Die polnische Wunde
In seinem Buch zeigt Journalist Franz Kadell vor allem eins: Katyn ist in den Köpfen der Polen längst noch nicht abgeschlossen. Dabei geht um das Trauma des sowjetischen Massenmordes im Jahr 1940 - und um den Absturz der polnischen Präsidentenmaschine im April 2010.
Die Mörder waren Fachleute, sie verstanden ihr Handwerk und setzten auf deutsche Wertarbeit.
"Schräg angesetzt fällt der Schuss. Die Kugel tritt in Stirnhöhe wieder aus. In der Regel reicht ein Schuss pro Gefangener, die NKWD-Henker haben geübte Hände. Das NKWD verwendet bei Katyn deutsche Walther-Pistolen aus Zella-Mehlis. Die sonst üblichen Toka-rew oder Negant-Revolver versagen zu oft bei Dauerbelastung."
Mit szenischen Schilderungen wie dieser bringt Franz Kadell den Leser sehr nahe heran ans historische Geschehen; ein Kunstgriff des promovierten Historikers und gelernten Journalisten, der Sinn macht bei einem Thema, von dem Jeder schon einmal gehört hat, dessen Bedeutung für die Gegenwart das interessierte Publikum zu kennen glaubt – und um das sich dennoch ein zähes Gestrüpp von Mythen rankt.
Das beginnt mit dem verbreiteten Irrtum, der Wald von Katyn sei der Schauplatz des Massenmords an gefangenen polnischen Offizieren durch den sowjetischen Geheimdienst NKWD im Frühjahr 1940. Tatsächlich ist Katyn nur einer von drei Tatorten dieses Verbrechens, dem rund 15.000 Menschen zum Opfer fielen, die Elite der polnischen Nation.
"Für Polen bedeutet der Massenmord eine nationale Katastrophe. Ein Teil der Akademikerschaft, Intelligenz und mehr als ein Drittel des Offiziersbestandes der Vorkriegszeit sind ausgerottet. Die Polen werden nicht mehr ruhen, bis die Fälle Katyn, Starobelsk und Ostaschkow geklärt und die Schuldigen genannt sind."
Und dieses Ringen um die Wahrheit über Katyn, das kurz nach der Tat einsetzt und sich über Jahrzehnte bis in die Gegenwart hinzieht, ist das eigentliche Thema dieses ebenso lesenswerten wie gut lesbaren Buches. Katyn - bleiben wir bei diesem Sammelbegriff für die Massaker an polnischen Offizieren in der Sowjetunion - Katyn wird zur Propaganda-Waffe im Zweiten Weltkrieg wie im Kalten Krieg.
Es wird zum Störfall für die Anti-Hitler-Koalition, zum Nicht-Thema bei den Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozessen und es bildet einen Kristallisationspunkt für die polnische Oppositionsbewegung der 70er und 80er Jahre, die schließlich zum Zusammenbruch jenes Systems führt, dem die Offiziere 1940 zum Opfer gefallen sind.
Franz Kadell zeichnet die Instrumentalisierung der Toten von Katyn minutiös nach: ihre Entdeckung durch deutsche Truppen 1943, die bei Propaganda-Minister Joseph Goebbels Frohlocken auslöste:
"Ich gebe Anweisung, dieses Propagandamaterial in weitestem Umfang auszunutzen. Wir werden einige Wochen davon leben können."
Die sowjetische Gegenpropaganda, die auch diese Untat den ausnahmsweise unschuldigen Nationalsozialisten anhängen wollte, wurde von der Weltöffentlichkeit gerne geglaubt, wiewohl die Regierungen Großbritanniens und der USA die Wahrheit durchaus kannten:
"Während des Krieges deckten Briten und Amerikaner wider besseres Wissen die sowjetische Lüge, um die Anti-Hitler-Koalition nicht zu gefährden. Und auch nach dem Krieg wurde das peinliche Thema weitgehend gemieden, um nicht zugeben zu müssen, dass die Moral auf der Strecke geblieben war."
