Die Schriftstellerin Dagny Juel

Bohémienne, erotische Ikone, Mordopfer

Gemälde einer Frau in blauem Kleid, vor blauem Hintergrund
Frei, kreativ und selbstbewusst, und doch Opfer ihres alkoholsüchtigen Ehemannes: Dagny Juel, gemalt von Edvard Munch. © picture-alliance / akg-images / Erich Lessing
Von Sven Brömsel |
Dagny Juel war die Muse Edvard Munchs. Zeitgenossen hat sie mit ihrer mysteriösen Aura in den Bann geschlagen, sie gilt noch immer als Femme Fatale. Dass sie eine emanzipierte Frau, begnadete Autorin und Pianistin war, ist so gut wie nicht bekannt.
Dagny Juel wächst mit ihren Schwestern in der Nähe von Christiania, dem heutigen Oslo, auf. Ihre Mutter stammt aus einer adligen Familie. Der Vater ist Arzt, ihr Onkel der spätere Ministerpräsident Otto Albert Blehr. Das Anwesen der Juels heißt "Rolighed", Ruhe. Der Name steht programmatisch für Tradition und Strebsamkeit sowie moralisch-gläubiges Zurückgezogensein.
Um die musischen Künste zu wecken, bekommen die Mädchen Klavierunterricht. Daneben entwickelt Dagny eine Passion für Literatur. Folgerichtig schielt die Teenagerin nach Ibsen und Strindberg, doch die sind im Hause Juel verboten, kratzen sie doch an der Ordnung bürgerlicher Werte. Nach zwei Jahren in einem Mädchenpensionat in Erfurt geben die Eltern Dagnys Wunsch nach, Musik zu studieren. Sie spielt Edvard Grieg vor. Der berühmte Komponist ist beeindruckt und prophezeit ihr eine erfolgreiche Karriere.

Bohémienne in Norwegen

Der Maler Edvard Munch führt seine Liebhaberin Dagny Juel in die avantgardistischen Kreise von Oslo ein. Norwegens Hauptstadt ist für etwas berühmt, wovor sich Juels Eltern fürchten: eine aus Hasardeuren, politisch Radikalen, Prostituierten und Kriminellen bestehende Subkultur mit Anspruch auf Künstlertum, der "Bohème". Unmäßiges Trinken sowie der Genuss von Halluzinogenen und Opiaten gehören dazu.
Trotz libertärer Gesinnung waren auch die künstlerischen Eliten eine explizit maskulin dominierte Gesellschaft. Frauen wurden in der Bohème als Modell, Muse oder Salonlöwin geschätzt; sie werden entweder angebetet oder verachtet, gehen als Heilige oder Vamp in die Werke ein, als gleichwertige Partnerin oder Kollegin werden sie aber nur selten angesehen.
Gemälde einer Frau mit nacktem Oberkörper die mit leicht geschlossenen Augen sich nach hinten beugt und umgeben ist von roten und blauen Farben.
Auch für das Bild "Madonna" nahm sich Munch Dagny Juel zum Vorbild.© imago / United Archives
Über diese mit Liebesdingen angefüllte Zeit schreibt Juel in "Dämmerung":
"Und sie dachte an all die verschiedenen duftenden Blumen ihres Lebens. Sie fühlte sie umherflattern um sich wie tausendflügelige, tausendfarbige Vögel. Alle Melodien hatten sie gesungen, alle Farben hatten sie ausgeschüttet über ihre Nächte und Tage. […] Wie jung sie damals war und wie fernab des Lebens! So fern, dass selbst ihre Sehnsucht ihm kaum nahekam. Sie sah sich selbst, den Arm voller Blumen, Kornblumen, blau wie ihr eigenes Gemüt, blau wie ihre leichtsinnige Frühlingsseele."
Edvard Munch porträtiert Dagny Juel in dieser Zeit lässig ausgestreckt liegend mit offener Bluse auf seinem Bett. Das Bild mit dem Titel "Der Tag danach" wird auch bei einer Ausstellung in Berlin gezeigt werden und sorgt dort für einen Skandal.

Ein Künstlerleben in Berlin

Juel zieht 1892 nach Berlin, ihr Klavierstudium hat sie erfolgreich abgeschlossen. Munch ist schon da und sorgt mit seinen Bildern für Aufsehen. Auch ein weiterer Skandinavier steht in Berlin für Furore: der Schwede August Strindberg. Seine Theaterstücke werden hier erfolgreich gespielt.
Munch und Strindberg freunden sich an. Doch der Maler verheimlicht seine Freundin, weiß er doch nur zu gut um ihre Wirkung in diesen Kreisen, auch um die vollkommene Enthemmung seiner Kollegen. Die versammeln sich in der Weinhandlung "Zum schwarzen Ferkel" am Brandenburger Tor.
In dieser exzentrischen Gemeinde internationaler Zecher ist Stanisław Przybyszewski der bizarrste. Mit seinen essayistischen Schriften zu Chopin und Nietzsche findet er Zugang in die künstlerisch-literarischen Kreise, er spielt so hinreißend Chopin, dass die Avantgarde in Verzückung gerät.
Er gilt als guter Liebhaber, trinkt die Bohemiens unter den Tisch, interessiert sich für Satanismus. Sein Buch "Totenmesse" ist in aller Munde. Die rhapsodische Prosa verblüfft mit philosophischen Versatzstücken, dekadenten Halluzinationen und naturwissenschaftlichen Begriffen.

