Die Republik schaut auf Karlsruhe

Rezensiert von Katja Wilke |
Vier renommierte Staatsrechtler der jüngeren Generation versuchen, eine "wissenschaftliche Kritik an Deutschlands beliebtesten Verfassungsorgan" zu leisten - gemeint ist das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.
Richtersprüche aus Karlsruhe bewegen oft die ganze Republik. Immer wieder erweist sich das Bundesverfassungsgericht als Rettungsanker für rechtssuchende Menschen – sei es, um höhere Hartz-IV-Sätze oder die vollständige Wiedereinführungen der Pendlerpauschale durchzufechten. Oder, wie jüngst, die Rechtmäßigkeit des Euro-Rettungsschirms prüfen zu lassen.

So sehr die Verfassungshüter mit ihren Urteilen auch polarisieren – den Literaturbetrieb haben sie bislang nur selten zu unterhaltsamen Werken inspiriert. Anders in den USA: Dort klettern spannende und mit Insiderwissen gespickte Bücher über den Supreme Court schon mal auf Platz 1 der Bestsellerlisten.

Pünktlich zum 60. Geburtstag kommen nun einige Neuerscheinungen auf den Markt, die sich mit Geschichte und Entwicklung des Bundesverfassungsgerichts auseinandersetzen.

Einen eigenwilligen Ansatz wählt dabei Suhrkamp: Der Verlag präsentiert eine Textsammlung von vier renommierten Staatsrechtlern der jüngeren Generation: Matthias Jestaedt, Oliver Lepsius, Christoph Möllers und Christoph Schönberger. Angekündigt wird das Werk als "Versuch einer wissenschaftlichen Kritik an Deutschlands beliebtesten Verfassungsorgan".

Eine wissenschaftliche Kritik – damit ist schon im Untertitel klargestellt, dass es hier um ein Buch von Juristen für Juristen geht. Entsprechend geben sich die Autoren keine Mühe, auch am Verfassungsrecht interessierte Laien für die Lektüre zu gewinnen. Ihre zum Teil hochinteressanten und streitbaren Gedanken kommen überwiegend in einer farblosen professoralen Diktion daher. Angesichts des breiten öffentlichen Interesses an der Materie ist das schade.

Davon abgesehen: Ihr Spielfeld beherrschen die Verfassungsexperten natürlich bravourös. Nicht aufeinander abgestimmt, analysieren sie in ihren Texten scharf, wie das Gericht die ihm anfangs gesetzten Grenzen überwinden konnte und mit welchen Kniffen es seine Macht gegenüber Politik und Fachgerichten kontinuierlich ausweitete.

Oliver Lepsius, Staatsrechtler in Bayreuth und Nachfolger des Doktorvaters von Karl-Theodor zu Guttenberg, wurde im Frühjahr einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, weil er den früheren Verteidigungsminister im Zuge der Plagiatsaffäre heftig kritisiert hatte. In seinem Beitrag nimmt er nun auseinander, wie das Bundesverfassungsgericht seinen Einfluss dadurch ausweitet, dass es neue Maßstäbe schafft, an denen es sich in der Folgezeit selbst orientiert. Es entwickele also ein Richterrecht, das über den Text des Grundgesetzes interpretierend hinausgehe.

Als Beispiel führt Lepsius das umstrittene Hartz-IV-Urteil an. In der Entscheidung hatte das Gericht im vergangenen Jahr erstmals einen unmittelbaren verfassungsrechtlichen Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum begründet. Lepsius versteht nicht, wie aus dem Staatsauftrag, eine menschenwürdige Existenz sicherzustellen, ein grundrechtlicher Leistungsanspruch entstehen kann. Fast schon verzweifelt klingt der Professor, wenn er fragt:

"Wie soll solch eine Rechtskenntnis des Bundesverfassungsgerichts überhaupt noch auf ihre Verfassungsbindung überprüft werden können? Wird der Menschenwürdesatz zum justizpolitischen Joker? Welche kontextuellen Selbstbindungsgrade darf man von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts überhaupt noch erwarten? Weder der Verfassungstext noch die Verfassungsrechtsprechung helfen weiter."

