Die Radsportlegende Ostdeutschlands
Er war der Gagarin der Landstraße und die ehrlichste Haut des Ostens. Straßenradweltmeister, Volkskammer- und Bundestagsabgeordneter. Klaus Blume, ehemaliger Sportchef bei der "Welt" erinnert sich daran, wie er dem Team des Radfahrers als Junge in der DDR zujubelte.
Ulrike Timm: So gut kann ein Mensch eigentlich gar nicht sein. Er war der Gagarin der Landstraße und die ehrlichste Haut des Ostens, der beliebteste, berühmteste und beste Mensch der DDR. Straßenradweltmeister, Volkskammerabgeordneter für die SED, Bundestagsabgeordneter für die PDS und, und, und. Heute wird Gustav-Adolf "Täve" Schur 80 Jahre alt. Und jetzt liegt auch die Autobiografie der Sportlegende vor, sie heißt – natürlich – schlicht "Täve". Über Mann und Werk spreche ich mit Klaus Blume. Er war viele Jahre Sportchef bei der "Welt" und ist Radsportexperte. Ich grüße Sie!
Klaus Blume: Ich grüße Sie auch, Frau Timm!
Timm: Herr Blume, "Täve" Schur hat selbst als innere Überschrift über sein Leben mal kürzlich gesagt: Ich hatte richtig Glück. Wäre das auch ein passender Titel gewesen, in vielerlei Hinsicht?
Blume: Es wäre durchaus ein passender Titel gewesen, denn er hatte ja Glück schon, indem er aufgebaut werden sollte zum Max Schmeling der damaligen Ostzone. Das war etwas dreist, weil Max Schmeling ja nicht nur wegen seiner boxerischen Fähigkeiten geschätzt wurde, sondern vor allem, weil er ja den Machthabern des Dritten Reiches niemals die Hand gereicht hatte, sondern sich vor seine jüdischen Freunde gestellt hatte. "Täve" Schur hingegen hat ja den Machthabern des "vierten Reiches" bereitwilligst die Hand gereicht und wurde dann eben auch immer weiter in die Höhe gereicht.
Timm: Gleichzeitig war er unglaublich beliebt bei den Menschen in der DDR. Es gibt einen Satz über ihn – leider nicht von mir, muss man heute ja lieber dazusagen: Er sieht aus wie eine Mischung aus Hans Modrow, Fred Astaire und Sepp Herberger und redet auch so. Und offensichtlich reichte diese charmante Melange für ein ganzes Leben. Woran liegt das?
Blume: Ja, weil er selbstbewusst war, charmant war, selbstironisch gewesen ist, und so konnte er auch immer über sich selbst etwas erzählen, und zwar richtig frei von der Leber weg – das kam natürlich an. Das andere war auch: Ich bin ja damals in der ehemaligen DDR aufgewachsen, ich hab ihn ja auch noch fahren gesehen, während der Friedensfahrt, auf den Straßen, zwischen Halle und zwischen Leipzig, bin ja mit meinem alten Drahtesel extra dorthin gefahren, um ihm zuzujubeln. Das war natürlich eine Begeisterung, die ganz enorm war. Das war ganz im Gegensatz zu dem, was man im Westen erzählt hat, dass wir dort in Pioniergruppen hingetrieben wurden, um "Täve" Schur und seiner Mannschaft zuzujubeln. Das war nicht der Fall. Wir sind ja bereitwilligst aus der Schule geflohen, um kilometerweit über Land zu fahren, um diese Rennfahrer wirklich sehen zu können, live sehen zu können, würde man heute sagen.
Timm: Aber politisch gesehen war es schon ein Leben nach dem Motto, früher war alles besser, nicht? Und früher hieß bis 89.
Blume: Na ja, er ist ja noch heute politisch tätig. Er sitzt im Gemeinderat von Heyrothsberge für die Partei Die Linke, und Gregor Gysi hat ja eingeladen für den Samstag zu einer Fete "Tusch für Täve" in Kleinmühlingen, das liegt in der Magdeburger Börde, also nicht ganz weit entfernt von seinem Heimatort Heyrothsberge. Und politisch ist er natürlich immer tätig gewesen, aber das Schlimmste an dem, was er politisch vollbracht hat, ist eben dieses jetzige Buch, das vor Geschichtsklitterung und teilweise vor Zynismus nur so strotzt.
Timm: Und was meinen Sie damit?
