"Die Räume sind auratisch aufgeladener"

Moderation: Joachim Scholl |
Die Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim ist wie kaum ein anderer Ort verknüpft mit der Erinnerung an den Deutschen Herbst. Der Fotograf Andreas Magdanz hat hier fünf Monate lang Tausende Fotos geschossen. Für ihn liefert "der Baukörper in vielen Bereichen ein Psychogramm unserer Gesellschaft, der Befindlichkeiten der 70er-Jahre".
Joachim Scholl: Demnächst wird es abgerissen, das Gerichtsgebäude der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim, der Bau, in dem damals der RAF-Prozess stattfand. Doch auch danach wird der Name Stammheim wohl für immer verknüpft bleiben mit dem Terrorismus der Roten Armee Fraktion. Hier kam es zur Verhandlung, hier saßen die prominentesten Häftlinge ein und hier nahmen sich Ulrike Meinhof, Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe das Leben, vor 35 Jahren im Deutschen Herbst, 1977. Im nächsten Jahr soll, wie gesagt, der sogenannte RAF-Trakt abgerissen werden, ab Sonnabend werden davon im Kunstmuseum Stuttgart Fotografien zu sehen sein, Ergebnis eines mehrjährigen Projektes des Fotografen Andreas Magdanz. Er ist jetzt am Telefon, guten Tag!

Andreas Magdanz: Ja, guten Tag!

Scholl: Für eine ganze Generation von Linken und Spontis und Sympathisanten der RAF war Stammheim, und ist es wohl bis heute, Synonym für die repressive Staatsmacht. Sie, Herr Magdanz, sind Jahrgang 1963. Was hieß Stammheim bislang für Sie, was dachten Sie, wenn der Name fiel?

Magdanz: Also, Stammheim beziehungsweise der Deutsche Herbst, der seine Spitze in Stammheim dann schließlich gefunden hat, ist für mich ein unglaublich spannendes Projekt. Und wenn der vordergründige Anlass, der Abriss des Bau eins zunächst mal der Grund war, so ist insgesamt, war es für mich wahnsinnig spannend, der deutschen Geschichte nach 33 Jahren folgen zu können. Und Stammheim markiert, oder viel mehr der Deutsche Herbst mit seiner Spitze markiert auch für mich das wichtigste Nachkriegsereignis in Deutschland, bezogen auf politische und gesellschaftliche Verhältnisse.

Scholl: Sie sind dem riesigen Gefängnisgelände, dem Bau ja buchstäblich auf die Pelle gerückt.

Magdanz: Genau.

Scholl: Fünf Monate in einer Wohnung direkt an der Gefängnismauer gelebt.

Magdanz: Ja.

Scholl: Hat es das gebraucht, diese räumliche Nähe?

Magdanz: Ja, unbedingt. Also, ich brauche die räumliche Nähe grundsätzlich bei meinen Projekten, und auch die lange Verweildauer. Also, ich kann nicht irgendwo schnell hingehen und versuchen, Dinge zu erzählen, die über Jahrzehnte entstanden sind oder auch die grundsätzlich diese Dimension haben. Und die Wohnung wurde mir seinerzeit zur Verfügung gestellt und brachte eben die unabdingbare Nähe direkt zum Objekt. Und es war so, dass ich aus meinem Schlafzimmer den Blick auf den Bau eins hatte, der zehn, zwölf Meter entfernt liegt, und vom Wohnzimmer aus den Blick in den Innenhof. Das war schon eine sehr spezielle Wohnsituation auch.

Also, ich habe nachts die Gefangenen gehört, wie die in vermeintlich allen Sprachen dieser Welt miteinander kommunizieren, oder mit ihren Angehörigen auch, die in 100 und 150 Meter weiter Entfernung am westlichen Innenhof standen. Und dazwischen noch das Gezwitscher der Vögel, die aufgrund der fehlenden Tagundnachtgleiche – also, nachts ist alles taghell erleuchtet – permanent zwitschern. Also, eine sehr, sehr schräge Wohnsituation auch, sehr speziell.

Scholl: Der RAF-Trakt wird im nächsten Jahr abgerissen. Als Sie dort Ihre Aufnahmen machten, Herr Magdanz, saßen in den anderen Gebäuden der JVA 600 Häftlinge ein, keine Terroristen sind mehr darunter. Was war das für ein Klima, in dem Sie da gearbeitet haben?