Wie weit die West-Alliierten gingen, um ihr Bündnis mit dem sowjetischen Diktator Stalin nicht zu kompromittieren, deutet Kadell am Fall des Ministerpräsidenten der polnischen Exilregierung, General Władysław Sikorski an. Dass dessen angeblicher Unfalltod im Juli 1943 in Wahrheit auf das Konto des britischen Geheimdiensts gehe, sei zwar nicht bewiesen, aber naheliegend, so Kadell. Denn der Pole habe die Allianz von Anglo-Amerikanern und Sowjets erheblich belastet, indem er unermüdlich Aufklärung über die wirklichen Täter von Katyn verlangte. Dennoch:
"Die britischen Akten zur Untersuchung des Absturzes bleiben bis 2041 unter Verschluss, was nur bösen Verdacht nähren kann."
Für Polen war und ist dies aus mehreren Gründen schmerzlich. Nicht nur wegen des Verlustes an Menschenleben, sondern auch durch das jahrzehntelange Leugnen und Vertuschen der Wahrheit – beiderseits des Eisernen Vorhangs. In der Volksrepublik Polen galt über alle Führungswechsel hinweg bis zum Umbruch 1990 die offizielle Version von der deutschen Täterschaft, obwohl die Bevölkerung es besser wusste.
Daher war der Slogan der Solidarność-Bewegung aus den 80er Jahren – "Katyń pomścimy" – "Wir rächen Katyn" – gegen Moskau und das offizielle Warschau gerichtet, nicht gegen Bonn oder Ostberlin. Und obwohl der russische Präsident Boris Jelzin schließlich 1992 den von Stalin und dem gesamten Politbüro unterschriebenen Original-Befehl zur Ermordung der polnischen Offiziere präsentierte und damit die sowjetische Täterschaft eingestand, schwelt Katyn bis heute als Problemthema zwischen Russland und Polen, denn Entschädigungsfragen sind immer noch ungeklärt. Kadell sieht hier Moskau in Zugzwang.
"Wenn Russland das Erbe der Sowjetunion als Welt- und Atommacht beansprucht, muss es auch bereit sein, sich zu dem moralischen Ballast zu bekennen."
Dem Untertitel seines Werks – "Das zweifache Trauma der Polen" – widmet Franz Kadell die letzten 30 Seiten des Buchs. Wobei die zweite Traumatisierung durch das Flugzeug-Unglück von Smolensk am 10. April 2010 ausgelöst wurde, dem neben Staatspräsident Lech Kaczyński zahlreiche Spitzenvertreter von Politik, Militär und Gesellschaft Polens zum Opfer fielen. Sie waren auf dem Weg zu einer Gedenkfeier in Katyn gewesen, zum 70. Jahrestag der Morde.
Nachdem Kadell die Bedeutung der ersten Tragödie von Katyn für Polen ausführlich geschildert hatte, wird dem Leser nun unmittelbar klar, warum der Flugzeug-Absturz im vorigen Jahr das Land derart aufgewühlt hat, warum Verschwörungstheorien wucherten und die polnische Innenpolitik irrationale Züge annahm.
"Eine Verklärung setzt ein, die nur durch das Trauma Katyn erklär-bar ist. Umstrittene, bewunderte wie gehasste Funktionäre und Parteipolitiker verkörpern nun plötzlich die Elite, die Blüte der Nation."
Kadell enthält sich einer Bewertung dieser hoch emotionalen Debatten. Er überlässt sie anderen wie dem polnischen Schriftsteller Andrzej Stasiuk, den er mit der Bemerkung zitiert, Polen sei "der Nekrophile unter den Nationen", weswegen Trauerarbeit in seinem Land häufig extreme Züge annehme. Als außenstehender Beobachter räumt Franz Kadell aber ein:
"Die Tragödie von Smolensk hat bewirkt, dass das Wort ‚Katyn’ keinen leeren Klang mehr in der Welt hat oder lediglich als eine polnische Obsession angesehen wird."
Dieses Fazit spiegelt die Intention wieder, die Franz Kadell mit der Verknüpfung der beiden Traumata von Katyn verfolgt: die Gegenwart aus der Vergangenheit erklärlich zu machen. Der deutsche Leser erkennt, warum das Verhältnis zwischen Polen und Russland bis heute derart belastet ist.
Und er wird mit der unerfreulichen Rolle der Westmächte bei der Vertuschung der Wahrheit über Katyn konfrontiert. Zu diesem Punkt hätte man gerne mehr erfahren, doch Kadell konnte dieses Thema wohl nicht vertiefen, denn die Quellenlage ist dürftig und viele Archive bleiben vorläufig verschlossen. Katyn wird die Historiker noch lange beschäftigen.
