Die Schöne und der Patriarch
Russland zählt zu Europas Schlusslichtern in Sachen Gleichberechtigung: Bei gleicher Tätigkeit und Qualifikation verdienen Frauen ein Drittel weniger als Männer. Auch die Übergriffe gegen Frauen nehmen zu: Rund 14.000 sterben jedes Jahr durch häusliche Gewalt. Gleichzeitig nimmt die Akzeptanz von Homosexualität in Russland ab.
"Hass ist langweilig" stand auf einem Zettel, den ich hochhielt. Meine Freundin und ich trugen beide T-Shirts mit der Aufschrift "Ich liebe sie" und einem Pfeil darunter. Ihr Pfeil zeigte auf mich, und meiner auf sie. Wir holten ein Regenbogenfähnchen raus und hielten es fest. Kaum 30 Sekunden standen wir so da, da riss mir ein bärtiger Mann die Fahne aus der Hand. Ich wollte meiner Freundin helfen - und da kam der Schlag. Jemand, der von hinten angeschlichen kam, schlug hart gegen meine Schläfe. Dann konnte ich nichts mehr hören."
Die Journalistin Elena Kostyuchenko wurde während des Moskauer Gay-Pride von einem militanten Christen überfallen. Ein Internet-Video zeigt, wie die Polizei nach dem Überfall Elena und andere Teilnehmer der Mahnwache packt und in einen Gefangenenwagen verfrachtet.
Die russische Verfassung garantiert Versammlungsfreiheit. Aber Kundgebungen für die Rechte von Homosexuellen gefährden nach offizieller Lesart die "Volksgesundheit und Sittlichkeit" und werden gewaltsam aufgelöst. Bei der jüngsten Mahnwache nahm die Moskauer Polizei 18 Demonstranten, darunter auch Elena fest. Bei der zahlenmäßig weit überlegenen Gegendemonstration wurden 16 besonders gewalttätige Teilnehmer verhaftet. Dort hatten sich Rechtsradikale versammelt, ihre Arme zum Hitlergruß ausgestreckt. Bärtige Männer mit schweren Eisenkreuzen und Frauen mit Kopftüchern und Ikonen vor der Brust. "Nieder mit den Sodomiten!"
So patriarchal und rückständig stand Moskau nicht immer da. Denn Russland führte bereits 1917, als dritter der modernen Staaten, das allgemeine Frauenwahlrecht ein, ein Jahrzehnt nach dem europäischen Vorreiter Finnland und ein Jahr vor Deutschland. Die Revolution von 1917 proklamierte die Gleichstellung der Geschlechter und erhob die Freiheit der Liebe zum Grundrecht.
Zugleich riss sie dem Patriarchat das andere Standbein weg und setzte der Kriminalisierung von Homosexualität ein Ende. Allerdings stellte Stalin gleichgeschlechtliche Beziehungen bald wieder unter Strafe. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entkriminalisierte Russland 1993 die Homosexualität vollständig, wiederum ein Jahr früher als die Bundesrepublik. Jetzt dreht sich der Trend erneut.
"Wir erleben derzeit einen gewaltigen Rückschlag. Besonders in der Provinz ist Gewalt und Vergewaltigung fast schon die Norm. Die Kultur der Gewalt hat sich so weit ausgebreitet, dass von Geschlechter-Gleichheit nicht die Rede sein kann. Es herrscht das Recht des Stärkeren - und unsere nationalen Anführer setzen sich massiv für diese Kultur der Gewalt ein. Das finde ich ekelhaft."
In den USA zieht der russische Anführer Wladimir Putin als sogenanntes Alpha-Tier eher Spott auf sich. Doch bei seinen Untertanen findet Putins Macho-Image regen Zuspruch. Nach seinem Amtsantritt passte sich das Patriarchat der Popkultur an. An die Stelle eines eher vorsorgenden Familienpatriarchen trat ein neues Vorbild: Der gewaltbereite Macho mit einer gefügigen Frau an seiner Seite - so hat auch der Moskauer Club Paradies den neuen Mann gefeiert.
Im Vorfeld des jüngsten Weltfrauentags, eines ehemals in der Sowjetunion wichtigen Staatsfeiertags, veranstaltete der Moskauer Club Paradies eine Putin-Party. Halbnackte Go-Go-Girls tanzten unter dem Transparent "Nur Paradies, nur Putin, nur Sex".
