Die Retter im Schnee
Lenggries ist neben Sutten/Spitzingsee das Skigebiet der Münchener. An Wochenenden ist es dort brechend voll, vor allem im Januar, wenn neben mehr oder weniger Einheimischen auch noch jede Menge Touristen die teils sehr anspruchsvollen Pisten bevölkern.
Die Bergrettung hat dann alle Hände voll zu tun, am Sonntag vor Heiligabend etwa mussten drei Skifahrer verletzt abtransportiert werden.
Jakob: "Das ist eine Vakuummatratze, die nimmt man zum Schienen, wenn einer eine Rückenverletzung hat, damit er besser liegt. Da kann man die Luft absaugen und den Körper aufnehmen, dass der gut liegt. Ich schau mal ob die geht.. Es ist besser, man probiert das vorher aus, damit man nicht zu einem Patienten kommt und dann steht man da. Das geht noch härter, wenn man mehr raus saugt, aber so reicht es normal schon. Wie gesagt, da ist man schon stabil, eigentlich."
Jakob: "Das sind die S-Geräte drinnen."
Er geht nach hinten: "Nimmst Du nach eine Pumpe mit, Franz?"
Samstag, kurz vor acht. Der Öttl Jakob hat den weißen Geländewagen mit der Aufschrift "Bergwacht Lenggries" aus der Garage gefahren. Nun verstaut er Vakuummatratze und Pumpe in einer Metallkiste und hebt sie gemeinsam mit seinem Kollegen, dem Schalch Franz, aufs Dach des Autos. Die beiden könnten unterschiedlicher kaum sein: Jakob Öttl ist brünett und eher klein, Franz Schalch groß und blond. Als Nächstes holen sie vier rote Holme aus einem Verhau und legen sie in eine bootförmige Rettungswanne.
Jakob: "Das ist der normale Akia, ohne Vakuummatratze, nur mit einem Wärmesack, damit es den Patienten nicht friert, das ist für normale Verletzungen. Der ist nur hier, weil gestern ein Einsatz war, deshalb ist er runter gekommen, sonst ist er immer oben. Sieben Stück sind oben, davon sind drei mit Vakuummatratze ausgestattet und der Rest mit Wärmesack."
Der Einsatz gestern ... Jakob Öttl zögert ... ist irgendwie untypisch gewesen. Kein Pistenunfall, sondern ein Sturz in einer Skihütte. Er lächelt vielsagend. Das Skigebiet Lenggries-Brauneck ist wegen seiner vielen urigen Hütten mit teilweise atemberaubenden Bergpanorama auch bei Einkehrschwingern sehr beliebt. Er packt den Akia aufs Dach des Geländewagens...
Jakob: "So, die Skier noch."
... und die Skier in den Laderaum. Beide ziehen die roten Skiwacht-Jacken an. Jakob steigt hinten ein, Franz fährt.
Jakob: "Wie ist es, müssen wir eher hochdeutsch reden ...? Na, das ist nur, weil’s ein bisschen schwierig ist."
Franz: "Sonst müssen’s halt nachfragen."
Der Weg zum Skigebiet führt durch einen Ort, der mit den dunkelbraunen Holzbalkonen und den bäuerlichen Wandmalereien aussieht, wie Jakob und Franz sprechen: ganz schön oberbayerisch. Über die Isar, die sich träge durch ihr Bett wälzt zur Talstation. Auf der Weltcupabfahrt carven schon die ersten Fahrer. Die Piste heißt so, weil der internationale Skizirkus hier früher oft Station gemacht, damals, als es auch unterhalb von 2000 Metern noch regelmäßig geschneit hat. Heute ist es an den Ufern der Isar grün und die Abfahrt ins Tal nur möglich, weil die Piste nachts beschneit wird. Jakob wirft einen Blick Richtung Süden. Vom Achensee in Österreich ziehen dicke, schwarze Wolken heran. Ein Bilderbuchtag wird’s wohl nicht werden, gut möglich, dass der übliche Wochenendansturm aus München ausbleibt.
Jakob: "Zwar nicht immer, aber in den Hauptstoßzeiten zwischen Weihnachten und Neujahr ist es ganz schön brenzlig. Man kann nie sagen, was ist, das wissen wir selber nicht."
Franz: "Manchmal ist überhaupt kein Einsatz und manchmal sind es so viele, dass wir sie nicht mehr retten können."
An der Gondelstation: Ein paar Snowboarder stehen an der Kasse an, zwei Paare gehen über die hölzerne Galerie zum Eingang. Sonst zieht sich die Schlange schon mal über Galerie, die Auffahrt herunter und einmal ums Gebäude herum – macht Wartezeiten von einer halben Stunde und mehr. Jakob verstaut die Vakuummatratze in seinem Rucksack. Mit Franz lädt er das Akia ab, er wird später mit einer Lastengondel hoch gebracht.
Bei der Bergfahrt bietet sich ein herrlicher Blick aufs Karwendelgebirge. Und Richtung Norden bis nach München, theoretisch jedenfalls, denn das Isartal liegt unter einem diesigen Schleier. Jakob faltet den Pistenplan auseinander. Den Mittelpunkt des Skigebiets bildet die Bergstation. Links davon geht es hinab zur Kotalm und weiter über die Familienabfahrt nach Wegscheid, den zweiten Einstieg ins Skigebiet. Und hinter der Bergstation in eine Mulde und auf der anderen Seite wieder hinauf zum Idealhang.
Jakob: "Wir haben eine schwarze Piste, das ist der Garland. Sonst sind sie alle im normalen Bereich, rot. Da ist das hintere Gebiet, am Bayerhang ist die Grenze. Dort haben wir die Gastbereitschaft von Wolfratshausen und München. Die haben eine Hütte am Idealhang und die machen den Bereich dort hinten, die helfen uns. Bis wird dort sind, es ist doch ein bisschen weiter ... deshalb machen die die Einsätze für uns."
