Es ist ein sehr wichtiger Moment, weil wir unseren Vater beerdigen können. Man könnte auch sagen, wir haben unsere Pflicht erfüllt, denn in der afrikanischen Tradition müssen wir unsere Nächsten begraben, damit ihre Seele Ruhe findet.
Die Rückgabe von Lumumbas Zahn
31:34 Minuten
Patrice Lumumba, erster Ministerpräsident des unabhängigen Kongo, wurde 1960 brutal ermordet. Einziger sterblicher Überrest des Freiheitskämpfers: ein Zahn. Der kam als Trophäe nach Belgien und wurde nun in einem Sarg zurück in die Heimat gebracht.
Die Ermordung Lumumbas ist eines der grausamsten Verbrechen der europäischen Kolonialgeschichte. Wegen seiner anti-kolonialen Haltung und seinen sozialistischen Ideen wurde der panafrikanische Freiheitskämpfer aus dem Weg geschafft, sein Leichnam zerstückelt und in Säure aufgelöst. Die CIA und die ehemalige Kolonialmacht Belgien waren die Drahtzieher des Verbrechens.
Der einzige sterbliche Überrest: ein Zahn
Jahrzehntelang galt der Leichnam als verschollen. Dann gab ein belgischer Polizist, der mit der Ermordung beauftragt war, kurz vor seinem Tod in einem Fernsehinterview zu, einen Zahn Lumumbas als Trophäe mit nach Hause genommen zu haben.
Die kongolesische Community in Belgien, die Menschen im Kongo, aber auch in anderen afrikanischen Staaten reagierten empört und forderten die Rückgabe des Zahns – mit Erfolg. Seit einigen Wochen ist der Zahn in einem eigens für ihn errichteten Mausoleum in Kinshasa. Begleitet wurde die ungewöhnliche Rückgabe von Demonstrationen und Zeremonien in Belgien und im Kongo.
Rückgabe als Zeichen der Versöhnung
In Brüssel gibt es den Square Lumumba - ein unansehnlicher Platz. Zwei Hauptverkehrsachsen kreuzen sich hier, eingerahmt von viel Beton. Trotzdem sind die Demonstranten froh über diesen Ort, erinnert er doch an die zentrale Figur der afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen. Patrice Lumumba ist politische Gallionsfigur, Freiheitskämpfer, Märtyrer. Wenn man so will der Che Guevara Afrikas. Seine Ermordung, die Zerstückelung seines Leichnams und die Auflösung seines Körpers in Säure macht fassungslos.
„Das ist ein Frevel!“, schreit Jeannot, ein Demonstrant, über den Platz. "Bis heute ist der Kongo nicht vollständig befreit,“ glaubt Jeannot. „Multinationale Unternehmen beuten das Land aus, aber wer profitiert davon? Die Kongolesen sicher nicht. Ich bin heute bewegt, weil Patrice Emery Lumumba unter grausamen Umständen ums Leben gekommen ist. Er hat panafrikanisch gedacht, hat die Einheit des Kontinents proklamiert. Diesen Kampf müssen wir heute weiterführen.“
Der Zahn Lumumbas ist zu einem Symbol geworden für das Unrecht des Imperialismus, für die politische Einflussnahme auch nach der Unabhängigkeit, notfalls mit Gewalt. Ein Symbol für die tiefen Wunden, die der Kolonialismus in vielen Ländern Afrikas bis heute hinterlassen hat. Und auch dafür, dass es viele europäische Gesellschaften nicht schaffen, sich dem von ihnen begangenen Unrecht zu stellen.
Doch Belgien gibt den Zahn an die Hinterbliebenen von Patrice Lumumba zurück. Das Land will damit ein Zeichen der Versöhnung setzen in einem schwer belasteten Verhältnis.
Sohn Lumumbas: "Wir warten seit 60 Jahren"
In der Hotellobby im Zentrum Brüssels sitzt Roland Lumumba in einem Sessel. Er ist einer der Söhne Lumumbas. Er ist ein großer, in sich ruhender Mann, der immerzu leicht zu lächeln scheint. Nur an seinem grauen Bart und den graumelierten Haaren ist zu erkennen, dass er schon 64 Jahre alt ist.
„Ich habe keine echten Erinnerungen an meinen Vater,“ sagt er. „Als er gestorben ist, war ich drei Jahre alt. Aber manchmal blitzen einzelne Bilder auf, Bruchstücke von Erinnerungen. Es war hart ohne Vater aufzuwachsen. Du bist der Sohn einer großen Persönlichkeit, du darfst das nicht machen und jenes nicht machen. Du musst dich benehmen, du musst würdevoll sein, gut in der Schule, immer sozial. Das hat mein Leben bestimmt. Nicht zum Nachteil wahrscheinlich."