Blume: Ich meine, es geht natürlich nicht an, wenn er den Volksaufstand am 17. Juli 1953 so schildert, dass die Niederschlagung, die Niederknüppelung dieses Volksaufstandes erstens der gerechten, und damit der sozialistischen Sache gedient habe, und zweitens, dass man es deshalb machen musste, weil das ja nur im damaligen Ostberlin – vom RIAS gestützt – ein Aufstand gewesen ist, das war ja nicht der Fall. Es war ja ein ganz anderes Ding, was damals passiert ist. Die Arbeiter hatten sich erhoben wegen drastisch erhöhter Arbeitsnormen und nicht eben nur in Berlin, sondern vor allen Dingen in den mitteldeutschen Industriebezirken, in Halle, in Leipzig, auch natürlich oberhalb und unterhalb der Oder, das war ganz selbstverständlich. Die andere Sache ist, dass sich Schur jubelnd in seinem Buch an 1956 erinnert und da schreibt: "In Ungarn waren sowjetische Truppen einmarschiert, bereiteten dem Morgen konterrevolutionärer Putschisten ein Ende und setzten die Regierung unter Janos Kadar wieder ein." Ausgerechnet Kadar, unter dessen Führung dann mehr als tausend Menschen hingerichtet wurden. Unter diesen Hinrichtungen leiden noch heute Familien über Familien in Ungarn.
Timm: Herr Blume, was mich ein bisschen wundert, die politische Haltung von "Täve" Schur, soweit er sie mit seinen recht einfachen Mitteln und seiner recht einfachen Sprache vertreten hat, die ist ja lange bekannt, nicht nur seit er seine Autobiografie nicht selbst mit jemand zusammen geschrieben hat, trotzdem hat man ihm das ja immer, immer verziehen. Ist das die reine Ostalgie, dass man das übergeht, oder geht das tiefer?
Blume: Das geht noch etwas tiefer als nur Ostalgie, denn "Täve" Schur ist ja nicht nur neunmal Sportler des Jahres geworden – das ist ein Rekord für die Ewigkeit –, er ist auch Träger des Vaterländischen Verdienstordens in Gold, und zwar des seltenen Sondermodells mit Ehrenspange, und sogar ein Planetoid wurde ihm zu Ehren genannt. Aber entscheidend ist ja wohl auch, dass er etwas vorlebt, was mehr als Ostalie, sondern Nostalgie. Er sagt ja, er trinke nicht, rauche nicht, esse jeden Morgen warme Haferflockensuppe, um die Magenwände zu stärken, und fahre dann so etwa 70 Kilometer Rad.
Timm: Das sind doch gute Sätze für einen Volkshelden.
Blume: Das sind sehr gute Sätze für einen Volksheld …
Timm: Und man kann ja auch eigentlich einem aufrechten Kommunisten schlecht seine aufrecht kommunistische Grundhaltung vorwerfen, das bringt ja wenig.
Blume: Nein, im Gegenteil. Ich habe mich immer verbeugt vor dieser Grundhaltung eines "Täve" Schur, der niemals als Wendehals gelten konnte und wollte. Ich fand das also auch sehr ironisch und humoristisch, als sein Sohn Jan, der Olympiasieger gewesen ist auch im Radsport, dann 1990 für das italienische Profiteam fuhr und dann für Geld in die Pedale trat. "Täve" schickte ihm als Kommentar nach Italien einen getöpferten Arsch mit Ohren – das fand ich sehr ironisch. An dieser Einstellung hat sich ja nichts geändert. Und das ist durchaus mehr als nur Ostalgie.
Timm: Herr Blume, ich bin als Radsportlaiin über einen anderen Satz gestolpert, über einen Nebensatz. Er spricht von "Ärzten, die mein Training steuerten". Wie viel doppelten Boden hat dieser Satz?
Blume: Es gab den sportmedizinischen Dienst der DDR, der aber so richtig erst eingesetzt wurde, als "Täve" schon längst nicht mehr fuhr. "Täve" ist ja 1964 zurückgetreten, und den Beschluss des Zentralkomitees der SED, den Sport mithilfe von trainingsunterstützenden Mitteln und Maßnahmen zu führen, der fand ja erst zehn Jahre später statt. Infolgedessen möchte ich das nicht als Dopingvorbereitung werten, sondern wirklich als ärztliches Unterpfand einer guten Leistung, einer guten sportlichen Leistung. Ich erinnere mich auch, dass man zumindest in den späten 50er-Jahren – ich bin bis 1959 noch in der DDR gewesen und habe dort Sport betrieben, auch Hochleistungssport –, da gab es also noch nicht die Versuche, auch Mitglieder eines DDR-Kaders für Junioren-Nationalmannschaften zum Beispiel an Doping heranzuführen. Das geschah dann eben wirklich später.