Die Hütte der Lenggrieser Skiwacht steht unterhalb Bergstation auf einem Kamm. Vor der Tür ein Quad, ein Moped mit vier Rädern. Es wird selten benutzt, die meisten Pisten sind zu eng und steil, erläutert Franz. Daneben ein auf den Griffen aufgebockter Akia – mit der Rutschfläche nach oben, damit es nicht hinein schneien kann.
Auch im Flur liegt ein Akia. Jakob zwängt sich vorbei und bringt die Vakuummatratze in den Keller.
Er packt ein paar Flaschen Apfelschorle ein und geht wieder hoch. Links der Aufenthaltsraum der Bergwacht Bad Tölz, mit der sich Jakobs Gruppe die Wochenendbereitschaft teilt.
Jakob: "Oben haben wir einen Schlafraum. Und das ist der Raum, wo wir am häufigsten sind, wo man den ganzen Tag rum bringt. Kleine Küche, kleine Eckbank, wo man sich hinlegen kann, wenn mal einer müde ist. Fernseher natürlich, damit’s nicht langweilig wird. Und ein Computer zum Eingeben der Transportzettel, das geht alles online an die Bergwacht Bayern."
Nicht zu vergessen der Pin-Up-Kalender – die Schönen räkeln sich auf einsamen Bergspitzen oder plantschen in kristallklaren Bächen. Am Tisch sitzen zwei andere Bergwächter: der Erhardt Toni, rundlich, gemütlich, vollbärtig und der Frasch Rolf, schlank, randlose Brille, Ring im Ohr. Die beiden sind über den Winter bei der Stiftung Sicherheit im Skisport angestellt, einem Joint Venture von Deutschem Skiverband und einer Versicherung und tun während der Saison hier Dienst. Von Montag bis Freitag, dazu am Samstagvormittag. Das trifft sich gut, denn beide sind Saisonarbeiter: Rolf ist von Beruf Landschaftsbauer, Toni Zimmermann. Ehrenamtliche wie Jakob und Franz sind nur am Wochenende hier oben.
In Garmisch ist richtig was los, sagt Toni, dies ist schon der zweite Notfall heute, dabei ist es noch nicht einmal halb zehn. Vor ein paar Tagen ist dort sogar eine Snowboarderin zu Tode gestürzt.
Toni: "Die letzten Tage waren ein bisschen ruhiger, aber bis dahin war’s ganz schön heftig, ungefähr 70 Transporte haben wir gehabt."
Rolf: "Circa sechs, sieben, acht Einsätze am Tag, teilweise im engen zeitlichen Rahmen. Wir haben einen Tag gehabt, da haben wir in zwei Stunden sieben Einsätze gehabt, und das Ganze zu fünft - das weiß man schon, was man tut. Zweimal Hubschrauber, relativ schwere Verletzungen."
Heute wird es ruhig bleiben, da sind sich alle sicher. Für nachmittags ist Schnee angesagt, in tieferen Lagen Regen, das schreckt viele Skifahrer ab. Dabei sind die Bedingungen noch ideal: Die Sonne scheint, es ist knackig kalt, und die Pisten sind bestens präpariert. Ein Kaffee noch, dann geht Toni auf Patrouille. Überprüfen, ob alle Fangnetze in Ordnung sind und die Pfeiler der Bergbahnen richtig abgepolstert - auch das ist Aufgabe der Skiwacht.
Auf der Garlandabfahrt. Ein Mann erklärt seiner Frau den Parallelschwung, weiter unten ein Familienexpress: Papa fährt vor, zwei Kinder folgen, ganz hinten sichert Mama ab. Toni gleitet an ihnen vorbei und carvt in weiten Bögen zum Sessellift, der wieder hinauf führt zu Bergstation auf dem Brauneck.
Toni ist ein Veteran, seit 1979 dabei, als die Bergwacht Lenggries erstmals den Pistendienst übernommen hat. Vorher hat der Betreiber der Bergbahnen sich darum gekümmert - oder auch nicht. Ein Sanitäterkurs und einer in Lawinenkunde und viel Erfahrung am Berg – mehr Ausbildung hat es nicht gebraucht. Heute muss jeder Bergretter ein aus je elf Wochenendkursen und einer praktischen Übung bestehendes Sommer- und Wintermodul durchlaufen und anschließend eine Prüfung absolvieren.
Seit zwei Jahren ist zudem ein Einstiegstest vorgeschrieben, bei dem Grundvoraussetzungen wie Skifahren und Trittsicherheit überprüft werden. Toni schüttelt den Kopf: Kaum vorstellbar, aber das ist bitter nötig. Er zeigt auf eine höllisch steile Buckelpiste: Als Skiwächter muss man die problemlos bewältigen können.
Toni: "Der Garland, der war früher der Scharfrichter am Brauneck, die Buckelpiste, das hat jeder runter müssen. Seit einiger Zeit gibt es die Umfahrung, und das hat die ganze Sache entschärft, da können die Familien mit Kindern leicht die Buckelpiste umfahren, da kommt jeder gut runter. Für uns ist es auch besser, wenn wir den unteren Teil der Abfahrt runter müssen, haben wir früher über die Buckelpiste runter müssen, und jetzt können wir schön runter fahren - das ist für uns auch günstig. Da muss man sonst seitlich rutschen, aber in letzter Zeit haben wir nicht mehr rein müssen."
Ein Notruf. Am Florihang auf der anderen Seite der Bergstation ist ein Mann schwer gestürzt. Toni verabredet sich mit Franz am Brauneck. Auch dort wird ein Akia gelagert. Mit wenigen Handgriffen sind die Holme eingehakt - eigentlich könnte es losgehen, aber ein Snowboarder liegt im Weg. Auch der Hinweis auf den Notfall bewegt ihn nicht zum Aufstehen.