Während das Pop-Patriarchat sich selbst feiert, werden immer mehr Frauen Opfer der häuslichen Gewalt. Seit 2002 ist ihre Zahl um 50 Prozent gestiegen. Frauen werden zu Tode geprügelt, aus dem Fenster geworfen, und, nach Angaben des Moskauer Krisenzentrums für Frauen ANNA, immer öfter erschossen.
Russland ist Spitzenreiter unter den Mitgliedern des Europarats im Ausmaß der patriarchalischen Gewalt. Jede Stunde wird dort eine Frau von ihrem Mann oder Partner getötet. Es gibt in Russland kein Gewaltschutzgesetz, so wie seit zehn Jahren in Deutschland. Deswegen sind der Polizei oft die Hände gebunden, sagt die Mitarbeiterin des Krisenzentrums ANNA, Irina Matwienko. Kommt eine misshandelte Frau zur Polizei, bekommt sie immer dieselbe Antwort:
"'Kommen Sie erst wieder, wenn ein Mord passiert ist.' Aber Spaß beiseite, es gibt so viele Opfer! Wir haben schon mehrmals versucht, ein Gewaltschutzgesetz durchzusetzen. Bis jetzt sind wir immer gescheitert. Uns fehlt einfach Energie von unten. Die Gesellschaft will das Ausmaß des Problems nicht begreifen. Jährlich sterben 14.000 Frauen durch häusliche Gewalt."
Irina arbeitet seit 15 Jahren mit weiblichen Gewaltopfern. In dieser Zeit hat das erste russische Krisenzentrum ANNA 36.000 Fälle bearbeitet. Es führt regelmäßig Schulungen für Soziabeamte und Polizisten durch. Inzwischen sind auch in den Regionen Russlands Einrichtungen entstanden, in denen Frauen Zuflucht vor Gewalt finden können.
Zuflucht heißt wörtlich das Frauenhaus auf Russisch - gerade Mal 20 gibt es. Viele Opfer rufen aber gar nicht an, weil sie denken, dass es eine Vergewaltigung in der Ehe nicht geben kann; dass Gewalt in der Ehe normal sei, ganz nach dem altrussischen Spruch: Wer seine Frau nicht schlägt, liebt sie nicht. Die Gesellschaft verändert sich viel zu langsam, sagt Irina:
"Die Gesellschaft ist noch nicht bereit, das Engagement von Frauen zu akzeptieren. Russland ist ein großes Land, und unsere patriarchalischen Ansichten sind sehr zählebig. Familie, Heim und Herd gelten immer noch als Frauensache. In Moskau können noch Frauen Karriere machen und das gut mit Familie und Kindern vereinbaren. Wenn aber eine Frau in der Provinz selbstbewusst über Politik oder Business redet, ärgern sich die Männer - oder sie bekommen Angst."
Feministin oder Schwuler sind in Russland Schimpfwörter. Den älteren Generationen bietet die mächtige russisch-orthodoxe Kirche ein mittelalterliches Familienvorbild. Für die Jugend sind Putins Staatsmedien mit ihrem sexistischen Programm da.
"Ich will einen wie Putin, voller Kraft!" Dieses Lied entstand 2004 im Umkreis der staatstreuen Jugendorganisation mit dem Namen "Die gemeinsam Gehenden". Eine Band "Die gemeinsam Singenden" eroberte damals die Musiksender. Heute wirbt die Kremljugend auch im Internet für ihre Sex-Ikone W.W. Putin.
"Wladimir Wladimirowich, rufen Sie mich bitte an!",
fleht eine halbnackte Schönheit Putin an. Sie ist in einem erotischen Kalender abgebildet, den eine putintreue Jugendgruppe als Geburtstagsgeschenk für ihr Idol ins Internet gestellt hat und auch drucken ließ. Auflage: 50.000.
"Wladimir Wladimirowich, wie wäre es mit einem dritten Mal?",
fragt lasziv eine andere Frau im Bikini. Alle Models studieren Journalistik an der Lomonossow-Universität.
Aber es gibt auch zukünftige Journalistinnen, die keinen Kraftprotz wie Putin wollen. Sie haben dem 58-jährigen Geburtstagskind ebenfalls einen Kalender geschenkt. Zu sehen waren darauf Frauen in Schwarz mit zugeklebtem Mund, die wissen wollten:
"Wann kommt Chodorkowskij frei? Wer hat Anna Politkowskaja ermordet? Wann passiert wieder ein Terroranschlag?"
Das hat Putin weniger gefallen, gab sein Sprecher zu, als die Liebeserklärungen der Halbnackten. Putins Strategie erfüllt viele junge Leute mit Scham und Wut.
