moral, sie bleibt, was sehr erschrickt,
in diesem Falle unentdeckt.
Timm: Schüler und Lehrer will ich jetzt nicht sagen, das wäre gemein. Ich hatte ja eher gedacht, Sie würden den "Maiengruß an den Redakteur" bevorzugen, das Journalistengedicht von Ringelnatz, wo es schön drin heißt: Und je länger ein Gedicht ist, desto besser wird's bezahlt.
Gsella: Das ist auch sehr schön. Er beschreibt darin, dass natürlich ein Gedicht, je mehr Strophen es enthält, besser bezahlt wird. Und dieses Prinzip macht er sich zunutze, indem er endlose Zahlenreihen aneinanderreiht, um also diesem Redakteur, für den er das schreibt, noch ein paar mehr Reichstaler aus dem Kreuz zu leiern. Das finde ich auch wiederum so schön, weil ich das, ich glaube doch eher nach- als vorgemacht habe, in einem anderen Gedicht, das ich jedenfalls nicht vorlesen möchte, wo es auch darum geht, dass man mit Gedichten gefälligst Geld zu verdienen hat.
Timm: Und was empfehlen Sie einem Ringelnatz-Einsteiger, Thomas Gsella?
Gsella: Och, sofort alles. Ja, natürlich die Gedichte. Ich bin auch mit den Gedichten angefangen und eingestiegen mit diesen. Und dann soll man mit der Prosa weitermachen und dann auch die Bilder sich anschauen. Er war ja auch ein guter Maler. Und als Einführung ins Leben möchte ich noch mal werben für ein Buch, das bei Reclam erschienene Buch von Friederike und Frank Moebus. Das ist sehr schön. Das gibt einen Überblick über das Werk, auch das Prosa-Werk, und die Gedichte sind noch mal in der schönsten Auswahl da. So kann man gut anfangen.
Timm: Da haben wir die nächsten Wochen gut zu tun. Heute vor 125 Jahren wurde Joachim Ringelnatz geboren. Danke an den Lyriker Thomas Gsella für seine Sicht auf den Schöpfer des Kuddel Daddeldu, der, nachdem sein "Rutsch- vorbei", sein Leben nach 51 Jahren zu Ende ging, dann zu den Klängen von "La Paloma" stimmungsvoll begraben wurde.
Thomas Gsella: Guten Tag!
Timm: Herr Gsella, ist es der Blick für die ganz kleinen Dinge, der an Joachim Ringelnatz so fasziniert?
Gsella: Ich glaube, das ist ein Grund, warum er so berühmt wurde und auch auf der Bühne so erfolgreich war. Er hat ja so das Genre des Tiergedichtes ins Unendliche erweitert und ich glaube, er hat sogar Tiere noch dazu erfunden, die es gar nicht gab, damit er da noch schöne, lustige Reime machen konnte. Er ist schon der Beobachter des Kleinen, um dann in dem Kleinen das Große zu finden. Er hat ja viele Gedichte geschrieben, die es auf die Augen der Tiere abheben, dass da eine ganz fremde Welt herausschaut. Und weil er auch so schön vortragen konnte, passte das sehr gut zusammen.
Timm: Das ist putzig, das ist possierlich. Ist das heute noch moderne Dichtung?
Gsella: Es ist gerade heute wieder moderne Dichtung, weil sehr viele Jungreimer, die es ja wieder gibt dank der Vorarbeit von Rühmkorf und Gernhardt, heute wieder ganze Hallen damit füllen, dass sie so in Ringelnatz oder auch gern, also in seinem Stil und seinem Gefolge, wieder Tierreime machen, ganz brav, AB-AB-Reime. Das scheint wieder modern zu sein, weil man, glaube ich, wieder mehr meint als früher, dass der Reim doch eine sehr zauberhafte Technik ist, die zu einem Gedicht dazugehört.
Timm: Und sie gehört dazu, selbst wenn es ein bisschen Rumpel-reimig wird. Thomas Gsella, wie viel Melancholie steckt in diesem Humor von Joachim Ringelnatz?
Gsella: Sehr viel, wie ja alle großen Komiker todtraurige Menschen sind, ich hoffe, mich ausgenommen. Doch das ist auf jeden Fall, viel Traurigkeit steckt dahinter. Er hatte ja auch kein sehr fröhliches Leben, bis er dann sehr erfolgreich war und mit dem Flugzeug hin- und herfliegen konnte zu seinen Terminen. Sonst hatte er sich in vielen, in mehreren Dutzend Berufen versucht, ist mal im Gefängnis gelandet, war dann ganz unten sozusagen, um dann mit Glück und Können da rauszufinden. Er hatte auf jeden Fall allen Grund, sehr traurig zu sein. Er hatte viele tiefe Erfahrungen auch, und so weiter.