Timm: Klaus Blume, langjähriger Sportchef der "Welt". Ich sprach mit ihm über "Täve" Schur, die Sportlegende Ostdeutschlands wird heute 80 Jahre alt und hat viel Zauber verbreitet, aber auch eine Menge Zweifelhaftes an sich. Herzlichen Dank, Herr Blume!
Blume: Ich danke auch!
Klaus Blume: Ich grüße Sie auch, Frau Timm!
Timm: Herr Blume, "Täve" Schur hat selbst als innere Überschrift über sein Leben mal kürzlich gesagt: Ich hatte richtig Glück. Wäre das auch ein passender Titel gewesen, in vielerlei Hinsicht?
Blume: Es wäre durchaus ein passender Titel gewesen, denn er hatte ja Glück schon, indem er aufgebaut werden sollte zum Max Schmeling der damaligen Ostzone. Das war etwas dreist, weil Max Schmeling ja nicht nur wegen seiner boxerischen Fähigkeiten geschätzt wurde, sondern vor allem, weil er ja den Machthabern des Dritten Reiches niemals die Hand gereicht hatte, sondern sich vor seine jüdischen Freunde gestellt hatte. "Täve" Schur hingegen hat ja den Machthabern des "vierten Reiches" bereitwilligst die Hand gereicht und wurde dann eben auch immer weiter in die Höhe gereicht.
Timm: Gleichzeitig war er unglaublich beliebt bei den Menschen in der DDR. Es gibt einen Satz über ihn – leider nicht von mir, muss man heute ja lieber dazusagen: Er sieht aus wie eine Mischung aus Hans Modrow, Fred Astaire und Sepp Herberger und redet auch so. Und offensichtlich reichte diese charmante Melange für ein ganzes Leben. Woran liegt das?
Blume: Ja, weil er selbstbewusst war, charmant war, selbstironisch gewesen ist, und so konnte er auch immer über sich selbst etwas erzählen, und zwar richtig frei von der Leber weg – das kam natürlich an. Das andere war auch: Ich bin ja damals in der ehemaligen DDR aufgewachsen, ich hab ihn ja auch noch fahren gesehen, während der Friedensfahrt, auf den Straßen, zwischen Halle und zwischen Leipzig, bin ja mit meinem alten Drahtesel extra dorthin gefahren, um ihm zuzujubeln. Das war natürlich eine Begeisterung, die ganz enorm war. Das war ganz im Gegensatz zu dem, was man im Westen erzählt hat, dass wir dort in Pioniergruppen hingetrieben wurden, um "Täve" Schur und seiner Mannschaft zuzujubeln. Das war nicht der Fall. Wir sind ja bereitwilligst aus der Schule geflohen, um kilometerweit über Land zu fahren, um diese Rennfahrer wirklich sehen zu können, live sehen zu können, würde man heute sagen.
Timm: Aber politisch gesehen war es schon ein Leben nach dem Motto, früher war alles besser, nicht? Und früher hieß bis 89.
Blume: Na ja, er ist ja noch heute politisch tätig. Er sitzt im Gemeinderat von Heyrothsberge für die Partei Die Linke, und Gregor Gysi hat ja eingeladen für den Samstag zu einer Fete "Tusch für Täve" in Kleinmühlingen, das liegt in der Magdeburger Börde, also nicht ganz weit entfernt von seinem Heimatort Heyrothsberge. Und politisch ist er natürlich immer tätig gewesen, aber das Schlimmste an dem, was er politisch vollbracht hat, ist eben dieses jetzige Buch, das vor Geschichtsklitterung und teilweise vor Zynismus nur so strotzt.
Timm: Und was meinen Sie damit?