Toni: "Ja, die Leute sind recht unvernünftig und sehen die Notwendigkeit einer Rettung nicht ein. Die sagen: jetzt bin ich da. Das ist nicht lustig."
Als alles nicht hilft, raunzt Toni den Snowboarder an: Schleich dich! Endlich macht er Platz. Toni vorne, Franz hinten fahren sie den Akia im Pflug rüber zum Florihang. Dort ist Rolf schon angekommen.
Rolf: "Erste Meldung war eine Rückenverletzung. Wir machen es bei schweren Verletzungen so, dass wir einen vorausschicken, nachdem wir auch nicht genau wussten, wo das war, der das ortet, der schaut, was genau für Verletzungen vorliegen und fordert dann die Kollegen mit dem Akia nach."
Das Unfallopfer ist ein Mann um die 40. Er liegt am Rand der Piste auf dem Rücken, um ihn herum ein Dutzend Schaulustige. Er hat Schürfwunden und blaue Flecken im Gesicht. Neben ihm seine Frau – ihr steht der Schreck ins Gesicht geschrieben. Während Toni und Franz eine Isolierfolie ausbreiten und den Mann vorsichtig darauf rollen, befragt Rolf die Frau nach dem Unfallhergang. Was genau den Sturz verursacht hat, hat sie nicht gesehen. Aber den Sturz selbst. Drei, vier mal hat sich ihr Mann überschlagen - Gott sei Dank trägt er einen Helm. Trotzdem ist er eine Minute bewusstlos gewesen. Nun wehrt er die Skiwächter ab und versucht, sich aufzurappeln.
Frau: "Du stehst jetzt nicht auf, du warst bewusstlos. Das wird jetzt untersucht, ob da irgendein Schaden ist. Da kommt er eh schon, der Hubschrauber."
Rolf: "Für uns ist in diesem Fall die Hinzuziehung eines Notarztes vorgeschrieben, wir müssen einen Notarzt hinzuziehen, weil wir ja nicht wissen, ob sich der Patient im Lauf des Transports verschlechtern würde. Und wenn wir ihn bodengebunden abtransportieren würden, also mit unserem Akia, dann müssten wir erst runter, dann mit dem Lift rauf. Wir haben während der Fahrt nicht die optimale Möglichkeit zum Versorgen, wir sind relativ lange unterwegs, es kommen Schläge auf den Körper. Also die optimale Abtransportierart ist in diesem Fall der Hubschrauber."
Rolf fährt zu einer ebenen Stelle abseits der Piste, hundert Meter unterhalb des Unfallortes. Er schnallt die Skier ab und schwenkt ein rotes Tuch - so signalisiert er dem Hubschrauber, wo der landen kann.
Toni und Franz hieven das Unfallopfer in den Akia, schließen den Wärmesack und fahren zur Landestelle. Ein Blick – der Notarzt weiß, was zu tun ist. Er legt dem Verletzten einen venösen Zugang – falls sich der Zustand während des Flugs verschlechtert, können darüber Schmerz- oder Narkosemittel verabreicht werden. Dann legt er ihm eine Halskrause an.
Rolf: "Das ist die stiff neck, die wird vorsichtshalber angebracht, weil die Halswirbelsäule ist halt eines der wichtigsten Teile am menschlichen Rückgrat. Wenn da was ausfällt, ist es gleich vorbei, bis hin zum Atemstillstand."
Über eine halbe Stunde ist der Unfall her, doch noch immer ist der Mann verwirrt. Er versucht aufzustehen, immer wieder. Und er fragt seine Frau, ob sie die Autoschlüssel hat – zum x-ten mal. An den Unfall selbst kann er sich nicht erinnern.
Mann: "Der Ski ist aufgegangen, das weiß ich noch, aber dann weiß ich nichts mehr..."
Toni und Franz heben den Verletzten auf die Transportliege und packen die Isolierfolie in den Akia. Rolf drängt die Schaulustigen zurück und sperrt die Piste für den Start des Hubschraubers. Statt ins nahe Bad Tölz wird der Verletzte nach Murnau gebracht. Der Arzt erklärt der Frau warum: Ihr Mann hat eine Gehirnerschütterung – mindestens. Um weitergehende Verletzungen auszuschließen, muss eine Computertomografie gemacht werden – Murnau ist die einzige Klinik im Umkreis mit einer Neurologie.
Franz begleitet die Frau runter ins Tal. Rolf und Toni fahren mit dem Akia zurück zur Berghütte. Florilift hoch, Kothang runter, dann mit dem Ahornsessel wieder hoch zu Bergstation Brauneck.
Rolf: "Er war schon ansprechbar, aber er hatte Erinnerungslücken. Im Laufe der Versorgung hat er mir von seiner zerebralen Funktion nicht mehr so gefallen, er ist verwirrt geblieben. Ich denke, dass die Entscheidung, einen Hubschrauber mit Notarzt hinzuzuziehen, die einzig richtige war."
Eine typische Verletzung, sagt Toni. Der klassische Unterschenkelbruch wie früher kommt kaum noch vor – die Skischuhe sind heute so gut, dass diese Problemzone weitgehend geschützt ist. Dafür haben durch die Carvingskier Blessuren an Schultern und Ellenbogen zugenommen, bei Snowboardern, die sich im Falle eines Sturzes instinktiv abstützen auch Brüche des Handknochens. Und Kopfverletzungen, Toni fährt deshalb nur noch mit Helm.
Rolf: "Der Carver ist wesentlich schneller."
Toni: "Und es kommt hinzu, dass manche über ihre Verhältnisse fahren, vielleicht animiert durchs Fernsehen oder durch den Skirennsport. Und das ist das Problem: Ein guter Skifahrer, der schnell fährt, ist kein Problem. Aber einer der es nicht so gut kann schon."