In ihrem Video-Clip ist zu sehen, wie drei Aktivistinnen, die als die Killer-Agentin Nikita verkleidet sind, einer Luxuslimousine entsteigen. Die drei Frauen in Schwarz holen Pistolen hervor und schießen auf drei Bären-Püppchen, das Symbol der Regierungspartei.
Dann reißen sie ihre Kleider auf - nicht für Putin, sondern dafür, dass es in diesem Land endlich einen normalen Präsidenten gibt.
"'In meinen Kreisen, unter politischen Künstlern, gibt es so gut wie keinen Sexismus mehr","
sagt die politische Künstlerin Nadja Tolokno aus der Gruppe Wojna, die in Moskau und St. Petersburg regimekritische Straßenaktionen durchführt.
"Der Grund, warum der Sexismus im politisch engagierten Milieu nicht begrüßt wird, ist sehr einfach: Wir habe einen gemeinsamen Feind: Putin, sein System. Jede Person ist wichtig für den Kampf, und es spielt gar keine Rolle, ob du Mann bist oder Frau."
Nadja gehört zum losen Netzwerk der Oppositionellen, die Putins Status Quo ablehnen: Von den nationalistischen Bolschewisten aus der verbotenen Partei des Schriftstellers Eduard Limonow bis hin zu Schwulen- und Lesben- Aktivisten wie die bei der Gay-Pride-Mahnwache verprügelte Journalistin Elena Kostyuchenko.
"Natürlich sollte man Putin vielleicht nicht die Schuld für alles geben. Aber schauen Sie: Putin erfährt, dass der israelische Präsident seine Mitarbeiterinnen vergewaltigte, und was sagt er? 'Was für ein starker Kerl! Wir beneiden ihn alle!'"
Wojna-Aktivistin Nadja nimmt an den Protesten der Homosexuellen teil und die für ein Recht auf Homosexualität kämpfende Elena ist oft bei Veranstaltungen und Demonstrationen der Opposition dabei. Am Tag davor hatte Elena in ihrem Blog gepostet:
"Ich will, dass der Staat meine Frau und mich rechtlich als Eheleute behandelt. Wir wollen Kinder, und wir wollen beide in die Geburtsurkunden als Eltern eingetragen sein."
Nach dem Überfall verlor Elena kurzfristig das Gehör und die Orientierung. Sie fand sich im Gefangenenbus wieder. Ihre Freundin Anja war auch dort.
"In den Reihen hinter ihr saßen fünf oder sechs kräftig gebaute Kerle drin, die Gegner der Gay-Parade. Plötzlich stieg ein Polizist zu uns. Er fragte mich: 'Junge Frau, wollen Sie eine Anzeige gegen dieses Scheusal erstatten, der Sie angegriffen hat?' Aber ich habe den Angreifer gar nicht gesehen, er hat mich ja von hinten überfallen. Der Polizist sagte: 'Drehen Sie sich bitte um. Der in der hinteren Reihe.' Es war ein Mann im rosa Hemd, fett und mit Muskeln bepackt. Nun, ich habe kein großes Vertrauen in die Polizei, und ich dachte, vielleicht zeigt er mir eine zufällige Person. Dann aber fing der Mann zu reden an. Er behauptete, ich selber habe ihn überfallen. Der Polizist widersprach und meinte, es gäbe Zeugen und Videobeweise der Tat. Dann sagte der Angreifer: 'Ich bin russisch-orthodoxer Christ. Jeder Christ würde mich verstehen!'"
Die Führung der russisch-orthodoxen Kirche hat sich gut in Putins Machtvertikale integriert. Allmählich nimmt sie die Rolle einer Staatskirche ein. Staatspatriarch Putin stellt dem Moskauer Kirchenpatriarchen Kirill Personenschutz und Dienstwagen mit Blaulicht zur Verfügung - so wie einem Minister. "Jede Macht kommt von Gott", predigen die Kirchenführer. Sie wollen ihre Weltsicht an russischen Schulen propagieren.
Obwohl Russland ein laizistischer Staat ist, werden schon heute die "Grundlagen Orthodoxer Kultur" in vielen Regionen unterrichtet. Ab nächstem Jahr sollen sie flächendeckend zum Pflichtfach in russischen Schulen werden. Kirchensprecher Wsewolod Tschaplin plädiert auch für die Einführung einer russisch-orthodoxen Kleiderordnung. Für deren Einhaltung sollten dann russisch-orthodoxe Patrouillen sorgen.