Timm: Dieses Leben, Sie haben es angedeutet, war ja nicht unkompliziert. Die Jobs, mit denen er sich über Wasser hielt und mit denen er seinen Schnaps bezahlte, die waren sehr zahlreich. Schlangenbändiger, Wahrsager im Bordell, Matrose, alles gehörte dazu. Wie würden Sie den Menschen Joachim Ringelnatz überhaupt charakterisieren?
Gsella: Er hatte ja alle Gelegenheit, recht brav und bieder aufzuwachsen. Er ist in einer bildungsbürgerlichen Familie groß geworden.
Timm: In Sachsen.
Gsella: In Sachsen. Genau. Ich hoffe, er hatte nicht allzu viele Probleme mit dem Dialekt, aber das ist nicht überliefert. Sein Vater war ja Kinderbuchautor und, also, die Eltern waren belesen und auch schon ein bisschen frech. Und diese Frechheit und diese Unangepasstheit hat er sehr schön ins Unendliche getrieben. Also, er ist dann, glaube ich, von der Schule geflogen, weil im Klassenbuch stand dann auch, er sei ein Schulrüpel ersten Ranges. Und dann fuhr er schon auf See, um der Enge dieses bürgerlichen Lebens zu entfliehen, ist dann sehr zurechtgestutzt worden, weil das natürlich wie Barbarei war auf den Schiffen. Er wurde getriezt, auch wegen seiner langen Nase. Also, er war von Anfang an wild und anarchisch und hatte überhaupt keine Lust, eine biedere, langweilige Berufskarriere zu verfolgen. Er wollte immer gucken, was los ist, was kann man machen, was kann man anders machen.
Timm: Steht er für Sie damit auch im Gegensatz zu anderen Künstlern seiner Zeit? Es war ja Weimarer Republik auf dem Sprung ins Dritte Reich, als er aktiv war.
Gsella: Also, ich finde schön bei ihm, dass er, also modern auch darin war, dass er die Sachen beim Namen nannte, die Ereignisse, die Menschen und die Körperteile werden nun mal eben so genannt, wie sie heißen. Er war sehr, sehr weit entfernt von dieser Mystik dieses Georgeschen Geraunes, dessen hat er sich nie angenommen. Das ist sehr erfrischend und macht ihn auch gerade heute zu einem sehr, sehr lesenswerten Künstler, weil man muss nicht erst in Sprachkonstruktionen hinabsteigen, um ihn zu begreifen. Er ist sofort verständlich und sofort gut.
Timm: Und das ist nicht so deutsch, wabernd, tiefsinnig, verschwurbelt, oder?
Gsella: Ja, eben.
Timm: Herr Gsella, die bekannteste Ringelnatz-Figur, das ist Kuddel Daddeldu, der Rum-durchtränkte Seemann, der das Blaue vom Himmel spinnt. Sie haben kurz schon auf Ringelnatz' Matrosenzeit abgehoben. Ringelnatz, den Sachsen, plagte ja zeitlebens die Sehnsucht nach dem Meer und nach dem sehr handfesten Leben an Bord. Vielleicht auch, weil da ein Sensibelchen lernt, wie man sich abhärtet?
Gsella: Das könnte sein. Andererseits gab es damals auch eh so eine Bewegung, dass ganz viele Autoren so als Nachwehe der Jugendbewegung und des Jugendstils zum Meer gepilgert sind regelrecht. Also, es gibt sogar von Thomas Mann eine Stelle, wo er sagt, das Meer ist der Urgrund des Lebens. Also, es war wohl allgemein so, vielleicht als Gegenbewegung zur Vergroßstädterung. Die Sehnsucht nach dem offenen Meer, dem bewegten Land, wo man also ganz anders leben konnte, als in der durchreglementierten Großstadt. Das war wahrscheinlich so ein Grund, dass er das gemacht hat. Und natürlich diese frühe Erfahrung, als er dann von zu Hause abgehauen ist und dann zur Seefahrt ging, wo er natürlich ganz früh Erfahrungen gemacht hat, die ihm schon gefallen haben werden.
Timm: Ein bisschen auch der Vordenker der deutschen Auswanderungswelle. Oder ist das zu viel?
Gsella: Ja, er ist zwar ganz brav wieder zurückgekehrt, aber natürlich um viele Fässer Rum reicher.
Timm: Was sagt der Lyriker, was sagt der Literat Thomas Gsella? Kennen wir den Seemann Kuddel Daddeldu zu gut und Joachim Ringelnatz trotzdem zu schlecht?