Roland ist gemeinsam mit seinen älteren Geschwistern François und Juliana nach Brüssel gekommen. Seit über zehn Jahren versuchen sie den Zahn ihres Vaters zurückzubekommen. Es war ein langer Weg. Erst galt er als verloren, dann wurde er von der Staatsanwaltschaft konfisziert, und wegen Corona musste die Zeremonie mehrere Male verschoben werden.
„Wir warten seit über 60 Jahren“, so Roland Lumumba. "Es ist ein sehr wichtiger Moment, weil wir unseren Vater beerdigen können. Man könnte auch sagen, wir haben unsere Pflicht erfüllt, denn in der afrikanischen Tradition müssen wir unsere Nächsten begraben, damit ihre Seele Ruhe findet."
Der Ministerpräsident entschuldigt sich
Am nächsten Morgen wird Lumumbas Zahn der Familie übergeben. Es soll feierlich werden, ein Moment der Versöhnung in der belgisch-kongolesischen Geschichte. Deshalb findet die Zeremonie mit großem Tamtam im Palais Egmont statt, einem neoklassischen Palast im Stadtzentrum von Brüssel. Irgendwann öffnet sich die Flügeltür des Palastes. Alexander de Croo, der belgische Ministerpräsident, läuft zielstrebig auf die Journalisten zu, die sich nervös zu einem Pulk zusammenschieben.
Dann öffnet sich das Tor zur Straße, schwarze Limousinen fahren ein. Die kongolesische Delegation um Ministerpräsident Jean-Michel Lukonde und die Familie Lumumba. Mit militärischen Ehren werden sie nach Innen eskortiert.
Vor Marmorsäulen und vergoldeten Wandgravuren ist ein massiver dunkelbrauner Sarg aufgebahrt, in dem sich wohl nichts als der einzelne Zahn befindet. Darüber sind die belgische und die kongolesische Flagge gehisst.
Feierlich und mit tiefernster Miene betritt Belgiens Ministerpräsident Alexander de Croo das Rednerpult.
Vor Marmorsäulen und vergoldeten Wandgravuren ist ein massiver dunkelbrauner Sarg aufgebahrt, in dem sich wohl nichts als der einzelne Zahn befindet. Darüber sind die belgische und die kongolesische Flagge gehisst.
Feierlich und mit tiefernster Miene betritt Belgiens Ministerpräsident Alexander de Croo das Rednerpult.
„Endlich. Dieses Wort liegt an diesem Morgen allen auf den Lippen.“ So beginnt de Croo seine Rede. „Aber in Wirklichkeit ist es zu spät. Mehrere Minister der damaligen belgischen Regierung tragen eine moralische Verantwortung für diesen Mord. Das ist die unangenehme Wahrheit. Sie ist schmerzhaft, aber sie muss ausgesprochen werden.“
Rücksichtslose Ausbeutung des Kongo
Die belgische Kolonialgeschichte im Kongo ist extrem blutig. 1878 beauftragte der damalige belgische König Leopold II. den berühmten Forschungsreisenden Henry Morton Stanley damit, heimlich Gebiete in bislang von Europäern unerforschten Regionen in Zentralafrika zu erwerben. In der Folge gelang es Leopold einen Kolonialstaat zu gründen – den Kongo-Freistaat. Er war 70 Mal so groß war wie Belgien und galt als Privatbesitz des Königs.
König Leopold beutete das Land rücksichtslos aus. Eine Zeit, die als Kongo-Gräuel in die Geschichte einging. Schätzungen gehen von 25 Millionen Toten in nur drei Jahrzehnten aus. 1908 trat Leopold auf internationalen Druck hin das Land an den belgischen Staat ab. Aber auch in der Folgezeit war der Kongo für Belgien vor allem eines: Eine Quelle schier unendlicher Ressourcen zur eigenen Bereicherung.
Und so entschuldigt sich Alexander de Croo nicht nur für die Ermordung Lumumbas. "Die Entschuldigung, die ich heute äußern möchte, geht weiter. Die Gewalt und Gräueltaten, die zur Zeit des Kongo-Freistaates verübt wurden. Das Leid, die Erniedrigungen während der Kolonialzeit. All das bedaure ich zutiefst.“
Eine Regierungsmaschine bringt den Zahn zurück
Es ist nur ein einzelner Zahn, der nun zurückgegeben wird. Aber als Symbol weist er weit zurück in die Vergangenheit. Belgiens Ministerpräsident findet deutliche Worte für die Schuld seines Landes – aber das Bedauern allein kann die Gräben der Vergangenheit wohl nicht überwinden.
Auch Juliana Lumumba, die Tochter von Patrice, betritt die Bühne. Sichtlich bewegt nimmt sie Abschied von ihrem Vater und hält eine kurze Rede. „Vater. Meine Brüder und ich, unsere Kinder, deine Urenkel, wir versuchen Worte zu finden, um uns von dir zu verabschieden, 61 Jahre nach deinem Verschwinden. Aber wir müssen uns eingestehen, dass nichts unsere Gefühle und Gedanken auszudrücken vermag. Wir können nur den einen Wunsch äußern: dass du von dort, wo du bist, auf uns hinabblickst und stolz auf uns bist. Vater, eine gute Reise zurück in dein Land.“
Der Sarg wird nach draußen in den Innenhof getragen. Ein Dutzend jubelnder Kongolesen erwartet ihn dort schon. Ein Militärorchester spielt die kongolesische Nationalhymne, als der silberne Leichenwagen vom Hof fährt und im Verkehr verschwindet.