Franz Kadell: Katyn. Das zweifache Trauma der Polen
Herbig Verlag München, 2011
"Schräg angesetzt fällt der Schuss. Die Kugel tritt in Stirnhöhe wieder aus. In der Regel reicht ein Schuss pro Gefangener, die NKWD-Henker haben geübte Hände. Das NKWD verwendet bei Katyn deutsche Walther-Pistolen aus Zella-Mehlis. Die sonst üblichen Toka-rew oder Negant-Revolver versagen zu oft bei Dauerbelastung."
Mit szenischen Schilderungen wie dieser bringt Franz Kadell den Leser sehr nahe heran ans historische Geschehen; ein Kunstgriff des promovierten Historikers und gelernten Journalisten, der Sinn macht bei einem Thema, von dem Jeder schon einmal gehört hat, dessen Bedeutung für die Gegenwart das interessierte Publikum zu kennen glaubt – und um das sich dennoch ein zähes Gestrüpp von Mythen rankt.
Das beginnt mit dem verbreiteten Irrtum, der Wald von Katyn sei der Schauplatz des Massenmords an gefangenen polnischen Offizieren durch den sowjetischen Geheimdienst NKWD im Frühjahr 1940. Tatsächlich ist Katyn nur einer von drei Tatorten dieses Verbrechens, dem rund 15.000 Menschen zum Opfer fielen, die Elite der polnischen Nation.
"Für Polen bedeutet der Massenmord eine nationale Katastrophe. Ein Teil der Akademikerschaft, Intelligenz und mehr als ein Drittel des Offiziersbestandes der Vorkriegszeit sind ausgerottet. Die Polen werden nicht mehr ruhen, bis die Fälle Katyn, Starobelsk und Ostaschkow geklärt und die Schuldigen genannt sind."
Und dieses Ringen um die Wahrheit über Katyn, das kurz nach der Tat einsetzt und sich über Jahrzehnte bis in die Gegenwart hinzieht, ist das eigentliche Thema dieses ebenso lesenswerten wie gut lesbaren Buches. Katyn - bleiben wir bei diesem Sammelbegriff für die Massaker an polnischen Offizieren in der Sowjetunion - Katyn wird zur Propaganda-Waffe im Zweiten Weltkrieg wie im Kalten Krieg.
Es wird zum Störfall für die Anti-Hitler-Koalition, zum Nicht-Thema bei den Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozessen und es bildet einen Kristallisationspunkt für die polnische Oppositionsbewegung der 70er und 80er Jahre, die schließlich zum Zusammenbruch jenes Systems führt, dem die Offiziere 1940 zum Opfer gefallen sind.
Franz Kadell zeichnet die Instrumentalisierung der Toten von Katyn minutiös nach: ihre Entdeckung durch deutsche Truppen 1943, die bei Propaganda-Minister Joseph Goebbels Frohlocken auslöste:
"Ich gebe Anweisung, dieses Propagandamaterial in weitestem Umfang auszunutzen. Wir werden einige Wochen davon leben können."
Die sowjetische Gegenpropaganda, die auch diese Untat den ausnahmsweise unschuldigen Nationalsozialisten anhängen wollte, wurde von der Weltöffentlichkeit gerne geglaubt, wiewohl die Regierungen Großbritanniens und der USA die Wahrheit durchaus kannten:
"Während des Krieges deckten Briten und Amerikaner wider besseres Wissen die sowjetische Lüge, um die Anti-Hitler-Koalition nicht zu gefährden. Und auch nach dem Krieg wurde das peinliche Thema weitgehend gemieden, um nicht zugeben zu müssen, dass die Moral auf der Strecke geblieben war."
Wie weit die West-Alliierten gingen, um ihr Bündnis mit dem sowjetischen Diktator Stalin nicht zu kompromittieren, deutet Kadell am Fall des Ministerpräsidenten der polnischen Exilregierung, General Władysław Sikorski an. Dass dessen angeblicher Unfalltod im Juli 1943 in Wahrheit auf das Konto des britischen Geheimdiensts gehe, sei zwar nicht bewiesen, aber naheliegend, so Kadell. Denn der Pole habe die Allianz von Anglo-Amerikanern und Sowjets erheblich belastet, indem er unermüdlich Aufklärung über die wirklichen Täter von Katyn verlangte. Dennoch:
"Die britischen Akten zur Untersuchung des Absturzes bleiben bis 2041 unter Verschluss, was nur bösen Verdacht nähren kann."
