"Die Schulen sollten die Macht haben"
Der Schriftsteller Richard David Precht will die Macht der Kultusminister in der Schulpolitik deutlich beschneiden. Generell fordert Precht eine umfassende Schulreform, die den "Flickenteppich" von kleinen Reformen zusammenfasst. Das "Bulimie-Lernen" müsse aufhören.
Christine Watty: In Diskussionen um das deutsche Schulsystem gibt es meist – vor allem unter Eltern – nur Sätze, die mit empörten Ausrufezeichen enden, weil die individuellen Zustände kritisiert werden, oder Sätze, die mit Fragezeichen enden und eigentlich alle irgendwie lauten: Warum ist das so und wie kann es endlich besser werden in der Schule?
Der Philosoph Richard David Precht hat in seinem Buch beides zusammengebracht, die Fragezeichen zum Thema Schulsystem in Deutschland und auch gleich noch die – in seinem Fall – dick unterstrichenen Antworten und dann Forderungen, man kann sagen, mit mehreren Ausrufezeichen. Denn Precht ruft zu einer Revolution auf. Mindestens soll sein Buch "Anna, die Schule und der liebe Gott" eine Bewegung mit anführen. Vor der Sendung habe ich Richard David Precht gesprochen und ihn zuerst gefragt: Was für eine Schule, Herr Precht, soll denn am Ende dieser Bewegung stehen?
Richard David Precht: Also zunächst einmal, das soll nicht der Beginn einer Bewegung sein, sondern es gibt mittlerweile eine internationale Bewegung, die sich das Ziel gesetzt hat, dass man die Schule neu denken soll, nämlich vom Kind her denken und nicht von der Institution, und die das einbeziehen soll, was Lernen eigentlich heißt und bedeutet, worüber wir heute viel besser Bescheid wissen als in früheren Zeiten.
Watty: Dann werden wir doch gleich konkret: Was hat sich denn diese Bewegung vorgenommen, und was ergänzen Sie?
Precht: Ich sagte ja gerade, das Ziel ist, vom Kind auszugehen. Das ist völlig neu. Das hat es natürlich in der einen oder anderen reformpädagogischen Strömung schon gegeben, aber flächendeckend ist das nie umgesetzt worden.
Das Grundmodell, nach dem unsere Schulen funktionieren, ist mehr als 100 Jahre alt, das stammt aus dem Wilhelminismus, also aus dem preußischen Kaiserreich, und unsere Schulen hatten die Funktion, gut angepasste Untertanen hervorzubringen, die man als Facharbeiter gebrauchen konnte. Und deswegen haben wir Jahrgangsklassen, deswegen haben wir 45-Minuten-Taktung, deswegen haben wir Ziffernzensuren – das ist alles mal zu diesem Zweck eingeführt worden.
Nun sind wir uns heute alle einig, auch mit Schulleitern und Lehrern, dass die Funktion von Schulen heute nicht mehr darin besteht, staatstragende Untertanen hervorzubringen, die möglichst keine eigene Meinung haben, sondern wunderbar Dienst nach Vorschrift machen, aber wir haben Strukturelemente noch immer in unseren Schulen wie die, die ich genannt habe – 45-Minuten-Taktung und Ziffernsystem –, die aus dieser Zeit stammen. Und die müssen wir abschaffen, und die müssen wir durch etwas Zeitgenössisches ersetzen, das aus der Kinderpsychologie und aus der Lerntheorie abgeleitet ist.
Watty: Das heißt aber, es geht wirklich vor allem wirklich um die Strukturelemente und gar nicht auch um die inhaltlichen Ansätze, die Sie auch in Ihrem Buch aufnehmen – Selbstbewertungssysteme in den Schulen beispielsweise –, also Dinge, die natürlich schon längst stattfinden?
Precht: Also es ist so, dass in Deutschland das eine oder andere längst stattfindet, wie Sie sagen, aber nicht flächendeckend und auch nicht auf ein Ziel hin. Wir haben in den letzten zehn Jahren eine Menge von kleinen Reformen erlebt, aber es ist nie ein richtiger Wurf geworden. Und das liegt daran, dass auch kein Ziel da war: Man hat gedacht, Lernen lernen wird in einer zukünftigen Gesellschaft wichtig sein, da richten wir doch mal ein Fach ein, Lernen lernen. Dann hat man erfahren, Kinder lernen besser in Projekten, wenn sie den Sinn einer Sache verstehen, dann machen wir mal ein Projekt.