In Moskauer Cafes sitzen bei Latte Macchiato junge Leute, die äußerlich von ihren Altersgenossen in Berlin oder New York nicht zu unterscheiden sind. Die Kirche will nicht, dass es so bleibt, sagt Elena:
"Das klingt wie ein Witz, aber die Kirchenleute meinen es ernst. Sie wollen den russischen Frauen einen Dresscode aufzwingen: Der Rock bis zum Boden und ein Kopftuch. Und im Fernsehen, das übrigens staatlich ist, führen sie einen ewigen Diskurs darüber, dass Frauen ihren Platz kennen sollten, dass Frauen Kinder kriegen sollten, die Familie sei das Wichtigste, die Kariere kann warten."
Bei der Familienplanung ist die russisch-orthodoxe Kirche nicht ganz so streng wie der Vatikan, sie greift aber zu höchst autoritären Mitteln, um eine unchristliche Lebensweise zu verhindern. Einige Verhütungstechniken setzt sie der Abtreibung gleich und sie verteufelt sicheren Sex. Wenn aber eine Frau auf sie hört und schwanger wird, wenn sie diese ungewollte Schwangerschaft dann ohne Einwilligung ihres Ehemannes abbricht, darf dieser sich von ihr scheiden lassen. Die Kirche steht hinter einer Gesetzesnovelle, die Schwangerschaftsabbrüche nur mit medizinischer Indikation zulässt.
"Sie wollen nicht nur, dass Frauen vor der Abtreibung eine Einwilligung ihrer Männer einholen. Sie haben in ihrem Gesetzentwurf sogar gefordert, dass jede Frau, die abtreiben will, zuerst den Herzschlag des Fötus hören und dann mit einem Priester reden muss. Das ist eine gesetzlich vorgeschriebene psychologische Folter! Im Vorfeld der Gay Parade haben die Kirchenvertreter in den Medien gesagt, sie unterstützen diejenigen, die diese teuflische Zusammenrottung auseinandertreiben wollten."
Nach der gewaltsamen Auflösung der Mahnwache hat der Kirchensprecher Tschaplin den Behörden gedankt. Er bedauere nur, dass einige orthodoxe Aktivisten auch verhaftet wurden-
Die Hetze durch Kirche und Staat hat dazu geführt, dass die Akzeptanz von Homosexualität in Russland gesunken ist. Vor Putins Amtsantritt betrug sie 18 Prozent und fiel ein Jahrzehnt später auf 15 Prozent. Nach einer Meinungsumfrage des renommierten Lewada-Zentrums treten heute nur 14 Prozent der Russen für eine Rechtliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften ein. Besonders stark ist die Homophobie in der von Sexismus und Orthodoxie geprägten russischen Provinz, wo Elena Kostyuchenko aufgewachsen ist. Bis 17 wusste Elena nicht, dass es Homosexualität gibt. Sie hielt sich für frigide, weil die Jungs sie nicht interessierten:
"Mit so was soll einer noch klar kommen. Nach dem Coming-Out musste ich mir Sachen von meiner Familie anhören, die ich nicht so leicht vergessen kann: 'Wir beten darum, dass du nie Kinder bekommst, ihr Missgeburten dürft euch nicht vermehren'" Das ist aber nicht schlimmer als das, was alle anderen erleben. Ich freu mich nur, dass ich stark genug war und mich nicht umgebracht habe. Jede Prollfamilie soll über die Homosexualität aufgeklärt werden!"
Es gibt in der russischen Schule keine sexuelle Aufklärung. Eine jahrelange Kampagne, maßgeblich von der Kirche geprägt, hat die geplante Einführung dieses Fachs verhindert. Das führte zum Anstieg von Schwangerschaften bei Minderjährigern und einer Selbstmordepidemie bei homosexuellen Jugendlichen. Die Homophobie ist in Russland gesellschaftsfähig und es gibt nur wenige Anzeichen, dass sich dies ändern wird:
"Ich träume von einer Bombe, die nur Päderasten umbringt. Wie rein würde die Erde sein!"
Die Empörung über diese Äußerung in den unabhängigen Medien und dem Internet war so groß, dass die staatliche Presseagentur ihren Mitarbeiter feuern musste.