Für Polen war und ist dies aus mehreren Gründen schmerzlich. Nicht nur wegen des Verlustes an Menschenleben, sondern auch durch das jahrzehntelange Leugnen und Vertuschen der Wahrheit – beiderseits des Eisernen Vorhangs. In der Volksrepublik Polen galt über alle Führungswechsel hinweg bis zum Umbruch 1990 die offizielle Version von der deutschen Täterschaft, obwohl die Bevölkerung es besser wusste.
Daher war der Slogan der Solidarność-Bewegung aus den 80er Jahren – "Katyń pomścimy" – "Wir rächen Katyn" – gegen Moskau und das offizielle Warschau gerichtet, nicht gegen Bonn oder Ostberlin. Und obwohl der russische Präsident Boris Jelzin schließlich 1992 den von Stalin und dem gesamten Politbüro unterschriebenen Original-Befehl zur Ermordung der polnischen Offiziere präsentierte und damit die sowjetische Täterschaft eingestand, schwelt Katyn bis heute als Problemthema zwischen Russland und Polen, denn Entschädigungsfragen sind immer noch ungeklärt. Kadell sieht hier Moskau in Zugzwang.
"Wenn Russland das Erbe der Sowjetunion als Welt- und Atommacht beansprucht, muss es auch bereit sein, sich zu dem moralischen Ballast zu bekennen."
Dem Untertitel seines Werks – "Das zweifache Trauma der Polen" – widmet Franz Kadell die letzten 30 Seiten des Buchs. Wobei die zweite Traumatisierung durch das Flugzeug-Unglück von Smolensk am 10. April 2010 ausgelöst wurde, dem neben Staatspräsident Lech Kaczyński zahlreiche Spitzenvertreter von Politik, Militär und Gesellschaft Polens zum Opfer fielen. Sie waren auf dem Weg zu einer Gedenkfeier in Katyn gewesen, zum 70. Jahrestag der Morde.
Nachdem Kadell die Bedeutung der ersten Tragödie von Katyn für Polen ausführlich geschildert hatte, wird dem Leser nun unmittelbar klar, warum der Flugzeug-Absturz im vorigen Jahr das Land derart aufgewühlt hat, warum Verschwörungstheorien wucherten und die polnische Innenpolitik irrationale Züge annahm.
"Eine Verklärung setzt ein, die nur durch das Trauma Katyn erklär-bar ist. Umstrittene, bewunderte wie gehasste Funktionäre und Parteipolitiker verkörpern nun plötzlich die Elite, die Blüte der Nation."
Kadell enthält sich einer Bewertung dieser hoch emotionalen Debatten. Er überlässt sie anderen wie dem polnischen Schriftsteller Andrzej Stasiuk, den er mit der Bemerkung zitiert, Polen sei "der Nekrophile unter den Nationen", weswegen Trauerarbeit in seinem Land häufig extreme Züge annehme. Als außenstehender Beobachter räumt Franz Kadell aber ein:
"Die Tragödie von Smolensk hat bewirkt, dass das Wort ‚Katyn’ keinen leeren Klang mehr in der Welt hat oder lediglich als eine polnische Obsession angesehen wird."
Dieses Fazit spiegelt die Intention wieder, die Franz Kadell mit der Verknüpfung der beiden Traumata von Katyn verfolgt: die Gegenwart aus der Vergangenheit erklärlich zu machen. Der deutsche Leser erkennt, warum das Verhältnis zwischen Polen und Russland bis heute derart belastet ist.
Und er wird mit der unerfreulichen Rolle der Westmächte bei der Vertuschung der Wahrheit über Katyn konfrontiert. Zu diesem Punkt hätte man gerne mehr erfahren, doch Kadell konnte dieses Thema wohl nicht vertiefen, denn die Quellenlage ist dürftig und viele Archive bleiben vorläufig verschlossen. Katyn wird die Historiker noch lange beschäftigen.
Franz Kadell: Katyn. Das zweifache Trauma der Polen
Herbig Verlag München, 2011