Magdanz: Also, ich habe in der Regel nach dem Umschluss der Gefangenen zwischen 17:00, 18:00, 19:00 Uhr und nach Mitternacht gearbeitet, eben um den Gefangenen nicht zu begegnen. Und ich habe auch natürlich in Teilen gearbeitet, wo dann Gefangene einsaßen oder einsitzen, und die siebte Etage ist speziell für meine Arbeit immer wieder für zwei, drei Wochen geräumt worden, damit ich dort in Ruhe arbeiten konnte. Ich habe also zur Jahreswende 2010, 2011 ungefähr drei Wochen alleine in der siebten Etage gearbeitet.

Scholl: Diese siebte Etage ist ja berühmt geworden, in jener Zelle 719, in der sich 1976 Ulrike Meinhof erhängt hat und ein Jahr später Andreas Baader erschoss. Wie haben Sie diesen Raum wahrgenommen? Erzählt er wirklich noch von damals oder entsteht die Aura ja nur durch die Geschichte, die man selbst quasi mit in den Raum hineinträgt?

Magdanz: Das ist natürlich eine wechselseitige Beziehung. Man kann natürlich das Wissen um die Geschichte und die zahlreichen Bilder nicht ausschalten, wenn man diese Räume betritt. Aber es ist faktisch so, dass Stammheim nie, also architektonisch bis auf die Torwache nicht verändert worden ist und dass der Baukörper in vielen Bereichen ein Psychogramm unserer Gesellschaft, der Befindlichkeiten der 70er-Jahre liefert. Und ganz speziell die Innenhöfe sind sehr stark aufgeladen, die Mehrzweckhalle immer noch und die siebte Etage und die 719. Das ist einfach was ganz Besonderes.

Also, ich habe auf den Tag genau 33 Jahre und einen Monat versetzt am 18. November im Türrahmen der 719 gestanden und auf die drei Stühle und den Tisch gesehen und dieses Bild hängt auch hier. Das wirkt auf den ersten Blick theatralisch, aber es war an dem Abend auch genau so authentisch. Und die Räume sind einfach auratisch aufgeladener. Das kann man auch nicht wegdiskutieren, das war natürlich auch faszinierend. Das war natürlich auch ein Stück weit ein Teil des Konzepts, war auch eine Art Spurensuche.

Scholl: Stuttgart-Stammheim, fotografiert von Andreas Magdanz. Wir sind mit ihm hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch. Sie haben auch den Gerichtssaal fotografiert, der ja damals eigens für den Prozess gebaut wurde. Wie war dieser Eindruck für Sie?

Magdanz: Der Gerichtssaal ... Ich glaube, dass deutsche Baumeister ganz groß sind, Architektur in dieser Kälte zu erzählen. Also, auch der Gerichtssaal ist unverändert geblieben, in den Pressekabinen vor dem eigentlichen Saal stehen noch alte Schilder von Reuters mit Telefonnummern, und die Bestuhlung, alles ist identisch geblieben. Wobei der gesamte Gerichtssaal natürlich auch bis heute genutzt wird noch als solcher. Also, zuletzt lief ja auch der Prozess gegen Verena Becker dort. Ich habe mir das auch zweimal angesehen in der Zeit. Also, auch sehr, sehr stark sowohl von innen, als auch von außen.

Scholl: Sie haben schon andere solcherart Gebäude, historische Projekte realisiert, Herr Magdanz. Sie haben etwa die BND-Zentrale Pullach fotografiert, die Dienststelle Marienthal, 40 Jahre lang geheimer Ausweichsitz der Regierung im Falle eines Atomkriegs, auch Auschwitz-Birkenau haben Sie unter ihren spezifischen fotografischen Blick genommen, jetzt Stuttgart-Stammheim: Kann man bei diesen Bauten überhaupt abstrahieren, ohne den Mythos, also ohne Erzählung dessen, was dort geschehen ist?

Magdanz: Das ist eine schwierige Frage. Ich habe mich zwei Jahre lang mit der ersten Generation der RAF auseinandergesetzt und habe alles gelesen, ich habe alle Filme gesehen, die es dazu gibt. Ich habe in Archiven bis dahin nicht freigegebenes Material einsehen können, ich habe viel mit unbeteiligten Zeitzeugen gesprochen.

Und trotzdem – und das gelingt mir Gott sei Dank bei allen Projekten nicht –, sobald ich die Torwache hinter mir gelassen hatte, bin ich nur auf das Projekt, nur auf das, was mir begegnet, konzentriert und habe keine Folien mehr im Kopf. Das heißt, das ist dann immer wieder ein freies und auch ergebnisoffenes Arbeiten. Also, meine Arbeit ist auch nicht von vornherein irgendwo politisch intendiert, das ist für mich unabdingbar, dass ich auch vollkommen ergebnisoffen in solche Dinge reingehe und das Ergebnis dann abwarte und diesem Prozess Raum gebe auch.