Für Elena Kostyuchenko war es die erste Schwalbe. Elena hofft, dass sie bereits in fünf Jahren ein Kind zur Welt bringen und ihre Freundin legal heiraten darf. Einen weiteren Grund zur Hoffnung bekam die Journalistin ausgerechnet bei ihrer Festnahme:
"Ich habe mich auf Erniedrigungen eingestellt. Ich war bereit, meine Ehre und die Ehre meiner Freundin zu verteidigen. Doch die Polizei hat uns mit großer Achtung behandelt. Ein Polizist sagte, 'Klar habt ihr Recht zu heiraten, ihr sollt auch das Sorgerecht für eure Kinder bekommen, und ihr werdet tolle Mütter sein! Ihr seid cool, Mädels.' Natürlich war unsere Festnahme widerrechtlich. Aber danach haben sich die Beamten absolut korrekt verhalten. Dafür möchte ich Ihnen jetzt danken."
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Die gelenkte Demokratie
Survival of the fittest
Die Journalistin Elena Kostyuchenko wurde während des Moskauer Gay-Pride von einem militanten Christen überfallen. Ein Internet-Video zeigt, wie die Polizei nach dem Überfall Elena und andere Teilnehmer der Mahnwache packt und in einen Gefangenenwagen verfrachtet.
Die russische Verfassung garantiert Versammlungsfreiheit. Aber Kundgebungen für die Rechte von Homosexuellen gefährden nach offizieller Lesart die "Volksgesundheit und Sittlichkeit" und werden gewaltsam aufgelöst. Bei der jüngsten Mahnwache nahm die Moskauer Polizei 18 Demonstranten, darunter auch Elena fest. Bei der zahlenmäßig weit überlegenen Gegendemonstration wurden 16 besonders gewalttätige Teilnehmer verhaftet. Dort hatten sich Rechtsradikale versammelt, ihre Arme zum Hitlergruß ausgestreckt. Bärtige Männer mit schweren Eisenkreuzen und Frauen mit Kopftüchern und Ikonen vor der Brust. "Nieder mit den Sodomiten!"
So patriarchal und rückständig stand Moskau nicht immer da. Denn Russland führte bereits 1917, als dritter der modernen Staaten, das allgemeine Frauenwahlrecht ein, ein Jahrzehnt nach dem europäischen Vorreiter Finnland und ein Jahr vor Deutschland. Die Revolution von 1917 proklamierte die Gleichstellung der Geschlechter und erhob die Freiheit der Liebe zum Grundrecht.
Zugleich riss sie dem Patriarchat das andere Standbein weg und setzte der Kriminalisierung von Homosexualität ein Ende. Allerdings stellte Stalin gleichgeschlechtliche Beziehungen bald wieder unter Strafe. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entkriminalisierte Russland 1993 die Homosexualität vollständig, wiederum ein Jahr früher als die Bundesrepublik. Jetzt dreht sich der Trend erneut.
"Wir erleben derzeit einen gewaltigen Rückschlag. Besonders in der Provinz ist Gewalt und Vergewaltigung fast schon die Norm. Die Kultur der Gewalt hat sich so weit ausgebreitet, dass von Geschlechter-Gleichheit nicht die Rede sein kann. Es herrscht das Recht des Stärkeren - und unsere nationalen Anführer setzen sich massiv für diese Kultur der Gewalt ein. Das finde ich ekelhaft."
In den USA zieht der russische Anführer Wladimir Putin als sogenanntes Alpha-Tier eher Spott auf sich. Doch bei seinen Untertanen findet Putins Macho-Image regen Zuspruch. Nach seinem Amtsantritt passte sich das Patriarchat der Popkultur an. An die Stelle eines eher vorsorgenden Familienpatriarchen trat ein neues Vorbild: Der gewaltbereite Macho mit einer gefügigen Frau an seiner Seite - so hat auch der Moskauer Club Paradies den neuen Mann gefeiert.
Im Vorfeld des jüngsten Weltfrauentags, eines ehemals in der Sowjetunion wichtigen Staatsfeiertags, veranstaltete der Moskauer Club Paradies eine Putin-Party. Halbnackte Go-Go-Girls tanzten unter dem Transparent "Nur Paradies, nur Putin, nur Sex".
Während das Pop-Patriarchat sich selbst feiert, werden immer mehr Frauen Opfer der häuslichen Gewalt. Seit 2002 ist ihre Zahl um 50 Prozent gestiegen. Frauen werden zu Tode geprügelt, aus dem Fenster geworfen, und, nach Angaben des Moskauer Krisenzentrums für Frauen ANNA, immer öfter erschossen.