Blume: Ich meine, es geht natürlich nicht an, wenn er den Volksaufstand am 17. Juli 1953 so schildert, dass die Niederschlagung, die Niederknüppelung dieses Volksaufstandes erstens der gerechten, und damit der sozialistischen Sache gedient habe, und zweitens, dass man es deshalb machen musste, weil das ja nur im damaligen Ostberlin – vom RIAS gestützt – ein Aufstand gewesen ist, das war ja nicht der Fall. Es war ja ein ganz anderes Ding, was damals passiert ist. Die Arbeiter hatten sich erhoben wegen drastisch erhöhter Arbeitsnormen und nicht eben nur in Berlin, sondern vor allen Dingen in den mitteldeutschen Industriebezirken, in Halle, in Leipzig, auch natürlich oberhalb und unterhalb der Oder, das war ganz selbstverständlich. Die andere Sache ist, dass sich Schur jubelnd in seinem Buch an 1956 erinnert und da schreibt: "In Ungarn waren sowjetische Truppen einmarschiert, bereiteten dem Morgen konterrevolutionärer Putschisten ein Ende und setzten die Regierung unter Janos Kadar wieder ein." Ausgerechnet Kadar, unter dessen Führung dann mehr als tausend Menschen hingerichtet wurden. Unter diesen Hinrichtungen leiden noch heute Familien über Familien in Ungarn.
Timm: Herr Blume, was mich ein bisschen wundert, die politische Haltung von "Täve" Schur, soweit er sie mit seinen recht einfachen Mitteln und seiner recht einfachen Sprache vertreten hat, die ist ja lange bekannt, nicht nur seit er seine Autobiografie nicht selbst mit jemand zusammen geschrieben hat, trotzdem hat man ihm das ja immer, immer verziehen. Ist das die reine Ostalgie, dass man das übergeht, oder geht das tiefer?
Blume: Das geht noch etwas tiefer als nur Ostalgie, denn "Täve" Schur ist ja nicht nur neunmal Sportler des Jahres geworden – das ist ein Rekord für die Ewigkeit –, er ist auch Träger des Vaterländischen Verdienstordens in Gold, und zwar des seltenen Sondermodells mit Ehrenspange, und sogar ein Planetoid wurde ihm zu Ehren genannt. Aber entscheidend ist ja wohl auch, dass er etwas vorlebt, was mehr als Ostalie, sondern Nostalgie. Er sagt ja, er trinke nicht, rauche nicht, esse jeden Morgen warme Haferflockensuppe, um die Magenwände zu stärken, und fahre dann so etwa 70 Kilometer Rad.
Timm: Das sind doch gute Sätze für einen Volkshelden.
Blume: Das sind sehr gute Sätze für einen Volksheld …
Timm: Und man kann ja auch eigentlich einem aufrechten Kommunisten schlecht seine aufrecht kommunistische Grundhaltung vorwerfen, das bringt ja wenig.
Blume: Nein, im Gegenteil. Ich habe mich immer verbeugt vor dieser Grundhaltung eines "Täve" Schur, der niemals als Wendehals gelten konnte und wollte. Ich fand das also auch sehr ironisch und humoristisch, als sein Sohn Jan, der Olympiasieger gewesen ist auch im Radsport, dann 1990 für das italienische Profiteam fuhr und dann für Geld in die Pedale trat. "Täve" schickte ihm als Kommentar nach Italien einen getöpferten Arsch mit Ohren – das fand ich sehr ironisch. An dieser Einstellung hat sich ja nichts geändert. Und das ist durchaus mehr als nur Ostalgie.
Timm: Herr Blume, ich bin als Radsportlaiin über einen anderen Satz gestolpert, über einen Nebensatz. Er spricht von "Ärzten, die mein Training steuerten". Wie viel doppelten Boden hat dieser Satz?
Blume: Es gab den sportmedizinischen Dienst der DDR, der aber so richtig erst eingesetzt wurde, als "Täve" schon längst nicht mehr fuhr. "Täve" ist ja 1964 zurückgetreten, und den Beschluss des Zentralkomitees der SED, den Sport mithilfe von trainingsunterstützenden Mitteln und Maßnahmen zu führen, der fand ja erst zehn Jahre später statt. Infolgedessen möchte ich das nicht als Dopingvorbereitung werten, sondern wirklich als ärztliches Unterpfand einer guten Leistung, einer guten sportlichen Leistung. Ich erinnere mich auch, dass man zumindest in den späten 50er-Jahren – ich bin bis 1959 noch in der DDR gewesen und habe dort Sport betrieben, auch Hochleistungssport –, da gab es also noch nicht die Versuche, auch Mitglieder eines DDR-Kaders für Junioren-Nationalmannschaften zum Beispiel an Doping heranzuführen. Das geschah dann eben wirklich später.
Timm: Klaus Blume, langjähriger Sportchef der "Welt". Ich sprach mit ihm über "Täve" Schur, die Sportlegende Ostdeutschlands wird heute 80 Jahre alt und hat viel Zauber verbreitet, aber auch eine Menge Zweifelhaftes an sich. Herzlichen Dank, Herr Blume!
Blume: Ich danke auch!