Ein brandenburgisches Dorf erinnert sich
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Bis zu ihrem Abzug vor 25 Jahren prägten sowjetische Soldaten das Leben in Kurtschlag, einem kleinen Dorf im Norden Brandenburgs – in unmittelbarer Nähe lag der Militärflugplatz Groß Dölln. Drei Anwohner haben sich zusammengetan und Zeitzeugen dazu befragt.
"Also, wenn ich hier jetzt die Straße lange gehe, dann weiß ich zumindest, dass hier viele Autos der Sowjetarmee unterwegs waren, weil das auch die Verbindungsstraße zwischen Vogelsang und Groß Dölln ist. Also alles, was ankam, ja, wir sagen in unserem Projekt ja jetzt immer Russen, wurde hier lang transportiert."
Birgit Halle spaziert durch Kurtschlag. Ein kleines Dorf, etwa eineinhalb Stunden Autofahrt nördlich von Berlin. Die 61-jährige ehemalige Lehrerin, groß, schlank, kurze braune Haare, kennt noch die Zeit, als ihr Dorf mit Soldaten der sowjetischen Armee bevölkert war. Es liegt in unmmittelbarer Nähe zum ehemaligen sowjetischen Armeeflugplatz Groß Dölln, dessen Ausmaße gigantisch waren - eine Anlage, die noch heute gut sichtbar ist.
"Dieser Flugplatz Groß Dölln ist der größte sowjetische Militärflughafen außerhalb der Sowjetunion gewesen und einer der größten europäischen Flugplätze überhaupt. Er wurde gebaut Anfang der fünfziger Jahre und diente bis zur Wende als Militärflughafen. Er hat ne Lande- und Startbahn von etwa vier Kilometern und ne zweite Lande- und Startbahn von 2,5 Kilometern, die allein ausreichend wäre für einen eigenen Flugplatz. Das ist also eine riesengroße Anlage."
Manfred Lentz ist Politologe. Er steht auf dem ehemaligen Flugplatz, der heute unter anderem Platz für eine Teststrecke für Autos und Motorräder bietet. An diesem sonnigen Samstag fahren die Motorräder wieder auf Zeit.
"Man ist miteinander klargekommen"
Der 69-Jährige lebte vor der Wende in Westberlin und zog in den 90er-Jahren nach Kurtschlag. Vor einem Jahr kam ihm bei einem Spaziergang an dem ehemaligen Flugplatz entlang eine Idee: Wenn hier so viele Russen waren, wie war eigentlich das Verhältnis zwischen den Soldaten und den Dorfbewohnern? Zusammen mit Birgit Halle und Siegfried Haase und einem Künstler aus Groß Dölln befragte er 50 Menschen vorwiegend aus Kurtschlag und Groß Dölln.
"Ganz interessant war die Gesamtbilanz dieser Befragungen. Da kann man vielleicht sagen, dass die Leute, die hier gelebt haben, haben die Russen nicht geliebt, aber sie haben sich auch nicht an den Russen gestört. Das war ein Zusammenleben, das funktioniert. Das war eingespielt. Man ist miteinander klargekommen."
Persönlicher Kontakt sei von sowjetischer Seite nicht gewünscht gewesen, berichteten die Dorfbewohner. Dennoch trafen Dorfbewohner und Soldaten aufeinander.
"Das waren diese ganzen Schwarzmarkt-Geschäfte, die betrieben worden sind", erklärt Lentz. "Daran war auch jeder irgendwie beteiligt. Auch, zum Beispiel, diese Kontakte durch Einkäufe auf dem Flugplatzgelände. Es gab ja dieses Russen-Magazin. Da sind auch ne ganze Menge Leute hingegangen und eingekauft und haben Russen getroffen. Das andere waren Geschäfte, wie: die Russen geben 100 Liter Benzin und die DDR-Bürger bezahlen das dann irgendwie, also das war dann natürlich gestohlenes Benzin, was hier unter die Leute gebracht wurde."
Zeitzeugen erzählten zunächst zögerlich
Bis heute ist es nicht ganz einfach, das Thema der deutsch-russischen Kontakte in der DDR-Zeit offen anzusprechen, erzählt Birgit Halle.
"Als ich angesprochen wurde, bei dem Projekt mitzumachen, hatte ich selbst auch ein bisschen Bauchweh. Deswegen kann ich verstehen, dass manche Leute nicht sofort bereit waren, Informationen rauszugeben. Dazu muss man aber wissen, dass der Herr Lentz jemand aus den alten Bundesländern ist und Politologe. Und ich war nachher froh, dass er zwei Leute aus unserem Bereich mit dazu genommen hat, Leute, die hier gelebt haben."