Russland ist Spitzenreiter unter den Mitgliedern des Europarats im Ausmaß der patriarchalischen Gewalt. Jede Stunde wird dort eine Frau von ihrem Mann oder Partner getötet. Es gibt in Russland kein Gewaltschutzgesetz, so wie seit zehn Jahren in Deutschland. Deswegen sind der Polizei oft die Hände gebunden, sagt die Mitarbeiterin des Krisenzentrums ANNA, Irina Matwienko. Kommt eine misshandelte Frau zur Polizei, bekommt sie immer dieselbe Antwort:
"'Kommen Sie erst wieder, wenn ein Mord passiert ist.' Aber Spaß beiseite, es gibt so viele Opfer! Wir haben schon mehrmals versucht, ein Gewaltschutzgesetz durchzusetzen. Bis jetzt sind wir immer gescheitert. Uns fehlt einfach Energie von unten. Die Gesellschaft will das Ausmaß des Problems nicht begreifen. Jährlich sterben 14.000 Frauen durch häusliche Gewalt."
Irina arbeitet seit 15 Jahren mit weiblichen Gewaltopfern. In dieser Zeit hat das erste russische Krisenzentrum ANNA 36.000 Fälle bearbeitet. Es führt regelmäßig Schulungen für Soziabeamte und Polizisten durch. Inzwischen sind auch in den Regionen Russlands Einrichtungen entstanden, in denen Frauen Zuflucht vor Gewalt finden können.
Zuflucht heißt wörtlich das Frauenhaus auf Russisch - gerade Mal 20 gibt es. Viele Opfer rufen aber gar nicht an, weil sie denken, dass es eine Vergewaltigung in der Ehe nicht geben kann; dass Gewalt in der Ehe normal sei, ganz nach dem altrussischen Spruch: Wer seine Frau nicht schlägt, liebt sie nicht. Die Gesellschaft verändert sich viel zu langsam, sagt Irina:
"Die Gesellschaft ist noch nicht bereit, das Engagement von Frauen zu akzeptieren. Russland ist ein großes Land, und unsere patriarchalischen Ansichten sind sehr zählebig. Familie, Heim und Herd gelten immer noch als Frauensache. In Moskau können noch Frauen Karriere machen und das gut mit Familie und Kindern vereinbaren. Wenn aber eine Frau in der Provinz selbstbewusst über Politik oder Business redet, ärgern sich die Männer - oder sie bekommen Angst."
Feministin oder Schwuler sind in Russland Schimpfwörter. Den älteren Generationen bietet die mächtige russisch-orthodoxe Kirche ein mittelalterliches Familienvorbild. Für die Jugend sind Putins Staatsmedien mit ihrem sexistischen Programm da.
"Ich will einen wie Putin, voller Kraft!" Dieses Lied entstand 2004 im Umkreis der staatstreuen Jugendorganisation mit dem Namen "Die gemeinsam Gehenden". Eine Band "Die gemeinsam Singenden" eroberte damals die Musiksender. Heute wirbt die Kremljugend auch im Internet für ihre Sex-Ikone W.W. Putin.
"Wladimir Wladimirowich, rufen Sie mich bitte an!",
fleht eine halbnackte Schönheit Putin an. Sie ist in einem erotischen Kalender abgebildet, den eine putintreue Jugendgruppe als Geburtstagsgeschenk für ihr Idol ins Internet gestellt hat und auch drucken ließ. Auflage: 50.000.
"Wladimir Wladimirowich, wie wäre es mit einem dritten Mal?",
fragt lasziv eine andere Frau im Bikini. Alle Models studieren Journalistik an der Lomonossow-Universität.
Aber es gibt auch zukünftige Journalistinnen, die keinen Kraftprotz wie Putin wollen. Sie haben dem 58-jährigen Geburtstagskind ebenfalls einen Kalender geschenkt. Zu sehen waren darauf Frauen in Schwarz mit zugeklebtem Mund, die wissen wollten:
"Wann kommt Chodorkowskij frei? Wer hat Anna Politkowskaja ermordet? Wann passiert wieder ein Terroranschlag?"
Das hat Putin weniger gefallen, gab sein Sprecher zu, als die Liebeserklärungen der Halbnackten. Putins Strategie erfüllt viele junge Leute mit Scham und Wut.
In ihrem Video-Clip ist zu sehen, wie drei Aktivistinnen, die als die Killer-Agentin Nikita verkleidet sind, einer Luxuslimousine entsteigen. Die drei Frauen in Schwarz holen Pistolen hervor und schießen auf drei Bären-Püppchen, das Symbol der Regierungspartei.
Dann reißen sie ihre Kleider auf - nicht für Putin, sondern dafür, dass es in diesem Land endlich einen normalen Präsidenten gibt.