Aber alles das ist Flickwerk, wir brauchen gar keine Fächer in der Schule, wir können alles durch individuelles Lernen auf der einen Seite und durch Projekte auf der anderen Seite machen, kurz gesagt, wir haben von den richtigen Einsichten immer nur ein ganz kleines Stück realisiert und einen Flickenteppich produziert. Und ich würde gerne, dass wir das, was wir an Einsichten gewonnen haben, dass wir das mal in einem Wurf versuchen darzustellen.
Watty: Ihnen wurde schon in der "Zeit" vom Hamburger Schulsenator Ties Rabe heftig widersprochen: Es sei unmöglich und vor allem sehr unrealistisch, eben diese Pläne aus diesem Flickenteppich, den großen Wurf zu machen, dieses große Schulsystem könne man so nicht renovieren quasi. Was entgegnen Sie ihm? Also ist es wirklich realistisch, aus dem Flickenteppich eine große Sache zu machen, und das auch noch in nächster Zeit?
Precht: Ja, das ist völlig realistisch, wenn es solche Leute wie Herrn Rabe nicht mehr gäbe. Das ist in Deutschland deswegen nicht möglich, weil die Macht über die Schulen bei den Kultusministerien liegt. Da haben wir 16 verschiedene Schulminister und Kultusminister, und der Grund, warum die Bildungsrevolution nicht geht, ist, dass Herr Rabe in einer Position ist, in der er gar nicht sein sollte, sondern die Schulen sollten die Macht haben. Die Schulleiter sollten sagen, wir würden gerne mal das einführen, wir würden gerne das machen, in Richtung Aufbesserer auf andere Schulen.
Das heißt, ich würde ganz viel Macht und Kreativität den Schulen selber geben und den Kultusministern wegnehmen. Und der Bund müsste die zentralen Rahmenbedingungen formulieren, was er übrigens gegenwärtig nicht darf – der Bund hat in der Schulpolitik überhaupt nichts mehr verloren seit dem Kooperationsverbot – der müsste also grundlegende Dinge wie Schulformen zum Beispiel, Bildungsminima, so was muss der Bund definieren. Und dann müssen die Schulleiter nach ihren Möglichkeiten, auch nach ihren sozialen Voraussetzungen – die sehen natürlich in einem reichen Vorort ganz anders aus als in einem sozialen Brennpunkt, die Möglichkeit haben, das umzusetzen.
Und dafür müssen wir die Ebene der Kultusminister deutlich beschneiden, und deswegen kann Herr Rabe nur gegen meine Vorschläge sein, er ist das Problem, für dessen Lösung er sich hält.
Watty: Herr Rabe sagt ja auch, Sie seien auch in einer Position, in der Sie eigentlich nicht sein dürften, denn Sie seien ein typischer Sofakritiker, und Ihnen wird nicht nur von Herrn Rabe widersprochen, sondern auch andere kommen jetzt mit Studien, die natürlich beweisen, dass das deutsche Schulsystem besser geworden sein muss, weil die Kinder und Jugendlichen aus Deutschland im internationalen Vergleich viel, viel besser dastehen. Was glauben Sie denn, woher das kommt, dass man Ihnen so gerne jetzt widersprechen möchte?
Precht: Ja, gut, also zwei Punkte, Studien sind die eine Sache, die Sofakritik, das andere. Was die Studien anbelangt: Qualität in der Schule kann man nicht messen – ich habe fünf Jahre am Lehrstuhl für Schulpädagogik eben solches versucht, und ich kann Ihnen ganz ehrlich sagen: 90 Prozent von dem, was PISA glaubt, an Qualität zu messen, ist alles Unsinn. Ob ein Kind sich zu einer Persönlichkeit in der Schule entfaltet, ob es teamfähig geworden ist, ob es Führungsqualitäten entwickelt, das sind alles Dinge, auf die es später im Leben ankommt, die können Sie alle nicht messen. Sie können ein paar Rechtschreibfehler messen oder ein paar Mathegrundkenntnisse, das bedeutet im Hinblick auf das gesamte Schulgeschehen gar nichts. Also diese Studien sind eigentlich wertlos.