Christoph Möllers, Professor an der Humboldt-Universität in Berlin und früherer Prozessbevollmächtigter der Bundesregierung im Verfahren um die Vorratsdatenspeicherung, findet zahlreiche weitere Kritikpunkte. Zum Beispiel die Neigung des Gerichts, Fristen zu setzen. Wenn ein Gericht ein Gesetz für verfassungswidrig erkläre, würden spürbare Konsequenzen für die Betroffenen erst dann wirksam, wenn der Gesetzgeber aktiv würde, so Möllers. Ob dies geschehe, sei eine Frage, die Verfassungsgerichte in aller Regel nur begrenzt in der Hand hätten.

"Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Problem im Vergleich zu anderen Gerichten sehr offensiv zu lösen versucht, indem es dem Gesetzgeber Fristen gesetzt und sogar eigene Übergangsregelungen formuliert hat."

Er schlussfolgert:

"Das Gericht beginnt wie ein Gesetzgeber zu handeln und wirft damit die Frage nach seiner Legitimation in verschärfter Form auf."

Christoph Schönberger, Professor an der Universität Konstanz, verortet den Ursprung des großen Selbstbewusstseins der Verfassungsrichter in dem Mehltau, von dem Deutschland in der Nachkriegszeit überzogen war: In diese Lücke sei das Gericht als neue, unbelastete und moderne Institution hineingestoßen. Es habe von der alten deutschen Hochschätzung des Rechts profitiert. Verstärkt wurde die Entwicklung auch dadurch, dass das Gericht selbst seine Türen immer weiter aufstieß für Verfassungsbeschwerden und sich damit in der Bevölkerung als rettende Instanz profilieren konnte.

Matthias Jestaedt, der an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg lehrt, beschreibt in seinem Beitrag die "Karriere" der Verfassungsbeschwerde. Zu Beginn der 50er-Jahre gingen davon jährlich zwischen 400 und 900 bei Gericht ein. Seit 2006 liegt die Zahl bei über 6000. Jestaedt schreibt:

"Es ist schon erstaunlich: Eine einzelne Variante einer einzigen Verfahrensart, zu deren Einführung man sich weder in den Beratungen des Herrenchiemseer Verfassungskonvents noch in jenen des Parlamentarischen Rates durchringen mochte, die daher zunächst einfachgesetzlich durch das Bundesverfassungsgerichtsgesetz aus dem Jahre 1951 installiert und erst 1969, das heißt 20 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes, in Verfassungsrang erhoben worden ist, hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vom ersten Tage an quantitativ nahezu völlig und auch qualitativ ganz maßgeblich beherrscht."

Seine Ausführungen sind nicht zuletzt vor dem Hintergrund der aktuellen Gedankenspiele von Andreas Voßkuhle interessant. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts hatte kürzlich eine Gebühr für offensichtlich aussichtslose Anträge angeregt, um das Gericht vor Überlastung zu schützen – und damit zu Recht viel Kritik geerntet. Natürlich wird es immer Querulanten geben, die versuchen, das Gericht für ihre Zwecke zu missbrauchen. Doch die werden sich auch durch eine Gebühr kaum abschrecken lassen. Und um die Prüfung, ob eine Beschwerde zur Entscheidung angenommen wird, kommen die Richter und ihre Mitarbeiter ohnehin nicht herum.

Die Autoren machen sich auch Gedanken um die Zukunft des Gerichts. Sie untersuchen, inwieweit sich die Institution wandeln muss – nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass sowohl der Europäische Gerichtshof der EU als auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zunehmend an Einfluss gewinnen. So kommt der Konstanzer Professor Christoph Schönberger zu folgendem Schluss:

"Die eigentliche Schwierigkeit für das Gericht liegt darin, seine wachsende Banalisierung zu verkraften, ohne diese durch künstliches Posieren zu überspielen."

Ein ernüchterndes - aber sicherlich zutreffendes - Fazit.

Matthias Jestaedt, Oliver Lepsius, Christoph Möllers, Christoph Schönberger: Das entgrenzte Gericht – Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren
Suhrkamp Verlag Berlin, 2011
Cover: "Das entgrenzte Gericht"
Cover: "Das entgrenzte Gericht"© Suhrkamp Verlag