"Die Sandale war vergiftet"

Gesehen von Elske Brault · 18.11.2011
Die Zuschauer lagen vor Lachen unter den Stühlen: Die Hamburger Fassung des Klassikers nach Franz und Paul von Schönthan und Curt Goetz war ein voller Erfolg. Zu verdanken ist das vor allem dem furiosen Solo der Schauspielerin Karin Neuhäuser.
Die Welt des Herrn Professor Gollwitz ist aus Gummi. Er und sein Schwiegersohn, seine Frau, seine beiden Töchter tragen Gummiperücken, grotesk zu üppigen Wellen oder Türmen stilisierte Frisuren. Die Belle-Epoque-Kostüme der Damen und die Stretch-Anzüge der Herren sind mit Schaumstoff gepolstert, vor allem am Hintern. Diese drallen Comic-Figuren sind direkt einem Gemälde von Otto Dix entstiegen und schneiden nun auf der Bühne Fratzen.

Die Knautschzonen haben diese braven Bürgersleute allerdings auch dringend nötig. Denn sie springen mit einer solch hemmungslosen Energie ins Bild, dass Verletzungen ernsthaft zu befürchten sind: Die Gollwitz-Tochter Paula landet im Salto Mortale auf dem gigantischen roten Sofa, dem einzigen Bühnenelement, ihr Verehrer Emil Sterneck grätscht in vollendetem Spagat über die Sofalehne - und später auch schon mal mitten auf sie, mit seinen empfindlichsten Teilen - Aua.

Möglich macht's ein Trampolin hinter dem roten Polsterungetüm. Die kleine Wohnzimmerwelt des Professor Gollwitz ist allerorten weich abgefedert. Und gerade deswegen so langweilig, dass Tochter Marianne ihrem Verlobten Leopold ein verruchtes Vorleben andichten möchte: Aufregender Sex, das spürt sie, findet außerhalb der Komfortzone statt.

Da hinein platzt die Theaterdirektorin Emanuela Striese. Sie trägt ihre Haut in einem ärmellosen Abendkleid ungeschützt zu Markte und als einzige echte Haare auf dem Kopf. Karin Neuhäuser vereint in ihrer Striese-Darstellung Marilyn Monroe und Greta Garbo zu einer beeindruckenden, hocherotischen Grande Dame. Eine alternde Diva, unvermindert sexy, weil sie in jeder Bewegung ihres schlaffer werdenden Fleisches Intelligenz, Erfahrung und Energie konzentriert.

Damit, dass Regisseur Herbert Fritsch und sein Dramaturg Carl Hegemann aus dem Theaterdirektor Striese eine Striesin gemacht haben, geben sie dem Schwank seine ursprüngliche Formel zurück: Für gewöhnlich nämlich entstehen die peinlichen und komischen Verwicklungen daraus, dass der Ehemann seiner Frau einen Seitensprung verheimlichen will. Hier handelt es sich um eine Liaison mit dem Theater.

Denn Gollwitz hat ein Stück geschrieben, eben den "Raub der Sabinerinnen". Eine Jugendsünde, wie er sagt, exakt jener Ausrutscher, den seine Tochter Marianne vergeblich von ihrem künftigen Ehemann erhofft. Striese will dieses Stück unbedingt aufführen, Gollwitz möchte es auch gern auf der Bühne sehen, aber bitte ohne dass seine Frau etwas davon erfährt. Voilá, das ganze Dilemma einer außerehelichen Affäre.

"Permanentes Beballern des Publikums" ruft Herbert Fritsch im Programmheft zum Prinzip aus. Der hysterische Dauersirenenton der Gollwitzschen Gummifiguren geht einem manchmal gehörig auf die Nerven. Aber es gibt dazwischen diese wunderbaren Momente, wenn Theater gespielt wird, sprich "Der Raub der Sabinerinnen", das, Stück im Stück, Raum greift. Die Schauspieler streifen noch absurdere Kostüme über, Abendkleider mit Metallfransen oder Römerrüstungen aus Plastik, und gruppieren sich zum Trauerchor.

Doch der singt nie los, denn einer tanzt immer aus der Reihe: "Jörg" oder "Hans" ruft Theaterdirektorin Karin Neuhäuser die Darsteller bei ihren tatsächlichen Vornamen zur Raison, in der "Pause" stopfen sich alle rasch ein Brötchen rein, kommen aber gar nicht mehr zum Schlucken, und dann gibt Hans Kremer den Klaus Maria Brandauer, stolziert und spreizt sich und blökt, er könne so nicht arbeiten. Eine Parodie auf Theaterproben, urkomisch und voller Wahrheit.

Obwohl Herbert Fritsch sonst keine Gelegenheit zum Slapstick auslässt, reduziert er ausgerechnet die große Verfolgungsszene des Stücks aufs bloße Wort. Dass beim geplanten Bühnentod von Schauspieler Emil Sterneck erst das Schwert, dann die Lanze abbricht, Striese ihn dann mit bloßen Händen würgt und schließlich mit einer Sandale erschlägt, rufend "Die Sandale war vergiftet!", das alles erzählt Karin Neuhäuser als Striesin hier nur. Und zwar so, dass sich tatsächlich der Effekt einstellt, den Alfred Kerr seinerzeit bei der Uraufführung beschrieb: Die Zuschauer liegen vor Lachen unter den Stühlen. Es ist ein großer Abend - aber vor allem das furiose Solo einer ganz großen Schauspielerin.

Thalia Theater Hamburg