Rolf: "Das ist auch abhängig von den Pistenverhältnissen. Wenn wir am Nachmittag schönes, warmes Wetter haben, werden die Pisten sehr weich. Die Leute machen oft im Stehen Drehbewegungen, da haben wir mehr Knieverletzungen. Und jetzt in diesem Fall, wo die Piste sehr hart ist, haben wir mehr obere Extremitäten. Das ist aber auch abhängig davon, wie voll die Piste ist. Leere Piste, wenig Leute, schnelles Tempo – schwere Verletzungen. Volle Pisten, viele Leute, langsames Tempo – eher Knieverletzungen."
Zurück in der Bergwachthütte. Es ist kurz nach eins, knapp anderthalb Stunden hat der Einsatz mit An- und Abfahrt gedauert. Toni ist oben an der Bergstation geblieben. Er bockt den Akya wieder auf, dann hat er Feierabend. Jakob kocht, Spaghetti mit Tomatensoße. Und Rolf füllt den Transportschein für den Einsatz aus und schickt die Unfalldaten per E-Mail an die Dachorganisation der Bergretter, die Bergwacht Bayern. Name, Alter, Adresse, Unfallursache, Verletzung. Die Bergwacht Bayern rechnet dann mit der Krankenkasse ab. 720 Euro kostet der Einsatz mit Hubschrauber. 360 Euro werden für einen Transport mit dem Akya ins Tal fällig, einmal hin fahren, nach dem Rechten sehen und vielleicht noch einen Leichtverletzten verbinden, schlägt immerhin noch mit 180 Euro zu Buche. "Skifahren ist teuer", sagt Rolf und grinst. Eigentlich ist auch sein Dienst zu Ende, Anderl und Peter sind schon da, seine Ablösung für den Nachmittag. Aber irgendwie steht Rolf der Sinn nicht nach Feierabend. Er setzt einen Kaffee auf und schiebt eine Pizza in den Backofen.
Im Fernsehen läuft Wintersport: Slalom der Damen, Verfolgung im Biathlon, Eisschnelllauf. Aber niemand guckt hin. Rolf erzählt von einem Fernsehbericht über die Schweiz. Dort gelten auf vielen Pisten Tempolimits, Skifahrer werden sogar geblitzt. "Ein Schmarrn", knurrt Jakob. "Woher weiß ich denn, wie schnell ich fahre? Fehlt nur noch, dass demnächst Tachos vorgeschrieben werden..." Und überhaupt: Die Unfallzahlen gehen kontinuierlich zurück, zehn Prozent in den letzten fünf Jahren, sogar um 47 Prozent im Vergleich zur Saison 1979/80, als zum ersten Mal einen Statistik erhoben worden ist. Franz erzählt von Italien. Auch dort wird das Skifahren immer mehr reglementiert. Carabinieri sorgen auf den Pisten für Ordnung, bis hin zum Alkoholtest. Das finden alle übertrieben.
Jakob: "Mei, das muss jeder selber wissen, ob er dann noch fahren kann. Dann dürftest du unten auch nichts trinken, wenn man im Tal und zu Fuß unterwegs ist. Da kann’s einen auch schmeißen."
Mit 16 ist Jakob zu Bergwacht gekommen, jetzt ist er 32. Franz ist auch schon seit 14 Jahren dabei. Schulkameraden haben ihn damals mitgenommen, bei Jakob war es ebenso. Im Schnitt sind die beiden einmal im Monat ein ganzes Wochenende im Einsatz. Auch sonst verbringen sie praktisch ihre gesamte Freizeit mit den Kollegen. Irgendetwas gibt es immer zu tun, und wenn nicht, dann trifft man sich zu einer Halben oder zwei im Gasthaus.
Jakob: "Naa, ich bin nicht verheiratet. Das ist schon ein Problem, wenn du im Monat viel mit der Bergwacht zu tun hast... Nebenbei bin ich noch Fahrzeugwart, da bin ich noch mehr angehängt, und da schaut das anders aus…"
Jakob schaut aus dem Fenster: Am Garland herrscht gähnende Leere und auch unten auf der Kotalm ist wenig los, jedenfalls für einen Samstag. Also bleiben sie in der warmen Hütte. Franz erzählt von dem Jeep, der vor ein paar Jahren im Sommer hier oben abgestürzt ist. Fünf Tote musste er mit seinen Kollegen bergen, die Bilder haben ihn noch wochenlang verfolgt.
Kurz nach vier, es ist kein weiterer Einsatz hinzu gekommen. Ein paar Minuten noch, dann schließen die Lifte.
Natürlich trinken sie alle noch einen Halbe. Das Bier zum Feierabend ist Tradition bei der Bergwacht Lenggries. Entweder nach der Talabfahrt unten in der Jaudenhütte. Oder hier oben. Die Stimmung ist ausgelassen.
Jakob und Franz packen ihre Sachen zusammen. Skibrillen, Handschuhe, Mützen. Sie schlüpfen in ihre Skischuhe. Das Ende eines nicht gerade harten Arbeitstages.
Jakob: "Mei, zwei Einsätze heute, einer Lenggries, einer Tölz - das war durchschnittlich. Mal haben wir keinen, mal fünfe, das ist schon durchschnittlich. Ab und zu spielen wir Karten, wenn die richtigen Leute da sind, aber dafür waren wir heute nicht genug."
Franz: "Wenn man in der Gruppe ist, ergeben sich nette Gespräche, das ist auch ganz lustig."
Ein Blick aus dem Fenster: Immer noch rieseln dicke Flocken vom Himmel. Die Sonne ist längst hinterm Karwendel untergegangen, es ist unangenehm düster draußen. Die letzte Kontrollfahrt: Rolf über die Weltcup-Piste, Jakob und Franz über die Familienabfahrt runter nach Wegscheid. Morgen um kurz nach acht werden sie wieder hier oben sein.