Gsella: Das ist ganz bestimmt so! Er ist ja damit berühmt geworden und es war ja so die Grundlage seines Reichtums und seiner Bekanntheit. Aber er hat viel, viel schönere Gedichte geschrieben als den "Kuddel Daddeldu". Er konnte ja, wie es gerade passte, wie er wollte, konnte er ja vom Lustigen ins Komische, ins Melancholische, ins Traurige, ins Wütende wechseln. Deswegen lohnt es sich auf jeden Fall, also nicht nur den "Kuddel Daddeldu" zu lesen, sondern den ganzen Ringelnatz. Das ist auch gar nicht so viel, es sind glaube ich 1500 Gedichte, die kann man ja in einem Jahr mal weglesen.
Timm: Es ist übersichtlich. Deutschlandradio Kultur, das Radiofeuilleton heute zum 125. Geburtstag von Joachim Ringelnatz. Wir sprechen darüber mit dem Lyriker Thomas Gsella, der selber Ringelnatz-Preisträger ist. Und Herr Gsella, ein Kollege hat mal sehr schön Sie einen Fußgängerzonen-Erzähler genannt. Würden Sie anders dichten, wenn Sie Ringelnatz nicht kennen würden?
Gsella: Bestimmt. Von ihm habe ich hoffentlich die Lust an schönem Nonsens, der wirklich in absolutem Unsinn verebbt und versandet, und da auch bleibt und sich dessen erfreut. Das habe ich bei ihm gelernt.
Timm: Haben Sie ein Lieblingsgedicht?
Gsella: Ich habe ein Gedicht, das finde ich sehr schön: In der "Schnupftabakdose" schreibt Ringelnatz, ich weiß nicht, darf ich es vorlesen?
Im dunklen Erdteil Afrika
Starb eine Ziehharmonika.
Sie wurde mit Musik begraben.
Am Grabe sassen zwanzig Raben.
Der Rabe Num'ro einundzwanzig
Fuhr mit dem Segelschiff nach Danzig
Und gründete dort etwas später
Ein Heim für kinderlose Väter.
Und die Moral von der Geschicht? -
Die weiss ich leider selber nicht.
Das Ende endet so schön sinnlos und, wenn ich jetzt noch darf, mein Gedicht, das ich glaube ich sogar vorher geschrieben habe, vor Ringelnatz:
Ach ja, oh weh, das liebe Geld,
ein Nacktmull ging nach Bielefeld,
zu finden Weisheit, Reichtum, Ruhm,
und starb recht spät, ja fast postum.
Moral, sie bleibt, was sehr erschrickt,
in diesem Falle unentdeckt.
Timm: Schüler und Lehrer will ich jetzt nicht sagen, das wäre gemein. Ich hatte ja eher gedacht, Sie würden den "Maiengruß an den Redakteur" bevorzugen, das Journalistengedicht von Ringelnatz, wo es schön drin heißt: Und je länger ein Gedicht ist, desto besser wird's bezahlt.
Gsella: Das ist auch sehr schön. Er beschreibt darin, dass natürlich ein Gedicht, je mehr Strophen es enthält, besser bezahlt wird. Und dieses Prinzip macht er sich zunutze, indem er endlose Zahlenreihen aneinanderreiht, um also diesem Redakteur, für den er das schreibt, noch ein paar mehr Reichstaler aus dem Kreuz zu leiern. Das finde ich auch wiederum so schön, weil ich das, ich glaube doch eher nach- als vorgemacht habe, in einem anderen Gedicht, das ich jedenfalls nicht vorlesen möchte, wo es auch darum geht, dass man mit Gedichten gefälligst Geld zu verdienen hat.
Timm: Und was empfehlen Sie einem Ringelnatz-Einsteiger, Thomas Gsella?
Gsella: Och, sofort alles. Ja, natürlich die Gedichte. Ich bin auch mit den Gedichten angefangen und eingestiegen mit diesen. Und dann soll man mit der Prosa weitermachen und dann auch die Bilder sich anschauen. Er war ja auch ein guter Maler. Und als Einführung ins Leben möchte ich noch mal werben für ein Buch, das bei Reclam erschienene Buch von Friederike und Frank Moebus. Das ist sehr schön. Das gibt einen Überblick über das Werk, auch das Prosa-Werk, und die Gedichte sind noch mal in der schönsten Auswahl da. So kann man gut anfangen.
Timm: Da haben wir die nächsten Wochen gut zu tun. Heute vor 125 Jahren wurde Joachim Ringelnatz geboren. Danke an den Lyriker Thomas Gsella für seine Sicht auf den Schöpfer des Kuddel Daddeldu, der, nachdem sein "Rutsch- vorbei", sein Leben nach 51 Jahren zu Ende ging, dann zu den Klängen von "La Paloma" stimmungsvoll begraben wurde.