"'In meinen Kreisen, unter politischen Künstlern, gibt es so gut wie keinen Sexismus mehr","
sagt die politische Künstlerin Nadja Tolokno aus der Gruppe Wojna, die in Moskau und St. Petersburg regimekritische Straßenaktionen durchführt.
"Der Grund, warum der Sexismus im politisch engagierten Milieu nicht begrüßt wird, ist sehr einfach: Wir habe einen gemeinsamen Feind: Putin, sein System. Jede Person ist wichtig für den Kampf, und es spielt gar keine Rolle, ob du Mann bist oder Frau."
Nadja gehört zum losen Netzwerk der Oppositionellen, die Putins Status Quo ablehnen: Von den nationalistischen Bolschewisten aus der verbotenen Partei des Schriftstellers Eduard Limonow bis hin zu Schwulen- und Lesben- Aktivisten wie die bei der Gay-Pride-Mahnwache verprügelte Journalistin Elena Kostyuchenko.
"Natürlich sollte man Putin vielleicht nicht die Schuld für alles geben. Aber schauen Sie: Putin erfährt, dass der israelische Präsident seine Mitarbeiterinnen vergewaltigte, und was sagt er? 'Was für ein starker Kerl! Wir beneiden ihn alle!'"
Wojna-Aktivistin Nadja nimmt an den Protesten der Homosexuellen teil und die für ein Recht auf Homosexualität kämpfende Elena ist oft bei Veranstaltungen und Demonstrationen der Opposition dabei. Am Tag davor hatte Elena in ihrem Blog gepostet:
"Ich will, dass der Staat meine Frau und mich rechtlich als Eheleute behandelt. Wir wollen Kinder, und wir wollen beide in die Geburtsurkunden als Eltern eingetragen sein."
Nach dem Überfall verlor Elena kurzfristig das Gehör und die Orientierung. Sie fand sich im Gefangenenbus wieder. Ihre Freundin Anja war auch dort.
"In den Reihen hinter ihr saßen fünf oder sechs kräftig gebaute Kerle drin, die Gegner der Gay-Parade. Plötzlich stieg ein Polizist zu uns. Er fragte mich: 'Junge Frau, wollen Sie eine Anzeige gegen dieses Scheusal erstatten, der Sie angegriffen hat?' Aber ich habe den Angreifer gar nicht gesehen, er hat mich ja von hinten überfallen. Der Polizist sagte: 'Drehen Sie sich bitte um. Der in der hinteren Reihe.' Es war ein Mann im rosa Hemd, fett und mit Muskeln bepackt. Nun, ich habe kein großes Vertrauen in die Polizei, und ich dachte, vielleicht zeigt er mir eine zufällige Person. Dann aber fing der Mann zu reden an. Er behauptete, ich selber habe ihn überfallen. Der Polizist widersprach und meinte, es gäbe Zeugen und Videobeweise der Tat. Dann sagte der Angreifer: 'Ich bin russisch-orthodoxer Christ. Jeder Christ würde mich verstehen!'"
Die Führung der russisch-orthodoxen Kirche hat sich gut in Putins Machtvertikale integriert. Allmählich nimmt sie die Rolle einer Staatskirche ein. Staatspatriarch Putin stellt dem Moskauer Kirchenpatriarchen Kirill Personenschutz und Dienstwagen mit Blaulicht zur Verfügung - so wie einem Minister. "Jede Macht kommt von Gott", predigen die Kirchenführer. Sie wollen ihre Weltsicht an russischen Schulen propagieren.
Obwohl Russland ein laizistischer Staat ist, werden schon heute die "Grundlagen Orthodoxer Kultur" in vielen Regionen unterrichtet. Ab nächstem Jahr sollen sie flächendeckend zum Pflichtfach in russischen Schulen werden. Kirchensprecher Wsewolod Tschaplin plädiert auch für die Einführung einer russisch-orthodoxen Kleiderordnung. Für deren Einhaltung sollten dann russisch-orthodoxe Patrouillen sorgen.
In Moskauer Cafes sitzen bei Latte Macchiato junge Leute, die äußerlich von ihren Altersgenossen in Berlin oder New York nicht zu unterscheiden sind. Die Kirche will nicht, dass es so bleibt, sagt Elena:
"Das klingt wie ein Witz, aber die Kirchenleute meinen es ernst. Sie wollen den russischen Frauen einen Dresscode aufzwingen: Der Rock bis zum Boden und ein Kopftuch. Und im Fernsehen, das übrigens staatlich ist, führen sie einen ewigen Diskurs darüber, dass Frauen ihren Platz kennen sollten, dass Frauen Kinder kriegen sollten, die Familie sei das Wichtigste, die Kariere kann warten."