Retter im Schnee – ein Tag bei der Skiwacht in Lenggries.
Jakob: "Das ist eine Vakuummatratze, die nimmt man zum Schienen, wenn einer eine Rückenverletzung hat, damit er besser liegt. Da kann man die Luft absaugen und den Körper aufnehmen, dass der gut liegt. Ich schau mal ob die geht.. Es ist besser, man probiert das vorher aus, damit man nicht zu einem Patienten kommt und dann steht man da. Das geht noch härter, wenn man mehr raus saugt, aber so reicht es normal schon. Wie gesagt, da ist man schon stabil, eigentlich."
Jakob: "Das sind die S-Geräte drinnen."
Er geht nach hinten: "Nimmst Du nach eine Pumpe mit, Franz?"
Samstag, kurz vor acht. Der Öttl Jakob hat den weißen Geländewagen mit der Aufschrift "Bergwacht Lenggries" aus der Garage gefahren. Nun verstaut er Vakuummatratze und Pumpe in einer Metallkiste und hebt sie gemeinsam mit seinem Kollegen, dem Schalch Franz, aufs Dach des Autos. Die beiden könnten unterschiedlicher kaum sein: Jakob Öttl ist brünett und eher klein, Franz Schalch groß und blond. Als Nächstes holen sie vier rote Holme aus einem Verhau und legen sie in eine bootförmige Rettungswanne.
Jakob: "Das ist der normale Akia, ohne Vakuummatratze, nur mit einem Wärmesack, damit es den Patienten nicht friert, das ist für normale Verletzungen. Der ist nur hier, weil gestern ein Einsatz war, deshalb ist er runter gekommen, sonst ist er immer oben. Sieben Stück sind oben, davon sind drei mit Vakuummatratze ausgestattet und der Rest mit Wärmesack."
Der Einsatz gestern ... Jakob Öttl zögert ... ist irgendwie untypisch gewesen. Kein Pistenunfall, sondern ein Sturz in einer Skihütte. Er lächelt vielsagend. Das Skigebiet Lenggries-Brauneck ist wegen seiner vielen urigen Hütten mit teilweise atemberaubenden Bergpanorama auch bei Einkehrschwingern sehr beliebt. Er packt den Akia aufs Dach des Geländewagens...
Jakob: "So, die Skier noch."
... und die Skier in den Laderaum. Beide ziehen die roten Skiwacht-Jacken an. Jakob steigt hinten ein, Franz fährt.
Jakob: "Wie ist es, müssen wir eher hochdeutsch reden ...? Na, das ist nur, weil’s ein bisschen schwierig ist."
Franz: "Sonst müssen’s halt nachfragen."
Der Weg zum Skigebiet führt durch einen Ort, der mit den dunkelbraunen Holzbalkonen und den bäuerlichen Wandmalereien aussieht, wie Jakob und Franz sprechen: ganz schön oberbayerisch. Über die Isar, die sich träge durch ihr Bett wälzt zur Talstation. Auf der Weltcupabfahrt carven schon die ersten Fahrer. Die Piste heißt so, weil der internationale Skizirkus hier früher oft Station gemacht, damals, als es auch unterhalb von 2000 Metern noch regelmäßig geschneit hat. Heute ist es an den Ufern der Isar grün und die Abfahrt ins Tal nur möglich, weil die Piste nachts beschneit wird. Jakob wirft einen Blick Richtung Süden. Vom Achensee in Österreich ziehen dicke, schwarze Wolken heran. Ein Bilderbuchtag wird’s wohl nicht werden, gut möglich, dass der übliche Wochenendansturm aus München ausbleibt.
Jakob: "Zwar nicht immer, aber in den Hauptstoßzeiten zwischen Weihnachten und Neujahr ist es ganz schön brenzlig. Man kann nie sagen, was ist, das wissen wir selber nicht."
Franz: "Manchmal ist überhaupt kein Einsatz und manchmal sind es so viele, dass wir sie nicht mehr retten können."
An der Gondelstation: Ein paar Snowboarder stehen an der Kasse an, zwei Paare gehen über die hölzerne Galerie zum Eingang. Sonst zieht sich die Schlange schon mal über Galerie, die Auffahrt herunter und einmal ums Gebäude herum – macht Wartezeiten von einer halben Stunde und mehr. Jakob verstaut die Vakuummatratze in seinem Rucksack. Mit Franz lädt er das Akia ab, er wird später mit einer Lastengondel hoch gebracht.
Bei der Bergfahrt bietet sich ein herrlicher Blick aufs Karwendelgebirge. Und Richtung Norden bis nach München, theoretisch jedenfalls, denn das Isartal liegt unter einem diesigen Schleier. Jakob faltet den Pistenplan auseinander. Den Mittelpunkt des Skigebiets bildet die Bergstation. Links davon geht es hinab zur Kotalm und weiter über die Familienabfahrt nach Wegscheid, den zweiten Einstieg ins Skigebiet. Und hinter der Bergstation in eine Mulde und auf der anderen Seite wieder hinauf zum Idealhang.
Jakob: "Wir haben eine schwarze Piste, das ist der Garland. Sonst sind sie alle im normalen Bereich, rot. Da ist das hintere Gebiet, am Bayerhang ist die Grenze. Dort haben wir die Gastbereitschaft von Wolfratshausen und München. Die haben eine Hütte am Idealhang und die machen den Bereich dort hinten, die helfen uns. Bis wird dort sind, es ist doch ein bisschen weiter ... deshalb machen die die Einsätze für uns."
