Die Rhythmen der Demokratie

Von Mathias Greffrath · 29.02.2012
Derivate, Anleihezinsen, Kreditausfallversicherungen: Immer schneller wandern ökonomische Kategorien in die politischen Nachrichten ein - und in unser Weltbild. Und dabei verlernen wir allmählich, was Politik eigentlich ist: die Macht zur Gestaltung von Sachzwängen, und nicht die Fahrt auf Sicht in ihnen.
Gut, unter dem Diktat von Wahlterminen stand der Parlamentarismus schon immer, aber heute begrenzen die monatlich von der Gläubiger-Internationale gesetzten Tilgungsdaten und die täglichen Bulletins der Rating-Agenturen den Horizont allen gestaltenden Handelns. Wie weit sind wir schon auf der Rutschbahn aus der Krise der Wirtschaft, der Finanzen und des Euro in die Krise der Demokratie?

Angela Merkels Wort von der "marktkonformen Demokratie", in der die Parlamente auf "Mitbestimmungsrechte" reduziert werden, lässt Schlimmes ahnen. Anders herum stellt der Chef des Eliteforums von Davos die Frage, ob der Kapitalismus noch in die heutige Welt passe. Dahinter steht die Sorge, dass die Demokratie unter dem Druck des globalisierten Kapitals ihre vornehmste Aufgabe, die Zukunft im Interesse der großen Mehrheit zu gestalten, nicht mehr bewältigen kann.

Seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, sind die Engpässe bekannt, die vor uns liegen, und die nicht vom Markt überwunden werden können, sondern starke staatliche Investitionen und innovative Struktur Veränderungen erfordern. Die heute getätigten - oder nicht getätigten - Investitionen in Bildung entscheiden über die Qualifikation der Arbeitskräfte in zwanzig Jahren; der Ausbau - oder Nichtausbau - der Energienetze und Häuser darüber, ob wir in zehn Jahren das Heizen und das Fahren noch bezahlen können. Die Regulierung der digitalen Rechte darüber, ob sich bald nur noch Eliten wirkliche Information leisten können.

Abnehmende Kinderzahl und zunehmendes Lebensalter sprengen die Sozialsysteme. Natürlich, Bundesagenturen, Beiräte, Enquetekommissionen aller Art diskutieren Alternativen - aber diese Erkenntnisse werden zwischen Parteienlogik und den Wahlterminen entsorgt. Und, quer zu allem und alle Alternativen zerreibend, steht das Steuersystem, das seit zwei Jahrzehnten die Besitzenden fördert, die Staatsverschuldung erzwingt, und deren Tilgung von den Mittelschichten fordern wird, und von denen, die wenig mehr als Lebensmittel kaufen können.

Woanders im Westen sei es noch schlimmer? Sehen wir hin: Der Staat Kalifornien zum Beispiel, gilt als fast bankrott - mit einer Zinslast von knapp acht Prozent. Nun, bei uns sind es 12,5 Prozent, in drei Jahren nach offiziellen Schätzungen 15,3. Die jährlichen Investitionen des Staates liegen seit zehn Jahren konstant fünf Prozent unter dem Schuldendienst. Und die Schere öffnet sich weiter. Wäre unser Staat ein Unternehmen, man würde ihm keine gute Zukunft voraussagen.

Parlamentarier, die heute schweigend die Notmaßnahmen der Exekutive abnicken, täten gut daran, die Zeit ihrer Machtlosigkeit zu nutzen, um sich Gedanken über die Form einer demokratiekonformen Demokratie zu machen. In Kalifornien, um noch einmal dorthin zu schauen, hat der Immobilienhändler Nicolas Berggruen zwei Dutzend pensionierter Politiker und ein paar Milliardäre zu einem "Langfristkomitee" versammelt, das mit viel Geld Langfristvernunft propagiert, zum Beispiel Steuererhöhungen. Das soll nicht auf Elitenherrschaft hinauslaufen, sondern mittelfristig auf eine Art Oberhaus. Dieses soll dem Parlament nicht den Streit abnehmen, sondern es mit legitimer Autorität über die Wahlrhythmen hinaus an seine Verpflichtung erinnern, langfristig für die Zukunft zu planen, statt sich flüchtigen Stimmungen oder dem großem Geld anzudienen.

Soviel zu Kalifornien. Sicher, eine Eliten-APO wäre eher amerikanisch als europäisch, aber auch hier wird es Zeit, das wirtschaftspopulistische Vorurteil zu verabschieden, langfristige, starke Planung und Demokratie seien Gegensätze. Und dringender als eine europäische Stabilitätsmaßnahme zum Gläubigerschutz sind Reformen, die fraktionszwangsgefesselte Parlamentarier aus der Geiselhaft finanzmarktgetriebener Exekutiven befreien, damit sie wieder zu Abgeordneten werden, die, wie es die Verfassung vorsieht, Schaden vom Volk wenden und seinen Nutzen mehren. Sonst steuern auch wir auf eine Zukunft mit Staatskommissaren und Maßnahmendemokratie zu.

Mathias Greffrath, Soziologe und Journalist, Jahrgang 1945, arbeitet für "DIE ZEIT", die "taz" und ARD-Anstalten über die kulturellen und sozialen Folgen der Globalisierung, die Zukunft der Aufklärung und über Theater.

Letzte Veröffentlichungen unter anderen: "Montaigne - Leben in Zwischenzeiten" und das Theaterstück "Windows - oder müssen wir uns Bill Gates als einen glücklichen Menschen vorstellen?". Mathias Greffrath lebt in Berlin.
Mathias Greffrath
Mathias Greffrath© Klaus Kallabis
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