Die polnische Literaturnobelpreisträgerin Wislawa Szymborska ist gestorben

Von Martin Sander |
Sie war sehr zurückhaltend, gab selten Interviews und nach Erhalt des Literaturnobelpreises veröffentliche Wislawa Szymborska erst einmal einige Jahre lang nichts. Die Lyrikerin ging sparsam mit dem Wort um.
Die Lust am Zweifel, der Drang, alles in Frage zu stellen bei klarer Erkenntnis des eigenen Nicht-Wissens, vor allem das ist es, was die Lyrik der polnischen Literaturnobelpreisträgerin Wisława Szymborska geprägt hat.

Poesie -
was aber ist das, die Poesie.
Manch wacklige Antwort fiel
bereits auf diese Frage.
Aber ich weiß nicht und weiß nicht und halte mich
daran fest
wie an einem rettenden Geländer.


Wie hier in "Manche mögen Poesie" von 1993 erscheint die Vermeidung handfester, unwiderlegbarer Wahrheiten im gesamten Werk von Wisława Szymborska geradezu als dessen Existenzbedingung. Die Schwierigkeit, dem menschlichen Dasein als Dichterin gerecht zu werden, beschrieb die Autorin in einem ihrer raren Interviews (1974) einmal so:

"Über uns irrlichtert eine unendliche Menge von Sternen. Unter unserer Fußsohle spaziert indes ein kleiner Käfer, der zum Überfluss in seinem Bauch noch irgendwelche Parasiten trägt. Und erst zwischen jenem Punkt oben und diesem Punkt unten lässt sich über menschliche Angelegenheiten sprechen. Es geht um die Betrachtung des Menschen in dem, was uns umgibt - ob groß oder klein. Hier irgendwo müssen wir die menschlichen Proportionen herausfischen."

Häufig werden Szymborskas Gedichte von banalen Einsichten eingeleitet. Erst allmählich und manchmal hinterrücks befällt den Leser eine Ahnung von der philosophischen Spannweite der vermeintlich einfachen Gedanken. Ist Krieg ein unumstößliches Naturgesetz? Und wie werden die Menschen das dabei Erlebte anerkennen, verdrängen oder einordnen? In "Anfang und Ende" von 1993 heißt es:

Nach jedem Krieg
muss jemand aufräumen
So eine Ordnung danach
macht sich schließlich nicht von selbst.


Zur Welt kam Wisława Szymborska 1923 als Tochter eines Gutsverwalters in der Nähe von Posen. Anfang der 30er-Jahre ließ sich die Familie in Krakau nieder, der konservativ-katholisch gestimmten alten polnischen Königsstadt. Szymborska hielt ihr bis zum Ende ihres Lebens die Treue. Hier besuchte sie unter deutscher Besatzung ein polnisches Gymnasium im Untergrund und arbeitete dann bei der Eisenbahn. Nach Kriegsende studierte sie erst Polonistik, dann Soziologie - ohne Abschluss. Beeindruckt von den Werken des späteren Nobelpreisträgers Czesław Miłosz, fand sie zur Literatur. Ihr erster Gedichtband 1949 blieb unveröffentlicht. Zwei der folgenden, den Dogmen der Stalinzeit verpflichtet, waren der Dichterin später unangenehm.

Ihr ganz eigener Ton, ihre Ironie gegenüber den Gegebenheiten, ihre hohe Kunst des Fragens prägten die Literatur Szymborskas seit den späten 50er-Jahren. Damals kam sie mit den in Paris beheimateten Kreisen des antikommunistischen, liberalen polnischen Exils um die Zeitschrift "Kultura" in Verbindung. Von dem neuen Geist waren Bände wie "Anrufung des Yeti", "Salz" oder "Hundert Freuden" durchdrungen. Die Autorin wurde von der Kritik entdeckt und mit Preisen bedacht. Nicht nur in Polen, bald auch international wurde man auf Wisława Szymborska aufmerksam. Szymborkas wachsende Distanz zum Kommunismus fand schließlich Ausdruck in ihrem Parteiaustritt 1966.

Wisława Szymborska trat auch als Essayistin, Literaturkritikerin und Buchillustratorin hervor. Den Kern ihres einmaligen Werks bildet aber ein Dutzend schmaler Lyrikbände. Die Dichterin, im Umgang mit der Öffentlichkeit scheu, war ebenso vorsichtig, sogar zögerlich, wenn es um die Veröffentlichung ihrer Texte ging. Nachdem sie 1996 den Literaturnobelpreis erhalten hatte, publizierte sie einige Jahre nichts. Wer neugierig nachfragte, erhielt - erzählt man sich - die Antwort: Ich besitze schließlich einen Papierkorb. Ein Gedicht, das Wisława Szymborska aus der Hand gab, musste ihren höchsten Ansprüchen genügen. Zumeist klassisch einfach in der Wahl der Worte, plaudernd naiv und zugleich tief durchdacht sowie hoffnungslos existentiell, so wie hier in "Nichts zwei Mal" (von 1957):

"Nichts passiert ein zweites Mal
und niemals. Deswegen
kommen wir ohne Praxis auf die Welt und
gehen ohne Übung aus dem Leben."
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