Dagny Juel alias Aspasia alias Ducha

Irgendwann kommt Edvard Munch doch in Begleitung von Dagny Juel ins Schwarze Ferkel. Der 9. März 1893 schreibt sich wie eine Legende ein in das Gedächtnis der Berliner Bohème. Der Schriftsteller Adolf Paul:
"Blond, schlank, elegant, mit einem Raffinement gekleidet, das die Geschmeidigkeit des Körpers zu voller Geltung brachte, aber sorgfältig vermied, bestimmte Konturen zu geben. Ein Lächeln, das zum Küssen verführte, und dabei hinter dünnen Lippen zwei Perlenreihen scharfer Zähne, die nur auf Gelegenheit zu lauern schienen, plötzlich zuzubeißen! Und eine schlangenhafte, müde Lässigkeit der Bewegung, die aber einen blitzschnellen Angriff befürchten ließ! Aspasia wurde sie sofort genannt (in Anlehnung an die griechische Philosophin) und sie tat dem Namen Bescheid."
Fast die gesamte Truppe ist in Juel verknallt und macht nicht einmal einen Hehl daraus. Der Kunsthistoriker Julius Meier-Graefe prägt den Ausspruch: "Sie brauchte nur mit den Augen zu blinzeln, so schmolzen ganze Gletscher und verheerten die Gegend."
Bald lernt sie auch Stanisław Przybyszewski alias Stachu kennen. Die beiden werden ein Paar. Przybyszewski gibt Juel einen anderen Spitznamen, der ihr lieber als Aspasia ist: "Ducha".
Der Name hat den Vorteil, nicht von Strindberg gewählt worden zu sein. Es gibt die Überlieferung, dass Strindberg von Juel zurückgewiesen wurde. In seiner Männlichkeit gekränkt, schreibt er widerwärtige Briefe, in denen er Juel als Prostituierte verleumdet.
Sie hätte in einem Monat, wie er formuliert, vier Nationalitäten auf sich liegen gehabt: den Norweger Munch, den Schweden Strindberg, den Deutschen Schleich und den Polen Przybyszewski.
Juels öffentliches Ansehen steht auf dem Spiel. Ihren modernen Lebensprinzipien widerspricht es, eine Liebesbeziehung mit der Heirat zu krönen. Dennoch sieht sie sich zu diesem Schritt gezwungen: Im September 1893 heiratet sie den polnischen Dichter und trägt von da ab den Namen Juel-Przybyszewska.

Das Glück der Bohème

Verheiratet oder nicht, Ducha bleibt die anerkannte Königin der Bohème. Sie lernt schnell, das Geld zu verachten und - wie ihr Gatte - mit beiden Händen auszugeben. Je schneller, desto glücklicher sind sie. Ducha taumelt zwischen Theatervorstellung und Selbstinszenierung, Künstlerfest und Alkoholexzess, Schreiben und Beschriebenwerden, dass der Sinn für Realität ins Abseits gerät. In den Worten Przybyszewski:
"Lächerlich, ekelhaft, dieses satte Glück von Müller und Schulze! Können Sie nicht begreifen, daß das höchste Glück in einer Sekunde liegt? Dass es ekelhaft ist, in ewigem Glück herumzupantschen? – Was ich von Ihnen will? Zwei, drei Stunden Glück, und dann weg, weit weg! Das Glück ist schamhaft; man entehrt es, macht es unanständig, wenn man es lange genießt."
Edvard Munch hat sich aus der Gesellschaft edler Trinker zurückgezogen. Er arbeitet sich an seinem Schmerz ab, ohne die Freundschaft zu dem Paar zerbrechen zu lassen. Mit seinem Bild "Eifersucht" wird die Liebeskonstellation noch einmal verdreht.

