No executive orders
Ein Kanzler ist so mächtig, wie es seine Koalition zulässt und Umfragen und Stimmungen es hergeben. © picture alliance / ZB / Sascha Steinach
Die Richtlinienkompetenz eines Bundeskanzlers
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"Durchregieren" will jeder, der ins Kanzleramt einzieht. Aber geht das überhaupt? Wie weit reicht die ominöse "Richtlinienkompetenz" des Bundeskanzlers, von der immer wieder in der Berichterstattung die Rede ist?
Gleich am ersten Tag im Amt, so ließ Friedrich Merz Ende Januar die Wähler wissen, werde er per Richtlinienkompetenz das Innenministerium anweisen, die deutschen Grenzen dauerhaft zu kontrollieren und illegale Einreisen zu verhindern. Vielleicht sah sich der mögliche künftige Kanzler von Donald Trump inspiriert, der kaum wieder im Oval Office saß, als er schon die ersten seiner zahlreichen präsidialen Dekrete unterzeichnete.
Doch Deutschland ist nicht Amerika. Und ein Bundeskanzler kein US-Präsident. Ihm stehen keine „Executive Orders“ zur Verfügung, sondern die vielzitierte Richtlinienkompetenz. Ein Begriff, der im Grundgesetz gar nicht auftaucht, aber in Artikel 65 gleichwohl beschrieben wird: „Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung.“ Zugleich sichert das Grundgesetz den Ministern Gestaltungsfreiheit zu. Sie regeln ihre Ressorts, so heißt es im Artikel weiter, „selbständig und unter eigener Verantwortung“.
Die Kanzlerweisung bedarf keiner exklusiven Form
Friedrich Merz wollte wohl vor allem Wirkung erzielen. Entschlossenheit und Tatkraft sind bereits im Modus der Ankündigung tragende Säulen exekutiver Macht. Konrad Adenauer verwies einst auf sein Vorrecht mittels eines mahnenden Briefs an Ludwig Erhard. Auch drei andere Minister bekamen viele Jahrzehnte später Post aus dem Kanzleramt: Robert Habeck, Steffi Lemke und Christian Lindner im Streit um die Verlängerung der letzten aktiven Atomkraftwerke.
Dabei bedarf die Kanzlerweisung keiner exklusiven Form. Ob während der Regierungserklärung, in der Pressekonferenz, im Talksessel bei Maischberger oder schwarz auf weiß – entscheidend ist die Unmissverständlichkeit der Auffassung des Regierungschefs.
Dramatische Machtdemonstrationen sind die Ausnahme
Die Kanzlermacht hat sich im Laufe der Zeit freilich gewandelt. „Der Alte“, also Adenauer, konnte in der jungen Republik gegenüber unerfahrenen Nachkriegsministern noch mit natürlicher Autorität regieren. Später hat die Aushandlung der Koalitionsinteressen Raum gewonnen. Und Angela Merkel gelang es mit ihren Großen Koalitionen noch, die Sozialdemokraten als gleichberechtigte Partner bei der Stange und die eigene Kanzlerpartei mit ihren nicht selten konträren Interessen in Schach zu halten. Olaf Scholz musste hingegen erleben, wie eine nach und nach kollabierende Ampel die Grenzen der Amtsgewalt offenbarte.
Häufig wird die Richtlinienkompetenz als Ultima Ratio verstanden – als letzte Eskalationsstufe. Ein allzu verengtes Machtverständnis. Denn praktisch stehen dem Kanzler mit der Geschäftsleitung der Regierung, Vorschlag und Entlassung von Ministern, Kabinettsumbildungen, Vertrauensfrage und Befehlsgewalt im Verteidigungsfall diverse weitere Steuerungs- und Direktionsmittel zur Verfügung. Im Grunde wirkt die Richtlinienkompetenz fortlaufend, meist subtil, leise und informell. Soft Power statt knallharter Kante. Dramatische Machtdemonstrationen wie im Kanzlerkonflikt mit Finanzminister Lindner sind in der Berliner Mediendemokratie eine große Attraktion, historisch jedoch die absolute Ausnahme.
Die Führungsstärke des Kanzlers ist das Richtmaß
Die Kanzlermacht hängt auch an den politischen Gegebenheiten. Ein Kanzler ist so mächtig, wie es seine Koalition zulässt und Umfragen und Stimmungen es hergeben. Überzieht der Kanzler seinen Machtanspruch, riskiert er den Bündnisbruch. Hält er sich zu lange zurück und greift nie durch, gefährdet auch das die Regierung. Doch mal ehrlich: Deren Stabilität hängt ohnehin nicht an Richtlinien, nicht mal am Grundgesetz. Maßgeblich ist die Kollegialität im Kabinett, die Kohäsion der Regierungsfraktionen, die Fähigkeit der Koalitionäre, einander Erfolge zuzugestehen und nach außen zu verkaufen.
Koalitionen sind keine Liebesheiraten, möglichst aber auch keine Zwangsehen. Letztlich ist die erfahrbare Führungsstärke des Kanzlers das Richtmaß. Das – mehr als alle Weisungen im Einzelnen – bestimmt, ob eine Regierung handlungsfähig bleibt oder am Ende nur noch ihre eigene Auflösung verwaltet.