Bei der Familienplanung ist die russisch-orthodoxe Kirche nicht ganz so streng wie der Vatikan, sie greift aber zu höchst autoritären Mitteln, um eine unchristliche Lebensweise zu verhindern. Einige Verhütungstechniken setzt sie der Abtreibung gleich und sie verteufelt sicheren Sex. Wenn aber eine Frau auf sie hört und schwanger wird, wenn sie diese ungewollte Schwangerschaft dann ohne Einwilligung ihres Ehemannes abbricht, darf dieser sich von ihr scheiden lassen. Die Kirche steht hinter einer Gesetzesnovelle, die Schwangerschaftsabbrüche nur mit medizinischer Indikation zulässt.
"Sie wollen nicht nur, dass Frauen vor der Abtreibung eine Einwilligung ihrer Männer einholen. Sie haben in ihrem Gesetzentwurf sogar gefordert, dass jede Frau, die abtreiben will, zuerst den Herzschlag des Fötus hören und dann mit einem Priester reden muss. Das ist eine gesetzlich vorgeschriebene psychologische Folter! Im Vorfeld der Gay Parade haben die Kirchenvertreter in den Medien gesagt, sie unterstützen diejenigen, die diese teuflische Zusammenrottung auseinandertreiben wollten."
Nach der gewaltsamen Auflösung der Mahnwache hat der Kirchensprecher Tschaplin den Behörden gedankt. Er bedauere nur, dass einige orthodoxe Aktivisten auch verhaftet wurden-
Die Hetze durch Kirche und Staat hat dazu geführt, dass die Akzeptanz von Homosexualität in Russland gesunken ist. Vor Putins Amtsantritt betrug sie 18 Prozent und fiel ein Jahrzehnt später auf 15 Prozent. Nach einer Meinungsumfrage des renommierten Lewada-Zentrums treten heute nur 14 Prozent der Russen für eine Rechtliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften ein. Besonders stark ist die Homophobie in der von Sexismus und Orthodoxie geprägten russischen Provinz, wo Elena Kostyuchenko aufgewachsen ist. Bis 17 wusste Elena nicht, dass es Homosexualität gibt. Sie hielt sich für frigide, weil die Jungs sie nicht interessierten:
"Mit so was soll einer noch klar kommen. Nach dem Coming-Out musste ich mir Sachen von meiner Familie anhören, die ich nicht so leicht vergessen kann: 'Wir beten darum, dass du nie Kinder bekommst, ihr Missgeburten dürft euch nicht vermehren'" Das ist aber nicht schlimmer als das, was alle anderen erleben. Ich freu mich nur, dass ich stark genug war und mich nicht umgebracht habe. Jede Prollfamilie soll über die Homosexualität aufgeklärt werden!"
Es gibt in der russischen Schule keine sexuelle Aufklärung. Eine jahrelange Kampagne, maßgeblich von der Kirche geprägt, hat die geplante Einführung dieses Fachs verhindert. Das führte zum Anstieg von Schwangerschaften bei Minderjährigern und einer Selbstmordepidemie bei homosexuellen Jugendlichen. Die Homophobie ist in Russland gesellschaftsfähig und es gibt nur wenige Anzeichen, dass sich dies ändern wird:
"Ich träume von einer Bombe, die nur Päderasten umbringt. Wie rein würde die Erde sein!"
Die Empörung über diese Äußerung in den unabhängigen Medien und dem Internet war so groß, dass die staatliche Presseagentur ihren Mitarbeiter feuern musste.
Für Elena Kostyuchenko war es die erste Schwalbe. Elena hofft, dass sie bereits in fünf Jahren ein Kind zur Welt bringen und ihre Freundin legal heiraten darf. Einen weiteren Grund zur Hoffnung bekam die Journalistin ausgerechnet bei ihrer Festnahme:
"Ich habe mich auf Erniedrigungen eingestellt. Ich war bereit, meine Ehre und die Ehre meiner Freundin zu verteidigen. Doch die Polizei hat uns mit großer Achtung behandelt. Ein Polizist sagte, 'Klar habt ihr Recht zu heiraten, ihr sollt auch das Sorgerecht für eure Kinder bekommen, und ihr werdet tolle Mütter sein! Ihr seid cool, Mädels.' Natürlich war unsere Festnahme widerrechtlich. Aber danach haben sich die Beamten absolut korrekt verhalten. Dafür möchte ich Ihnen jetzt danken."
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Die gelenkte Demokratie
Survival of the fittest