Ein Kind und zügelloser Alkoholismus

Im September 1895 bekommt Ducha einen Sohn, Zenon. Sie liebt das Kind. Doch die glanzvollen Momente können ihre Entbehrungen und Verletzungen kaum aufwiegen. Der Alkoholismus ihres Mannes wird zügellos; das meiste Geld fällt den Trinkgelagen zum Opfer.
Noch während der Schwangerschaft erfährt Ducha, dass ihr Mann bereits Vater von drei Kindern ist. Die Mutter dieser Kinder, Marta Foerder, lebt in Berlin in ärmlichsten Verhältnissen. Im Juni 1896 begeht die erneut von Przybyszewski schwangere Frau Selbstmord.
Die furchtbare Geschichte mit Marta Foerder lässt Ducha nicht los. Sie verarbeitet diese Erfahrung literarisch. In ihrem Drama "Wenn die Sonne untergeht" nennt sie die mit ihr biografisch verzahnte Hauptfigur Ivi.
Am 5. September 1897 entbindet Dagny Juel-Przybyszewska in Norwegen ihr zweites Kind, Iwa. Eine sehr schwierige Geburt, doch der Vater gibt vor, in Berlin zu tun zu haben.
Etwas später bekommt er ein Angebot aus Polen, er soll in Krakau die Redaktion der literarischen Wochenzeitung Życie - Das Leben - übernehmen. Dort wird er euphorisch begrüßt. Ducha kommt mit den Kindern nach, auch sie wird entsprechend hofiert.
Als Initiatorin der Zeitschrift PAN schlägt sie der Krakauer Zeitschrift Życie vor, mit der ersten Nummer unter Przybyszewskis Ägide französische, skandinavische und deutsche Avantgarde vorzustellen. Ihr Vorschlag wird umgesetzt und findet große Aufmerksamkeit bei der Leserschaft. In dieser ersten Nummer werden auch ihre Gedichte gedruckt. Allerdings, ohne ihre Autorenschaft zu nennen. Der Übersetzer ihrer Werke Lars Brandt:
"Da bringt sie etwas ganz Neues ins Spiel. Sie selbst ist eine emanzipierte, unbürgerliche Frau. Die weiblichen Gestalten, die sie auf die Bühne stellt, sind wenig überraschend brav, aber sie sind eben nicht gut, sondern böse. In Juels Werk steht die Macht der Leidenschaft, die Amoralität der Gefühle im Zentrum, die sich ohne Rücksicht auf die Folgen teilweise grausam durchsetzen. Eine Grausamkeit, die ihr reales Echo im Leben der Autorin findet."

Europäische Irrfahrt mit tödlichem Ausgang

In Krakau wird die Norwegerin nicht glücklich. Wegen seiner Alkoholexzesse ist ihr Mann unfähig, für seine Familie Verantwortung zu übernehmen. Als sie im Januar 1900 erklärt, einen Schlussstrich ziehen zu wollen, verprügelt er sie, schmeißt sie aus der Wohnung und verbietet ihr, die Kinder zu sehen.
Es gelingt ihr, wenigstens ihren Sohn Zenon wieder zu bekommen. Um seine Frau erpressbar zu machen, behält Przybyszewski die kleine Iwa bei sich. Für Juel beginnt eine 14-monatige Irrfahrt zwischen Lemberg, Berlin, Lund, Kongsvinger, Stockholm, Krakau, Prag und Paris.
Dann sieht sie sich gezwungen, mit Przybyszewski in Warschau eine Einzimmerwohnung zu beziehen. Dort gibt es auch ein Wiedersehen mit Władysław Emeryk. Der junge Millionärssohn lädt sie für den Sommer in sein Haus im Kaukasus ein.
Przybyszewski lässt Emeryk mit Dagny und Sohn Zenon vorfahren. Er selbst geht zu einer Geliebten nach Lemberg. Am 23. Mai erschießt Emeryk im Grand Hotel von Tiflis Dagny Juel und sich selbst.
Die europäische Bohème hält den Atem an: Edvard Munch reagiert mit einer Radierung, auf der ein Liebespaar im Bett liegt, eine Blutlache, die sich am Boden gebildet hat, zeigt den gewaltsamen Tod an.
Stachu hingegen reagiert nicht einmal auf die Ereignisse. Er ist bereits dabei, seine Ehefrau, soweit es geht, aus seinem Leben zu streichen. Die Kinder Zenon und Iwa werden später nach Schweden geholt und von der Familie ihrer Schwester Gudrun Westrup adoptiert.

Was von ihr bleibt

Juels literarische Zeugnisse lassen sich als symbolistisch-expressionistische Nachtstücke bezeichnen. Merkwürdigerweise ist selbst eine norwegische Sammlung der literarischen Arbeiten erst 1996 ediert worden. Die nun von Lars Brandt ins Deutsche übertragenen Gedichte, Prosawerke und Stücke markieren endlich die unabhängige künstlerische Dagny Juel.

Dagny Juel: "Flügel in Flammen"
Gesammelte Werke
Weidle Verlag, Bonn 2019
176 Seiten, 20 Euro

Eine Produktion von Deutschlandfunk/Deutschlandfunk Kultur 2021. Das Skript zur Sendung finden Sie hier.
Mehr zum Thema