Scholl: Kann ein Bau, der heutige Blick darauf, umgekehrt auch einen Mythos korrigieren oder zurechtrücken?

Magdanz: Der Bau sicherlich nicht. Aber das, was ich machen möchte, ist im Grunde genommen: Wenn dieses Projekt Öffentlichkeit generiert – und das ist jetzt schon der Fall –, möchte ich die Öffentlichkeit nutzen, um einen Vorschlag zu wiederholen, der möglicherweise Sinn macht. Und zwar gibt es nach irischem Vorbild die Möglichkeit für die Beteiligten des ehemaligen irischen Bürgerkrieges – das heißt der IRA auf der einen Seite, den Staatsbediensteten auf der anderen Seite – die Möglichkeit, eine Art politisches Testament zu hinterlassen.

Und ich sehe auch bei dem Thema Deutscher Herbst oder RAF die Möglichkeit, den außerstaatlichen, voneinander unabhängigen, integren Institutionen Räume zu schaffen, wo eben tatsächlich die RAF auf der einen Seite, die noch Lebenden, und die Staatsdiener auf der anderen Seite hingehen können und ihr politisches Testament machen, das dann nach 30, 40, 50 Jahren geöffnet wird und wissenschaftlich ausgewertet werden kann.

Also, das ist die einzige Form für mich, diese schwierige Wahrheitssuche irgendwann auf den Punkt zu bringen. Alles andere, neue Untersuchungsausschüsse ist Verschwendung von Zeit, Geld, Ressourcen.

Scholl: Sie haben Tausende von Aufnahmen gemacht, 30 davon werden ab übermorgen im Kunstmuseum Stuttgart zu sehen sein. Welche haben Sie ausgewählt?

Magdanz: Natürlich die von den relevanten Plätzen, die von den starken Räumen, von den westlichen Innenhöfen, von den Zellen. Das war für mich sehr schwer, diese Auswahl zu treffen, weil dieses Projekt insgesamt aus drei Teilen besteht. Es ist die Ausstellung, zeitgleich die Präsentation des Buches, das verzögert sich jetzt bedauerlicherweise etwas um zwei, drei Wochen, wird dann aber hier ausliegen, und im nächsten Jahr wird das die Präsentation einer virtuell begehbaren Zelle der 719 sein, das wird dann voraussichtlich in Aachen zu sehen sein.

Scholl: Der RAF-Trakt in Stammheim, der steht vor dem Abriss.

Magdanz: Ja.

Scholl: Ihre Bilder sind also jetzt schon so eine Art Vermächtnis. Was sollen wir, Herr Magdanz, die Betrachter, auch die Nachgeborenen vielleicht, damit und daraus machen? Was würden Sie sich wünschen?

Magdanz: Ich würde mir wünschen, dass tatsächlich diese Arbeit so wahrgenommen wird, dass man sich über diesen Vorschlag Gedanken macht und das auf den Weg bringt. Das wäre das Einzige aus meiner Sicht, das wirklich Sinn machen würde. Das würde mich einfach freuen, also, wenn diese Arbeit dann der Anstoß wäre.

Ein Teil des Konzeptes war auch, den Anspruch zu erheben, Stammheim auf der Bildebene zu Ende zu erzählen. Wir haben großartige Filme, wir haben mit Gerhard Richter ganz tolle Arbeiten und wir haben in der Literatur herausragende Beispiele. Aber auf der Bildebene, denke ich, ist es jetzt gerade auch mit der virtuellen Welt im nächsten Jahr zu Ende erzählt. Dann kann man hingehen und noch mal die Inhalte aufbereiten, aber ohne Untersuchungsausschüsse, ohne Zeit zu verschwenden, Geld zu verschwenden. Ich glaube, dass wir das in den Zeiten gerade im Augenblick eher einsetzen sollten, um die neofaschistischen Mörderbanden zu bekämpfen.

Scholl: Andreas Magdanz. "Stuttgart Stammheim", das ist der Titel der Ausstellung, die ab übermorgen im Kunstmuseum Stuttgart zu sehen sein wird. die Schau läuft dann bis zum 3. März nächsten Jahres.

Magdanz: Ja.

Scholl: Herr Magdanz, alles Gute dafür und besten Dank für das Gespräch!

Magdanz: Ja, vielen Dank!

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