Philosophie statt Polarisierung
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Sie studierte Regie und kam erst auf Umwegen zur Philosophie. Heute beobachtet Isolde Charim mit scharfem Blick ihre österreichische Heimat und will Philosophie für alle zugänglich machen. Denn: "Die Polarisierung der Gesellschaft wird immer spürbarer."
Als "freischwebende Intellektuelle" hat die Philosophin Isolde Charim sich einmal bezeichnet: "Nirgends fix angedockt und nirgends fix angestellt." Natürlich berge das ein Risiko, für sie sei es aber vor allem ein Gewinn. "Das ist sowohl ein ökonomischer Zustand als auch ein Lebenszustand."
Die Gräben einer gespaltenen Gesellschaft
Die 1959 geborene Isolde Charim gilt als präzise Beobachterin und Analytikerin der politischen und gesellschaftlichen Lage ihres Heimatlands Österreich. In ihrem Buch "Ich und die anderen" befasst sie sich mit Populismus und Leitkultur in einer immer pluralistischer werdenden Gesellschaft. Auch die schwarz-blaue Regierung in Österreich liefert ihr derzeit jede Menge Material für ihre Artikel, Kolumnen und Vorträge. Die Erfahrung des langen Präsidentschaftswahlkampfs habe gezeigt:
"Wir befinden uns in einer gespaltenen Gesellschaft, wo es Grenzen gibt für das, was der Dialog oder das Gespräch leisten kann. Weil es hier nicht um einen Austausch von Argumenten geht, sondern darum, dass jeder seine Position markiert. Das sind die Gräben einer gespaltenen Gesellschaft."
"Die Polarisierung der Gesellschaft wird immer spürbarer"
Auch wenn der Weg dahin ein schleichender gewesen sei, könne man die Auswirkungen doch deutlich spüren.
"Das Erste, was sich verändert, ist die Stimmung. Und das Zweite, was sich verändert, ist, dass sich ein gewisser Diskurs, vor allem ein fremdenfeindlicher Diskurs, normalisiert. Man merkt, wie das sehr weit in die Mitte der Gesellschaft hineingetragen wird und dass sich die Art, wie man sich öffentlich äußert, sehr verschoben und verändert hat. Man merkt, dass sich die Zeitungen immer mehr eindeutig positionieren, in die eine oder in die andere Richtung. Es gibt immer mehr Entmischung. Die Polarisierung der Gesellschaft wird immer spürbarer."
Anders als im Jahr 2000, als Isolde Charim selbst eine riesige Demonstration gegen die damalige rechtskonservative Regierung auf die Beine stellte und 300.000 Menschen auf dem Wiener Heldenplatz versammelte, habe sich heute die gesellschaftliche Haltung gegenüber den politischen Entwicklungen geändert. "Die Reaktion ist nicht so sehr eine explosive Anti-Haltung oder eine politische Energie, die dagegen ist, sondern es ist eher eine Form von passiver Resignation."
"Eine sehr kühle, graue und enge Welt"
Nicht nur wegen ihrer eigenen familiären Vergangenheit sieht Isolde Charim die Entwicklung mit Sorge. Mit Ausnahme ihrer Eltern ist nahezu die gesamte Verwandtschaft im Holocaust ermordet worden. Mitte der 50er Jahre kamen ihre Eltern, die während des Kriegs nach Palästina geflohen waren, nach Wien. Der Vater arbeitete dort als Korrespondent der israelischen Zeitung "Haaretz". Die Erfahrung als Angehörige der kleinen jüdischen Minderheit im Wien der 60er- und 70er-Jahre haben Isolde Charims politisches Denken stark beeinflusst.
"Es gab eine sehr klare Vorherrschaft und eine sehr klare Definition, was Österreichertum ist und wer dazugehört und wer nicht. Das hat das Leben sehr geprägt, auch für Kinder und Jugendliche. Das hat man in jedem Moment mitbekommen." Sie selbst habe nach dieser Definition "ganz eindeutig" nicht zu Österreich gehört. "Es war eine sehr kühle, graue und enge Welt."
Das Berlin der 80er-Jahre als große Befreiung
Bevor Isolde Charim allerdings als Philosophin und Publizistin in Erscheinung trat, versuchte sie sich auch in anderen Bereichen und studierte unter anderem am renommierten Max-Reinhardt-Seminar in Wien.
"In meiner Jugend war das vorherrschende Lebensgefühl das der Verweigerung. Man verweigert sich den vorgegebenen Formen, man verweigert sich den vorgegebenen Lebenswegen, ohne dass man dem so sehr etwas Eigenes entgegengehalten hat. Aber dieses Moment der Verweigerung war zentral und das hat auch die vielen Umwege bestimmt, die ich genommen habe."
Später ging Isolde Charim nach Berlin und studierte dort in den 80er-Jahren an der Freien Universität – für sie eine großartige Erfahrung. "Berlin war so hässlich! Das war so eine Erleichterung nach diesen wunderschönen Fassaden in Wien." Auch die sichtbaren Spuren des Krieges wie Einschusslöcher empfand sie als "große Befreiung". Anders als in ihrer Heimat sei die Vergangenheit anwesend geblieben. "In Wien gab es ja diese massive nationalsozialistische Vergangenheit, aber die war hinter diesen schönen glatten Fassaden einfach weggeräumt."
(er)