Dacia Maraini: "Das Mädchen und der Träumer"
Folio Verlag, Wien 2017
319 Seiten, 22 Euro
Italiens literarisches Gedächtnis
Für den Literaturnobelpreis wird Dacia Maraini schon länger gehandelt. Mit ihrem neuen Roman kommt sie dieser Auszeichnung vielleicht einen Schritt näher. In "Das Mädchen und der Träumer" geht es um Kindesentführung und die großen Fragen unserer Zeit.
Viele Kritiker sind sich einig: Wenn der nächste Literaturnobelpreis nach Italien geht, muss ihn diese Schriftstellerin bekommen: Dacia Maraini. Geboren 1936, hat sie Anfang der 1960er-Jahre begonnen zu schreiben. Ein riesiges Werk ist entstanden an Romanen, Lyrik, Theaterstücken und Essays – eine Literatur, die auch eine überzeugte, gesellschaftspolitisch engagierte Handschrift trägt. In ihrem jüngsten Roman "Das Mädchen und der Träumer" geht es um Kinderhandel und Zwangsprostitution.
Ein Schriftsteller müsse sich auch in den Kopf und das Herz eines Kindesentführers und potenziellen Kinderschänders versetzen, sagte Dacia Maraini im Deutschlandfunkkultur. "Er muss den Kopf und das Herz sprechen lassen, ohne Urteil, ohne Beurteilung, aber versuchen, sie zu verstehen."
Jährlich verschwinden Tausende
Vor allem Gewalt gegen Kinder betreffe sie, es sei eine soziale Wunde. Jährlich würden tausende Kinder in Europa verschwinden, sagte Maraini. Zwangsprostitution von Minderjährigen oder Organhandel sei ein Problem in unserer fortgeschrittenen Gesellschaft.
Der Roman handelt aber nicht nur von der Entführung eines kleinen Mädchens, sondern auch von unserer gegenwärtigen Zeit. Dazu sagte Maraini:
"Der Fundamentalismus hat vielleicht militärisch verloren, aber er gewinnt in Sachen Kultur, Sprache, Politik. Diese Vereinfachung der Realität sehe ich mir mit Horror an. Wenn man mit der Sprache der Waffen spricht, dann schweigen die anderen Worte. Das soziale Herz, die Trennung zwischen Gutem und Bösen, diese Vereinfachung ist sehr gefährlich. Die führt zu Kriegen. Die ganze Welt findet noch keine weise Antwort. Stattdessen passen sie sich der Sprache des Hasses an, statt der Sprache der Klugheit und Vernunft. Donald Trumps Antwort auf Aggression ist auch Aggression."
Eine offene Wunde
Dacia Maraini wurde mit ihrer Familie nach der Kapitulation Italiens 1943 in Japan inhaftiert. Mit sieben Jahren kam sie in ein Internierungslager. Dieses Erlebnis präge sie bis heute, sagte Maraini:
"Die Erfahrung des Konzentrationslagers ist für mich noch eine offene Wunde. Tatsache ist, dass es mir noch nicht gelungen ist, ein Buch zu schreiben, was ausschließlich über diese Erfahrung berichtet."
Mit 13 habe sie angefangen zu schreiben - so Maraini. Zunächst habe sie nur gelesen. "Es fehlte alles damals, Brot, Schuhe, Kleider, aber Bücher fehlten nicht. Es gab Bücher auf Englisch und auf Deutsch. Davon habe ich mich ernährt." So habe sie den Genuss entwickelt zu schreiben.