Aber das wichtigere Thema ist ja die Sofakritik: Sehen Sie mal, aller großer Fortschritt in der westlichen Zivilisation wurde von philosophierenden Sofakritikern gemacht. Die Erfindung der Demokratie wurde nicht von Praktikern gemacht, sondern von Philosophen, die Erklärung der Menschenrechte ist das Werk von Philosophen und nicht von Politikern. Wenn Sie die ganze liberale Bewegung, die ganze Reform des Kapitalismus, alles, was daraus hervorgegangen ist, die libertinären Entwicklungen, Gleichberechtigungsvorstellungen, Gewaltenteilungen – alles das, was unsere Gesellschaft heute ausmacht –, ist das Werk von philosophierenden Sofakritikern. Aber ich kenne nicht eine nennenswerte positive gesellschaftliche Umwälzung, die je von einem Kultusminister ausgegangen wäre.
Watty: Richard David Precht über ein neues deutsches Schulsystem. Jetzt haben Sie gerade gesagt, die ganzen Studien bringen uns überhaupt nichts, und tatsächlich, der Sofakritiker, in diesem Fall der Philosoph, steht für die große Veränderung. Aber da müssen Sie noch mal kurz erklären, woher denn dann Ihr Blick, Ihr düsterer Blick auf das deutsche Schulsystem kommt. Also wir können das nicht an Studien festmachen, wie können wir dann feststellen, dass es so tatsächlich nicht gut ist?
Precht: Also was wir an Studien feststellen können, das sind soziale Dinge. Das ist ja nicht schwer, wenn Sie gucken, wie viele Arbeiterkinder schaffen es auf ein Gymnasium, wie viele Arbeiterkinder studieren, da können Sie empirische Untersuchungen machen, die sind absolut sinnvoll.
Was Sie empirisch nicht einfangen können, ist die Qualität von Schulen im Hinblick auf das, was die Aufgabe von Schulen ist. Es ist ja nicht nur die Aufgabe von Schulen, Fachwissen bereitzustellen, sondern Kinder auf die Zukunft vorzubereiten, und da gehören ganz, ganz viele persönliche Dinge, die sie alle auf diese Art und Weise nicht erfassen können.
Die Schulen in Deutschland sind deswegen schlecht, weil von dem, was wir lernen, fast nichts hängenbleibt, weil wir falsch lernen – das ist der Haupteinwand gegen die deutschen Schulen. Das heißt, von dem, was Sie in der Schule gelernt haben, wissen Sie wahrscheinlich nicht mal mehr ein Prozent. Wenn ich Sie jetzt frage: Zu welcher Wortgruppe gehört "manche"? Das ist Grammatik fünftes Schuljahr. Wenn ich Sie jetzt frage: Was ist die Goldene Bulle? Das ist Geschichtsunterricht siebtes Schuljahr. Das wissen Sie nicht mehr. Das Ohmsche Gesetz haben Sie schon mal gehört, können Sie aber im Zweifelsfall nicht anwenden, und so weiter, und so weiter. Das heißt, Sie haben die ganze Zeit nur Bulimie-Lernen gemacht: Sie haben kurz für eine Klausur oder einen Test was gelernt, und dann haben Sie es wieder vergessen.
Warum beschäftigen wir unsere Kinder jahrelang in der Schule, und am Ende bleibt von alldem nur ein oder zwei Prozent übrig? Das ist ein furchtbares Ergebnis, und da möchte ich ansetzen und sagen: Wenn man auf Sinnhorizonte hin lernt, wenn man weniger effektiver lernt, wenn man es mit neuen und anderen Methoden lernt, dann bleibt auch mehr hängen.