Die Hütte der Lenggrieser Skiwacht steht unterhalb Bergstation auf einem Kamm. Vor der Tür ein Quad, ein Moped mit vier Rädern. Es wird selten benutzt, die meisten Pisten sind zu eng und steil, erläutert Franz. Daneben ein auf den Griffen aufgebockter Akia – mit der Rutschfläche nach oben, damit es nicht hinein schneien kann.
Auch im Flur liegt ein Akia. Jakob zwängt sich vorbei und bringt die Vakuummatratze in den Keller.
Er packt ein paar Flaschen Apfelschorle ein und geht wieder hoch. Links der Aufenthaltsraum der Bergwacht Bad Tölz, mit der sich Jakobs Gruppe die Wochenendbereitschaft teilt.
Jakob: "Oben haben wir einen Schlafraum. Und das ist der Raum, wo wir am häufigsten sind, wo man den ganzen Tag rum bringt. Kleine Küche, kleine Eckbank, wo man sich hinlegen kann, wenn mal einer müde ist. Fernseher natürlich, damit’s nicht langweilig wird. Und ein Computer zum Eingeben der Transportzettel, das geht alles online an die Bergwacht Bayern."
Nicht zu vergessen der Pin-Up-Kalender – die Schönen räkeln sich auf einsamen Bergspitzen oder plantschen in kristallklaren Bächen. Am Tisch sitzen zwei andere Bergwächter: der Erhardt Toni, rundlich, gemütlich, vollbärtig und der Frasch Rolf, schlank, randlose Brille, Ring im Ohr. Die beiden sind über den Winter bei der Stiftung Sicherheit im Skisport angestellt, einem Joint Venture von Deutschem Skiverband und einer Versicherung und tun während der Saison hier Dienst. Von Montag bis Freitag, dazu am Samstagvormittag. Das trifft sich gut, denn beide sind Saisonarbeiter: Rolf ist von Beruf Landschaftsbauer, Toni Zimmermann. Ehrenamtliche wie Jakob und Franz sind nur am Wochenende hier oben.
In Garmisch ist richtig was los, sagt Toni, dies ist schon der zweite Notfall heute, dabei ist es noch nicht einmal halb zehn. Vor ein paar Tagen ist dort sogar eine Snowboarderin zu Tode gestürzt.
Toni: "Die letzten Tage waren ein bisschen ruhiger, aber bis dahin war’s ganz schön heftig, ungefähr 70 Transporte haben wir gehabt."
Rolf: "Circa sechs, sieben, acht Einsätze am Tag, teilweise im engen zeitlichen Rahmen. Wir haben einen Tag gehabt, da haben wir in zwei Stunden sieben Einsätze gehabt, und das Ganze zu fünft - das weiß man schon, was man tut. Zweimal Hubschrauber, relativ schwere Verletzungen."
Heute wird es ruhig bleiben, da sind sich alle sicher. Für nachmittags ist Schnee angesagt, in tieferen Lagen Regen, das schreckt viele Skifahrer ab. Dabei sind die Bedingungen noch ideal: Die Sonne scheint, es ist knackig kalt, und die Pisten sind bestens präpariert. Ein Kaffee noch, dann geht Toni auf Patrouille. Überprüfen, ob alle Fangnetze in Ordnung sind und die Pfeiler der Bergbahnen richtig abgepolstert - auch das ist Aufgabe der Skiwacht.
Auf der Garlandabfahrt. Ein Mann erklärt seiner Frau den Parallelschwung, weiter unten ein Familienexpress: Papa fährt vor, zwei Kinder folgen, ganz hinten sichert Mama ab. Toni gleitet an ihnen vorbei und carvt in weiten Bögen zum Sessellift, der wieder hinauf führt zu Bergstation auf dem Brauneck.
Toni ist ein Veteran, seit 1979 dabei, als die Bergwacht Lenggries erstmals den Pistendienst übernommen hat. Vorher hat der Betreiber der Bergbahnen sich darum gekümmert - oder auch nicht. Ein Sanitäterkurs und einer in Lawinenkunde und viel Erfahrung am Berg – mehr Ausbildung hat es nicht gebraucht. Heute muss jeder Bergretter ein aus je elf Wochenendkursen und einer praktischen Übung bestehendes Sommer- und Wintermodul durchlaufen und anschließend eine Prüfung absolvieren.
Seit zwei Jahren ist zudem ein Einstiegstest vorgeschrieben, bei dem Grundvoraussetzungen wie Skifahren und Trittsicherheit überprüft werden. Toni schüttelt den Kopf: Kaum vorstellbar, aber das ist bitter nötig. Er zeigt auf eine höllisch steile Buckelpiste: Als Skiwächter muss man die problemlos bewältigen können.
Toni: "Der Garland, der war früher der Scharfrichter am Brauneck, die Buckelpiste, das hat jeder runter müssen. Seit einiger Zeit gibt es die Umfahrung, und das hat die ganze Sache entschärft, da können die Familien mit Kindern leicht die Buckelpiste umfahren, da kommt jeder gut runter. Für uns ist es auch besser, wenn wir den unteren Teil der Abfahrt runter müssen, haben wir früher über die Buckelpiste runter müssen, und jetzt können wir schön runter fahren - das ist für uns auch günstig. Da muss man sonst seitlich rutschen, aber in letzter Zeit haben wir nicht mehr rein müssen."
Ein Notruf. Am Florihang auf der anderen Seite der Bergstation ist ein Mann schwer gestürzt. Toni verabredet sich mit Franz am Brauneck. Auch dort wird ein Akia gelagert. Mit wenigen Handgriffen sind die Holme eingehakt - eigentlich könnte es losgehen, aber ein Snowboarder liegt im Weg. Auch der Hinweis auf den Notfall bewegt ihn nicht zum Aufstehen.
Toni: "Ja, die Leute sind recht unvernünftig und sehen die Notwendigkeit einer Rettung nicht ein. Die sagen: jetzt bin ich da. Das ist nicht lustig."
