Wendy Brown: Die schleichende Revolution – Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015
333 Seiten, 28 Euro
Kampfschrift gegen Neoliberalismus
Die Politologin Wendy Brown gilt in den USA als streitlustige Intellektuelle. In ihrem Buch "Die schleichende Revolution" nimmt sie die Denkmode des Neoliberalismus aufs Korn. Sie sagt dem Mantra der Herrschaft der Ökonomie über alle Lebensbereiche den Kampf an.
Der Originaltitel, allzu samtpfotig ins Deutsche übersetzt, klingt nach "Endlösung", die "Revolution" wie die Geheimwaffe, die Tarnkappe der dunklen Macht. Und die Argumente dieses bislang wohl radikalsten Traktats gegen eine Denkmode, genauer wohl Denkdroge namens Neoliberalismus, suggerieren Armageddon, einen Endkampf zwischen Gut und Böse, obwohl der Ton ganz unaufgeregt bleibt, der Ton des Chirurgen beim Sezieren.
Natürlich ist auch Browns Ausgangsdiagnose die beinah schon totalitäre Herrschaft der Ökonomie über alle anderen Lebensbereiche. In ihrer Sicht jedoch ist die Entwicklung schon viel weiter als bei den Abgesängen eines Krugman, Stiglitz oder Crouch: Nicht nur ein Politikmodell steht auf dem Spiel, sondern das ganze Leitbild mündiger Bürger, ja dieser Bürger selbst: "Undoing the Demos", das Volk auflösen - mithilfe seines eigenen Willens.
Denn längst schon sind alle neoliberalen Mantras verinnerlicht, glaubt Brown, erscheinen Bürgern wie der eigene autarke Wille: Jene "übertriebene Selbstständigkeit [verschmolzen] mit der Bereitschaft, geopfert zu werden." Klingt vertraut? Mehr Eigenverantwortung, um den Staat aus der Fürsorgepflicht zu entlassen, obwohl es doch kaum Chancen gibt, die Sorge um sich selber existenzerhaltend auszuüben: Ich-AGs z.B. Enteignung durch Eigenvorsorge in einem Finanzmarkt mit null Zinsen aber mit offiziell erwünschter Inflation? Nonstop-Selbstoptimierung für eine Firma, die einen morgen auf die Straße setzt?
Das Individuum ist nicht "too big to fail"
Das Individuum ist leider – im Gegensatz zu multinationalen Konzernen oder Staaten – nicht too big to fail in einer "marktkonformen Demokratie", wie sie sich eine Kanzlerin erträumt. "Anstatt gesichert oder geschützt zu sein, duldet der ... [ideale] Bürger Unsicherheit, Mangel und extreme Belastung, um die Positionierung im Wettbewerb, Wachstum oder die Bonitätseinstufung des Staates als Unternehmen aufrechtzuerhalten ... Er akzeptiert auch die Verstärkung von Ungleichheiten durch den Neoliberalismus als grundlegend für die Gesundheit des Kapitalismus", sprich: Der Wertegemeinschaft. Längst hält also der Idealtyp des westlichen Bürgers die Identität von Wirtschaft und Gesellschaft für natürlich.
Damit sind selbst der Meinungs- und Willensbildung einstige Hoheitsbereiche entzogen, zugunsten des alleinigen Zwecks und Prinzips privater Unternehmens: "Die neoliberale Lösung von Problemen besteht immer in mehr Märkten, vollständigeren Märkten, vollkommenen Märkten, in mehr Finanzialisierung." Auf der Strecke bleibt jenes "menschlichen Wissen, Überlegen, Urteilen und Handeln, das klassischerweise mit dem Homo politicus verknüpft ist."
Der real existierende Neoliberalismus jedenfalls zeigt Züge totalitärer religiöser Diktaturen, deren Demokratietauglichkeit mehr als fraglich ist. Brown zieht zwar den Vergleich nicht explizit, zögert z.B. aber nicht, "Konvergenzen zwischen Bestandteilen des Faschismus ... und unbeabsichtigten Wirkungen der heutigen neoliberalen Rationalität festzustellen". Sie hätte auch sagen können: Der Neoliberalismus ist die Scharia der westlichen Wirtschaftsreligion.