Watty: Jetzt sind Sie aber natürlich nicht der Erste, der festgestellt hat, dass im deutschen Schulsystem alles mögliche falsch läuft, und es gibt ja viele Schulvisionen, Schulreformen, Reformpädagogik, und auch die Pädagogen wissen Bescheid, dass sich alles Mögliche ändern muss, und leiden im Zweifel auch unter den immer wieder neu ins Leben gerufenen kleineren und größeren Reformen. Ist es da nicht auch nachvollziehbar, wenn die Lehrer vielleicht sich auch eher eine Unterstützung wünschen, statt dass noch mal jemand kommt und sagt, es muss wieder alles ganz, ganz anders werden? Sollte man nicht Schulen und Schüler auch versuchen, zu stärken, statt von allen Ecken daran zu ziehen?
Precht: Das ist doch genau das, was ich mache, die Unterstützung. Alles, was ich mache, geht darauf hin, den Lehrern die Arbeit zu erleichtern und effektiver zu machen, und den Schülern auch.
Ich schlage vor, dass Lehrer die Chance haben müssen, im Team zu unterrichten. Ich schlage vor, dass Lehrer alle vier Jahre mal eine Auszeit bekommen, in der sie die Batterien auftanken können, sich inspirieren lassen, was dann wieder seinen Niederschlag in neuen Projekten findet, ich will die Unterrichtsstundenzahl für Lehrer reduzieren. Ich will Lehrern Praktiker an die Seite stellen aus dem täglichen Leben – kurz gesagt, ich will richtig Leben, Kreativität, ja, einen viel abwechslungsreicheren Job aus dem Lehrerberuf machen. Nichts von dem, was ich sage, ist gegen den Lehrer gerichtet. Alles, was ich vorschlage, schlage ich für die Lehrer vor.
Watty: Dann stellen wir uns zum Abschluss vor, es könnte direkt losgehen. Wie wollen Sie das umsetzen, Ihre Pläne für ein neues deutsches Schulsystem, und zwar konkret? Was würde jetzt passieren, wenn es nach Ihnen ginge?
Precht: Wenn es nach mir gehen würde, würde es darum gehen, dass die Kultusministerkonferenz sich darauf einigt, wichtige Kompetenzen an die Gemeinden zu geben, beziehungsweise an die Schulen und die Schulleiter, und das endlich einzusehen. Also das wäre, diese Einsicht, wäre natürlich großartig, und die kommt dann zustande, wenn ein entsprechender gesellschaftlicher Druck ist, und das allererste, was wir mal ändern, ist die Lehrerausbildung, diese Tonnen von Fachdidaktik, die nie jemand braucht, ersetzen durch eine wirkliche praktische, den psychologischen Herausforderungen des Berufs entsprechende akademische Ausbildung an einer Akademie – einer Akademie, die nach dem Motto einer Kunsthochschule oder einer Schauspielschule gestaltet ist, dann kriegen Sie ganz schnell ganz, ganz andere Leute, die Lehrer werden wollen.
Watty: Sie haben noch den gesellschaftlichen Druck erwähnt. Kriegen wir den zustande oder haben wir nicht vielleicht doch auch als Gesellschaft einfach auch das Schulsystem, das wir verdienen?
Precht: Ich glaube, wir kriegen ihn zustande, weil es, wie ich vorhin sagte, Teil einer internationalen Bewegung ist, und weil Sie bestimmte Emanzipationsbewegungen nicht aufhalten können. Sie können das ganz gut vergleichen mit der Emanzipation der Frau: Gucken Sie mal, in den 60er-Jahren konnten Sie als Frau ohne Unterschrift Ihres Gatten kein Konto eröffnen oder Mietvertrag unterschreiben. Und gucken Sie mal, wo die Frauen heute stehen, 90 Prozent der Strecke ist gemacht. Ich weiß, da fehlen noch 10 Prozent, aber 90 Prozent ist gemacht. Solche libertinären Bewegungen des gesellschaftlichen Fortschritts lassen sich nicht aufhalten, und alles, was jetzt dagegen gesagt wird, sind Versuche, mit der Luftpumpe die Windrichtung zu ändern.
Watty: Richard David Precht über ein neues Schulsystem, das er sich wünscht, und auch in seinem Buch "Anna, die Schule und der liebe Gott" beschreibt. Vielen Dank für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Programmtipp:
Hören Sie um 16.07 Uhr bei uns im Radiofeuilleton die Replik auf Prechts Thesen von Josef Kraus, Vorsitzender des Deutschen Lehrerverbandes.