Als alles nicht hilft, raunzt Toni den Snowboarder an: Schleich dich! Endlich macht er Platz. Toni vorne, Franz hinten fahren sie den Akia im Pflug rüber zum Florihang. Dort ist Rolf schon angekommen.
Rolf: "Erste Meldung war eine Rückenverletzung. Wir machen es bei schweren Verletzungen so, dass wir einen vorausschicken, nachdem wir auch nicht genau wussten, wo das war, der das ortet, der schaut, was genau für Verletzungen vorliegen und fordert dann die Kollegen mit dem Akia nach."
Das Unfallopfer ist ein Mann um die 40. Er liegt am Rand der Piste auf dem Rücken, um ihn herum ein Dutzend Schaulustige. Er hat Schürfwunden und blaue Flecken im Gesicht. Neben ihm seine Frau – ihr steht der Schreck ins Gesicht geschrieben. Während Toni und Franz eine Isolierfolie ausbreiten und den Mann vorsichtig darauf rollen, befragt Rolf die Frau nach dem Unfallhergang. Was genau den Sturz verursacht hat, hat sie nicht gesehen. Aber den Sturz selbst. Drei, vier mal hat sich ihr Mann überschlagen - Gott sei Dank trägt er einen Helm. Trotzdem ist er eine Minute bewusstlos gewesen. Nun wehrt er die Skiwächter ab und versucht, sich aufzurappeln.
Frau: "Du stehst jetzt nicht auf, du warst bewusstlos. Das wird jetzt untersucht, ob da irgendein Schaden ist. Da kommt er eh schon, der Hubschrauber."
Rolf: "Für uns ist in diesem Fall die Hinzuziehung eines Notarztes vorgeschrieben, wir müssen einen Notarzt hinzuziehen, weil wir ja nicht wissen, ob sich der Patient im Lauf des Transports verschlechtern würde. Und wenn wir ihn bodengebunden abtransportieren würden, also mit unserem Akia, dann müssten wir erst runter, dann mit dem Lift rauf. Wir haben während der Fahrt nicht die optimale Möglichkeit zum Versorgen, wir sind relativ lange unterwegs, es kommen Schläge auf den Körper. Also die optimale Abtransportierart ist in diesem Fall der Hubschrauber."
Rolf fährt zu einer ebenen Stelle abseits der Piste, hundert Meter unterhalb des Unfallortes. Er schnallt die Skier ab und schwenkt ein rotes Tuch - so signalisiert er dem Hubschrauber, wo der landen kann.
Toni und Franz hieven das Unfallopfer in den Akia, schließen den Wärmesack und fahren zur Landestelle. Ein Blick – der Notarzt weiß, was zu tun ist. Er legt dem Verletzten einen venösen Zugang – falls sich der Zustand während des Flugs verschlechtert, können darüber Schmerz- oder Narkosemittel verabreicht werden. Dann legt er ihm eine Halskrause an.
Rolf: "Das ist die stiff neck, die wird vorsichtshalber angebracht, weil die Halswirbelsäule ist halt eines der wichtigsten Teile am menschlichen Rückgrat. Wenn da was ausfällt, ist es gleich vorbei, bis hin zum Atemstillstand."
Über eine halbe Stunde ist der Unfall her, doch noch immer ist der Mann verwirrt. Er versucht aufzustehen, immer wieder. Und er fragt seine Frau, ob sie die Autoschlüssel hat – zum x-ten mal. An den Unfall selbst kann er sich nicht erinnern.
Mann: "Der Ski ist aufgegangen, das weiß ich noch, aber dann weiß ich nichts mehr..."
Toni und Franz heben den Verletzten auf die Transportliege und packen die Isolierfolie in den Akia. Rolf drängt die Schaulustigen zurück und sperrt die Piste für den Start des Hubschraubers. Statt ins nahe Bad Tölz wird der Verletzte nach Murnau gebracht. Der Arzt erklärt der Frau warum: Ihr Mann hat eine Gehirnerschütterung – mindestens. Um weitergehende Verletzungen auszuschließen, muss eine Computertomografie gemacht werden – Murnau ist die einzige Klinik im Umkreis mit einer Neurologie.
Franz begleitet die Frau runter ins Tal. Rolf und Toni fahren mit dem Akia zurück zur Berghütte. Florilift hoch, Kothang runter, dann mit dem Ahornsessel wieder hoch zu Bergstation Brauneck.
Rolf: "Er war schon ansprechbar, aber er hatte Erinnerungslücken. Im Laufe der Versorgung hat er mir von seiner zerebralen Funktion nicht mehr so gefallen, er ist verwirrt geblieben. Ich denke, dass die Entscheidung, einen Hubschrauber mit Notarzt hinzuzuziehen, die einzig richtige war."
Eine typische Verletzung, sagt Toni. Der klassische Unterschenkelbruch wie früher kommt kaum noch vor – die Skischuhe sind heute so gut, dass diese Problemzone weitgehend geschützt ist. Dafür haben durch die Carvingskier Blessuren an Schultern und Ellenbogen zugenommen, bei Snowboardern, die sich im Falle eines Sturzes instinktiv abstützen auch Brüche des Handknochens. Und Kopfverletzungen, Toni fährt deshalb nur noch mit Helm.
Rolf: "Der Carver ist wesentlich schneller."
Toni: "Und es kommt hinzu, dass manche über ihre Verhältnisse fahren, vielleicht animiert durchs Fernsehen oder durch den Skirennsport. Und das ist das Problem: Ein guter Skifahrer, der schnell fährt, ist kein Problem. Aber einer der es nicht so gut kann schon."
