barbarisch schön
rollt die
wintersonne
über die klinge
ins meer
eine letzte zeile
eine leerzeile
bleibt
rot markiert
bevor auch
sie verschwindet
Doris Runge: "die schönsten versprechen. Gedichte"
© Wallstein
Neues vom mythischen Wasserwesen
05:01 Minuten
Doris Runge
die schönsten versprechenWallstein Verlag, Göttingen 202290 Seiten
18,00 Euro
Die poetische Kurzform und der lakonische Blick auf das Dasein prägen das Werk der Dichterin Doris Runge. In ihrem jüngsten Gedichtbuch beschäftigt sie sich vor allem mit der Vergänglichkeit.
Die „Schönheit“ ist in literarischen Zusammenhängen ein überaus strapazierter Begriff. Er lässt sich nach den Ernüchterungserfahrungen in der poetischen Moderne nicht mehr ohne weiteres für Gedichte reklamieren, ohne dass man in den Verdacht gerät, der Weichzeichnerei Tür und Tor zu öffnen. Die Dichterin Doris Runge weiß um die Doppelbödigkeit der „Schönheit“ und hat daraus ästhetische Konsequenzen gezogen.
Barbarisch schön
Zwar werden im Titel ihres neuen Buchs „die schönsten versprechen“ annonciert. Zugleich jedoch streut die Autorin in jedes Gedicht lyrische Konterbande, Skepsis und Zweifel ob der Erfüllbarkeit dieser Versprechen. Das Eröffnungsgedicht inszeniert einen heftigen Zusammenprall zweier Wörter, eine schrille Paradoxie. Denn der Titel lautet: „barbarisch schön“. Wie gehen Barbarei und Schönheit zusammen?
Ein winterlicher Sonnenuntergang am Meer erweist sich hier als Szenario eines existenziellen Verschwindens. Die Schrift der Natur wird zur Signatur eines Daseins-Schlusspunkts - denn auch die „letzte zeile“ ist schon geschrieben.
Das lyrische Instrumentarium der Dichterin ist in diesem Eröffnungsgedicht exemplarisch versammelt. Die poetische Kürze und die konzentrierte Verknappung gehören seit Doris Runges Debüt mit dem Band „jagdlied“ im Jahr 1985 zu ihren poetischen Markenzeichen. Die 1943 in Mecklenburg geborene Dichterin, die seit 1976 in einem Haus beim holsteinischen Kloster Cismar lebt, kreist in vielen Gedichten um eine vertraute maritime Topographie.
Poetische Weltentwürfe
Die norddeutsche Küstenlandschaft, die Suchbewegungen über die Deiche und ans Meer und die ästhetische Selbstvergewisserung als mythisches Wasserwesen bilden die Zentralmotive in Runges Werk. Als Fluchtpunkt der poetischen Weltentwürfe erweisen sich oft Küstenorte wie Grömitz oder der Schaalsee an der Grenze von Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern.
All diese lyrischen Fixpunkte in Runges Werk sind in diesem neuen - ihrem insgesamt fünfzehnten - Gedichtband von Vergänglichkeit umweht. Die Gedichte lassen noch einmal Stationen der Kindheit Revue passieren, bevor sich der Blick wieder auf die Erfahrung der Sterblichkeit richtet. Gedichte wie „mein gitterbettchen“ oder „eine junge frau“ stiften das Eingedenken an die toten Eltern und Großeltern, beschwören eindringlich eine „alte welt“, die endgültig untergegangen ist.
Lyrische Selbstvergewisserung
Der Blick in den Spiegel wird gleich mehrfach zum Anlass einer lyrischen Selbstvergewisserung, wobei sich die Aussicht auf das Vergangene wie das Zukünftige verdüstert hat: „am ende des blicks / blickt zurück / was ich zurückließ / ein kind / es trug einen / maulkorb / es antwortet nicht“. Der Blick in den Spiegel und auf „das geteilte wasser“ ist zugleich ein Blick auf Erfahrungen mit dem geteilten Deutschland.
Auch die mythische Wasserfrau Melusine erlebt ein poetisches Comeback, ganz im Sinne der Autorin, die einmal beiläufig bemerkt hat: „Die Wahrheit ist ein Weib, aber ein Wasserweib.“
Manchmal steuern Doris Runges Gedichte unversehens auf eine schnelle Pointe zu. Aber wenn die poetische Abbreviatur gelingt, dann entstehen meisterhafte Gedichte wie die Miniatur über die tragische Figur des liebesunfähigen Narziss, der immer nur sich selbst zu lieben vermag: „am wasser / wartet narziss / dass der wind / einschläft / kein hauch / den spiegel trübt / in den er schaut / den abgrund / der ihn anschaut / mit eigenen augen“.