"Wir haben Menschen erst mal allgemein erklärt, wir wollen untersuchen, wie das Verhältnis zu den Russen gewesen ist. Und dann kam als erstes, ja, wie war das eigentlich, wir können uns gar nicht mehr so gut daran erinnern. Die Zeit ist schon so lange her. Das haben die meisten gesagt", so beschreibt es Lentz. "Einige wenige hatte auch im Hinterkopf, das war mein Eindruck, wir wollten das Verhältnis der Bevölkerung zu den Russen schlecht darstellen, aber das war nie unsere Absicht, sondern wir haben dann immer gesagt, wir wollen das möglichst objektiv darstellen und die sind dann auch aufgetaut und haben dann angefangen zu antworten."
Antworten – so ehrlich wie möglich
Die Sache mit der Erinnerung ist bei Zeitzeugenbefragungen immer ein kniffliges Thema. Wie sehr kann man Erinnerungen trauen, die Ereignisse vor teilweise vielen Jahrzehnten betreffen? Verfälschen Menschen sie nicht unbewusst, aus welchen Gründen auch immer? Tauchen Erinnerungen von heute Ereignisse von damals womöglich in ein komplett anderes Licht?
"Ich kann jetzt auch nicht wie ein Psychologe antworten", sagt Birgit Halle, "aber ich denke, je älter der Mensch wird, desto mehr möchte er sich an das Schöne, an das Gute erinnern, und deshalb sind gerade von den alten Leuten die Antworten womöglich etwas verklärt, weil das Schlechte soll beiseite geschoben werden."
Birgit Halle und alle anderen an dem Zeitzeugenprojekt Beteiligten sind trotzdem davon überzeugt, dass die Menschen so ehrlich wie möglich geantwortet haben. Dafür kenne man sich in den Dörfern schlicht zu gut. Und doch fiel Manfred Lentz auf, dass es bei den Erinnerungen ein bestimmtes Muster gab.
"Ein Ergebnis ist gewesen, das Verhältnis zu den Russen war, wir haben sie nicht geliebt, aber wir sind ganz gut miteinander ausgekommen. Und auf der anderen Seite, sag ich mir, 1989 haben die Bürger der DDR ihr System zum Teufel gejagt, am 9. November ist die Mauer aufgemacht worden und ein Jahr später hatten wir die Wiedervereinigung. Die Russen sind, das ist politisch ganz eindeutig gewesen, die Garanten für dieses System DDR gewesen.
Das heißt, die Leute haben jahrelang in einem System gelebt, was ihnen nicht gefallen hat, garantiert von den Russen, denn ohne die Anwesenheit der Russen hätte es dieses System nicht gegeben. Und trotzdem hat merkwürdigerweise keiner von den Befragten diese Beziehung hergestellt."
Es ist ein Widerspruch, der dem Wissenschaftler aus dem Westen mit seinem Blick von außen auffällt. Für die Dorfbewohner scheint er keine Rolle zu spielen, zumindest in der heutigen Erinnerung. Die wird dominiert von normalem, alltäglichem Miteinander zwischen Sowjets und Deutschen. Den Umständen zum Trotz.
Größte Hinterlassenschaft: der Flugplatz Groß Dölln
Die größte Hinterlassenschaft ist der ehemalige Flugplatz Groß Dölln. Für die Sowjets war die Lage bei Groß Dölln ideal, weit im Westen des Warschauer Paktes. Wäre es zu einer militärischen Auseinandersetzung gekommen, die zeitweise 100 stationierten Flugzeuge wären schnell einsatzbereit gewesen. Viele Jahre wurde diskutiert, was die Kommune mit dem Flugplatz anfangen soll. Man entschied sich für eine private Nutzung. Neben den Testrecken für Autos und Motorräder hat Siemens eine Teststrecke für elektrisch fahrende Lkw aufgebaut. Das bayerische Unternehmen Belectric hat 1,5 Millionen Solarmodule aufgestellt.
"Hier sind jede Menge Bäume damals abgeholzt worden, um diese große Freifläche zu schaffen", erzählt Manfred Lentz. "Es ist zwischen hier und der Straße immer noch Wald erhalten. Das heißt, wenn hier jemand auf der Landesstraße durch Groß Dölln fährt, dann wird er von dem Flugplatz, der ein paar hundert Meter von ihm entfernt ist, überhaupt nichts ahnen."