Rolf: "Das ist auch abhängig von den Pistenverhältnissen. Wenn wir am Nachmittag schönes, warmes Wetter haben, werden die Pisten sehr weich. Die Leute machen oft im Stehen Drehbewegungen, da haben wir mehr Knieverletzungen. Und jetzt in diesem Fall, wo die Piste sehr hart ist, haben wir mehr obere Extremitäten. Das ist aber auch abhängig davon, wie voll die Piste ist. Leere Piste, wenig Leute, schnelles Tempo – schwere Verletzungen. Volle Pisten, viele Leute, langsames Tempo – eher Knieverletzungen."
Zurück in der Bergwachthütte. Es ist kurz nach eins, knapp anderthalb Stunden hat der Einsatz mit An- und Abfahrt gedauert. Toni ist oben an der Bergstation geblieben. Er bockt den Akya wieder auf, dann hat er Feierabend. Jakob kocht, Spaghetti mit Tomatensoße. Und Rolf füllt den Transportschein für den Einsatz aus und schickt die Unfalldaten per E-Mail an die Dachorganisation der Bergretter, die Bergwacht Bayern. Name, Alter, Adresse, Unfallursache, Verletzung. Die Bergwacht Bayern rechnet dann mit der Krankenkasse ab. 720 Euro kostet der Einsatz mit Hubschrauber. 360 Euro werden für einen Transport mit dem Akya ins Tal fällig, einmal hin fahren, nach dem Rechten sehen und vielleicht noch einen Leichtverletzten verbinden, schlägt immerhin noch mit 180 Euro zu Buche. "Skifahren ist teuer", sagt Rolf und grinst. Eigentlich ist auch sein Dienst zu Ende, Anderl und Peter sind schon da, seine Ablösung für den Nachmittag. Aber irgendwie steht Rolf der Sinn nicht nach Feierabend. Er setzt einen Kaffee auf und schiebt eine Pizza in den Backofen.
Im Fernsehen läuft Wintersport: Slalom der Damen, Verfolgung im Biathlon, Eisschnelllauf. Aber niemand guckt hin. Rolf erzählt von einem Fernsehbericht über die Schweiz. Dort gelten auf vielen Pisten Tempolimits, Skifahrer werden sogar geblitzt. "Ein Schmarrn", knurrt Jakob. "Woher weiß ich denn, wie schnell ich fahre? Fehlt nur noch, dass demnächst Tachos vorgeschrieben werden..." Und überhaupt: Die Unfallzahlen gehen kontinuierlich zurück, zehn Prozent in den letzten fünf Jahren, sogar um 47 Prozent im Vergleich zur Saison 1979/80, als zum ersten Mal einen Statistik erhoben worden ist. Franz erzählt von Italien. Auch dort wird das Skifahren immer mehr reglementiert. Carabinieri sorgen auf den Pisten für Ordnung, bis hin zum Alkoholtest. Das finden alle übertrieben.
Jakob: "Mei, das muss jeder selber wissen, ob er dann noch fahren kann. Dann dürftest du unten auch nichts trinken, wenn man im Tal und zu Fuß unterwegs ist. Da kann’s einen auch schmeißen."
Mit 16 ist Jakob zu Bergwacht gekommen, jetzt ist er 32. Franz ist auch schon seit 14 Jahren dabei. Schulkameraden haben ihn damals mitgenommen, bei Jakob war es ebenso. Im Schnitt sind die beiden einmal im Monat ein ganzes Wochenende im Einsatz. Auch sonst verbringen sie praktisch ihre gesamte Freizeit mit den Kollegen. Irgendetwas gibt es immer zu tun, und wenn nicht, dann trifft man sich zu einer Halben oder zwei im Gasthaus.
Jakob: "Naa, ich bin nicht verheiratet. Das ist schon ein Problem, wenn du im Monat viel mit der Bergwacht zu tun hast... Nebenbei bin ich noch Fahrzeugwart, da bin ich noch mehr angehängt, und da schaut das anders aus…"
Jakob schaut aus dem Fenster: Am Garland herrscht gähnende Leere und auch unten auf der Kotalm ist wenig los, jedenfalls für einen Samstag. Also bleiben sie in der warmen Hütte. Franz erzählt von dem Jeep, der vor ein paar Jahren im Sommer hier oben abgestürzt ist. Fünf Tote musste er mit seinen Kollegen bergen, die Bilder haben ihn noch wochenlang verfolgt.
Kurz nach vier, es ist kein weiterer Einsatz hinzu gekommen. Ein paar Minuten noch, dann schließen die Lifte.
Natürlich trinken sie alle noch einen Halbe. Das Bier zum Feierabend ist Tradition bei der Bergwacht Lenggries. Entweder nach der Talabfahrt unten in der Jaudenhütte. Oder hier oben. Die Stimmung ist ausgelassen.
Jakob und Franz packen ihre Sachen zusammen. Skibrillen, Handschuhe, Mützen. Sie schlüpfen in ihre Skischuhe. Das Ende eines nicht gerade harten Arbeitstages.
Jakob: "Mei, zwei Einsätze heute, einer Lenggries, einer Tölz - das war durchschnittlich. Mal haben wir keinen, mal fünfe, das ist schon durchschnittlich. Ab und zu spielen wir Karten, wenn die richtigen Leute da sind, aber dafür waren wir heute nicht genug."
Franz: "Wenn man in der Gruppe ist, ergeben sich nette Gespräche, das ist auch ganz lustig."
Ein Blick aus dem Fenster: Immer noch rieseln dicke Flocken vom Himmel. Die Sonne ist längst hinterm Karwendel untergegangen, es ist unangenehm düster draußen. Die letzte Kontrollfahrt: Rolf über die Weltcup-Piste, Jakob und Franz über die Familienabfahrt runter nach Wegscheid. Morgen um kurz nach acht werden sie wieder hier oben sein.
Retter im Schnee – ein Tag bei der Skiwacht in Lenggries.