Die Totenwache in der Botschaft dauert noch bis zum Morgengrauen an. Dann hebt die kongolesische Regierungsmaschine ab, Flugziel: Kinshasa. Mit einem Zahn im Gepäck.
Dreitägige Staatstrauer im Kongo
Sechs Tage später, Kinshasa, Demokratische Republik Kongo. Nach der Abreise in Brüssel ist der Zahn durch das ganze Land gereist, überall gab es Zeremonien und Totenwachen. Heute kommt er in der Hauptstadt an. Deshalb wurde eine dreitätige Staatstrauer ausgerufen.
Das Palais du Peuple, Sitz des Parlaments, hat heute seine Türen für die Öffentlichkeit geöffnet. An den Wänden des Palastes sind große Porträts von Patrice Lumumba zu sehen. Mehrere Tausend Kongolesinnen und Kongolesen sind gekommen, um ihrem Helden zu huldigen. Die einen verabschieden sich am aufgebahrten Sarg, andere wollen sich einfach nur das Spektakel ansehen. Die Volksgruppe der Tetela, aus der Patrice Lumumba stammte, ist mit verschiedenen Folkloregruppen vertreten, die nacheinander auf dem Platz vor dem Parlamentsgebäude auftreten.
Jonathan Kalubi, ein fein gekleideter junger Mann, ist weniger nach Feiern zumute. Dass sich Belgien mittlerweile für die Ermordung Lumumbas entschuldigt hat, hat er gehört, aber seine Freude darüber ist verhalten.
„Eine Entschuldigung ist schön und gut,“ meint er, „aber wir fordern Reparationen, die den Verbrechen angemessen sind. Es ist wirklich abstoßend, einen Familienvater umzubringen und zu verstümmeln. Einfach nur die Überreste seines Leichnams zurückzugeben ist nicht genug. Man muss weitergehen. Belgien muss Reparationszahlungen leisten, und zwar in einem ausreichenden Ausmaß, um die zahlreichen Tränen zu trocknen, die dieses Land vergossen hat."
Die Vision Lumumbas in weiter Ferne
Zwei Tage später. Am Échangeur de Limete, einem wichtigen kreisrunden Verkehrsknotenpunkt in Kinshasa, haben sich wieder mehrere tausend Menschen versammelt. Es ist der dritte und letzte Tag der Staatstrauer. Heute findet die offizielle Beerdigung des Zahns statt.
Die Regierung hat dafür ein eigenes Mausoleum errichten lassen. Es ist ein Gebäude aus Beton und Glas und erinnert ein bisschen an eine überdimensionierte Spinne. Auf dem Dach steht eine überlebensgroße Skulptur von Patrice Lumumba. Kostenpunkt des Gebäudes: mehr als zwei Millionen US-Dollar. Gebaut hat es eine chinesische Firma.
Kongos Präsident Félix Tshisekedi und andere ranghohe Politiker schmücken sich in diesen Tagen gerne mit dem Namen Lumumba und zeigen sich bei Veranstaltungen. Aber von den Ideen Lumumbas scheinen sie nicht viel zu halten. Ein Student beklagt sich am Rande der Veranstaltung über die Politik.
„Lumumba hat sich für Patriotismus stark gemacht, für gutes Regieren. Aber das ist heute nicht der Fall, da dürfen wir uns nichts vormachen. Das betrifft alle Regierungen und Regime, die nach ihm kamen. Man ist heute weit von Lumumbas politischer Vision entfernt.“
„Lumumba hat sich für Patriotismus stark gemacht, für gutes Regieren. Aber das ist heute nicht der Fall, da dürfen wir uns nichts vormachen. Das betrifft alle Regierungen und Regime, die nach ihm kamen. Man ist heute weit von Lumumbas politischer Vision entfernt.“
Damit bestätigt er Roland Lumumba, den Sohn des Freiheitskämpfers. Er sieht das Erbe seines Vaters keineswegs in guten Händen.
„Lumumba wollte die Reichtümer des Landes umverteilen, sie für die Entwicklung des Landes einsetzen und an die Bevölkerung weitergeben,“ erklärt er. „Aber der Reichtum ist noch immer in den Händen einiger weniger. Wir sind der größte Exporteur weltweit von Industriediamanten, der größte von Coltan - mehr als die Hälfte der weltweiten Vorkommen liegen im Kongo. Wir haben Öl, Holz, Wasser. Alles. Eigentlich dürften wir kein armes Land sein. Wenn die Visionen meines Vaters umgesetzt worden wären, wären wir eines der reichsten Länder Afrikas.“