Die Schattenseiten des Guten

Von Sibylle Tönnies |
In meiner Kindheit, den fünfziger Jahren, wurde nicht gern über den Holocaust geredet. Das Wort kannte man überhaupt noch nicht - man sprach von Judenverfolgung - soweit man überhaupt davon sprach.
Wenn das Thema denn doch einmal aufkam, sagte unsere Nachbarin: "Da ist doch viel übertrieben worden! Ich weiß doch noch, wie meine Freundin Esther Perlinger aus Theresienstadt zurück kam und uns erzählt hat: Na ja, schön war es nicht im KZ, aber wir haben doch nachmittags immer unseren Bridge gehabt."

Das hat mich als Kind sehr beruhigt. Denn wenn ich auch nichts Genaues über die KZs wusste, so hatte das Wort doch einen üblen Klang, der durch den Gedanken, dass man da nachmittags immer seinen Bridge hatte, sehr gemildert wurde. Absurd. Diese Zeiten sind Gott sei Dank vorbei. Schon Kinder sind heute über die deutsche Vergangenheit informiert und wachsen in dem Bewusstsein auf, dass sie in einem Land leben, das schwer mit Schuld beladen ist.

Darin, dass Deutschland diesen Weg einschlagen musste, zeigt sich ein großer Fortschritt der Weltkultur. Es ist eine Neuheit, dass ein Kollektiv gezwungen ist, die eigene Schuld als wesentlichen Bestandteil seiner Vergangenheit zu akzeptieren und die eigenen Gräueltaten in den Mittelpunkt seines Denkens und Fühlens zu stellen. Durch die ganze Geschichte hindurch wurden doch die eigenen Siege gefeiert – oder die eigenen Niederlagen beweint; niemals jedoch wurden die eigenen Missetaten erinnert und bedauert.

Und es ist erfreulich, dass eine Welt-Moral im Entstehen ist, die einen wesentlichen Reifeschritt macht: das Gute ist nicht mehr das, was dem eigenen Kollektiv dient, und das Schlechte das, was ihm schadet. Nein, das Gute ist das, was dem Leben dient, und das Schlechte ist das, was dem Leben abträglich ist – dem Leben schlechthin. Da gibt es nicht mehr Freund und Feind. Ein universales Menschenrechtsdenken gewinnt immer mehr Einfluss; das alte partikulare Geschichts-Denken, das nur für das eigene Kollektiv Partei ergreifen kann, ist im Untergehen begriffen.

Aber - wie alle Erscheinungsformen des Guten, so hat auch diese ihre Schattenseiten. Die deutsche Kultur leidet unter Anpassungs- und Verdummungs-Erscheinungen. Für ein schlichtes Denken hat es den Anschein, als sei ein kulturelles Produkt schon deshalb gut, wichtig und richtig, weil es sich in irgendeiner Weise gegen den Holocaust richtet. Die Botschaft vieler Texte, Bilder, Ausstellungen liegt heute darin, dass Künstler und Journalisten zum Ausdruck bringen: Wir sind keine Nazis! Selbst Dreißigjährige sehen heute ihre Bestimmung darin, das zu beteuern. Wer nicht imstande ist, sich einen inhaltlichen Begriff von Gut und Böse, Richtig und Falsch zu machen, wird leicht in Versuchung geführt, einfach in dieses Horn zu stoßen.

Dies ist nicht nur eine Versuchung für schlichte Gemüter. Sondern auch für opportunistische. Man ist heute immer auf der sicheren Seite, wenn man sich in diesen Themenkreis einfügt und in die Ablehnung des Holocaust einmündet – die ja nicht schwer ist. Diese politische Korrektheit ebbt nicht etwa ab; sie nimmt immer mehr zu. Sie kennt keine andere moralische Leitlinie als die, dass man kein Nazi sein darf. Sie entspricht nicht der neu-gewonnenen, universalen Menschheitsmoral, die unterschiedslos dem Leben dient. Nein. Sie gehört dem alten Denken an, das in partikularer Weise nur darauf schaut, welchem Kollektiv ein Phänomen zuzuordnen ist.

Die Anpassungsbereitschaft, die sich hier zeigt, erinnert an Gleichschaltung. Die Protagonisten dieser Richtung – da kann man sicher sein – wären die letzten, die in einem totalitären Regime die Meinungsfreiheit aufrecht halten würden. Ich tute immer mit dem Chef ins gleiche Horn – das ist die Devise, unter der sie arbeiten und die Medien mit Inhalt füllen.

Sie schreien sofort auf, wenn sich jemand für Mütter am Herd oder Jugendliche am Lagerfeuer oder Arbeitslose mit der Schaufel einsetzt. Weil sie mal gehört haben, dass die Nationalsozialisten das auch getan haben. Sie haben keine eigenen Kriterien für das, was gut ist für eine Gesellschaft, und das, was ihr schadet. Ihre Identität besteht in erster Linie darin, dass sie ganz bestimmt keine Nazis sind. Im Jahre 2008.


Sibylle Tönnies, Juristin, Soziologin, Publizistin, 1944 in Potsdam geboren, studierte Jura und Soziologie. Sie arbeitete zunächst als Rechtsanwältin und war Professorin im Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Bremen. Heute unterrichtet sie an der Universität Potsdam. Zu ihren zahlreichen Veröffentlichungen zählen die Bücher "Der westliche Universalismus", "Linker Salon-Atavismus" und "Pazifismus passé?"