Der Philosoph Richard David Precht hat in seinem Buch beides zusammengebracht, die Fragezeichen zum Thema Schulsystem in Deutschland und auch gleich noch die – in seinem Fall – dick unterstrichenen Antworten und dann Forderungen, man kann sagen, mit mehreren Ausrufezeichen. Denn Precht ruft zu einer Revolution auf. Mindestens soll sein Buch "Anna, die Schule und der liebe Gott" eine Bewegung mit anführen. Vor der Sendung habe ich Richard David Precht gesprochen und ihn zuerst gefragt: Was für eine Schule, Herr Precht, soll denn am Ende dieser Bewegung stehen?
Richard David Precht: Also zunächst einmal, das soll nicht der Beginn einer Bewegung sein, sondern es gibt mittlerweile eine internationale Bewegung, die sich das Ziel gesetzt hat, dass man die Schule neu denken soll, nämlich vom Kind her denken und nicht von der Institution, und die das einbeziehen soll, was Lernen eigentlich heißt und bedeutet, worüber wir heute viel besser Bescheid wissen als in früheren Zeiten.
Watty: Dann werden wir doch gleich konkret: Was hat sich denn diese Bewegung vorgenommen, und was ergänzen Sie?
Precht: Ich sagte ja gerade, das Ziel ist, vom Kind auszugehen. Das ist völlig neu. Das hat es natürlich in der einen oder anderen reformpädagogischen Strömung schon gegeben, aber flächendeckend ist das nie umgesetzt worden.
Das Grundmodell, nach dem unsere Schulen funktionieren, ist mehr als 100 Jahre alt, das stammt aus dem Wilhelminismus, also aus dem preußischen Kaiserreich, und unsere Schulen hatten die Funktion, gut angepasste Untertanen hervorzubringen, die man als Facharbeiter gebrauchen konnte. Und deswegen haben wir Jahrgangsklassen, deswegen haben wir 45-Minuten-Taktung, deswegen haben wir Ziffernzensuren – das ist alles mal zu diesem Zweck eingeführt worden.
Nun sind wir uns heute alle einig, auch mit Schulleitern und Lehrern, dass die Funktion von Schulen heute nicht mehr darin besteht, staatstragende Untertanen hervorzubringen, die möglichst keine eigene Meinung haben, sondern wunderbar Dienst nach Vorschrift machen, aber wir haben Strukturelemente noch immer in unseren Schulen wie die, die ich genannt habe – 45-Minuten-Taktung und Ziffernsystem –, die aus dieser Zeit stammen. Und die müssen wir abschaffen, und die müssen wir durch etwas Zeitgenössisches ersetzen, das aus der Kinderpsychologie und aus der Lerntheorie abgeleitet ist.
Watty: Das heißt aber, es geht wirklich vor allem wirklich um die Strukturelemente und gar nicht auch um die inhaltlichen Ansätze, die Sie auch in Ihrem Buch aufnehmen – Selbstbewertungssysteme in den Schulen beispielsweise –, also Dinge, die natürlich schon längst stattfinden?
Precht: Also es ist so, dass in Deutschland das eine oder andere längst stattfindet, wie Sie sagen, aber nicht flächendeckend und auch nicht auf ein Ziel hin. Wir haben in den letzten zehn Jahren eine Menge von kleinen Reformen erlebt, aber es ist nie ein richtiger Wurf geworden. Und das liegt daran, dass auch kein Ziel da war: Man hat gedacht, Lernen lernen wird in einer zukünftigen Gesellschaft wichtig sein, da richten wir doch mal ein Fach ein, Lernen lernen. Dann hat man erfahren, Kinder lernen besser in Projekten, wenn sie den Sinn einer Sache verstehen, dann machen wir mal ein Projekt.
Aber alles das ist Flickwerk, wir brauchen gar keine Fächer in der Schule, wir können alles durch individuelles Lernen auf der einen Seite und durch Projekte auf der anderen Seite machen, kurz gesagt, wir haben von den richtigen Einsichten immer nur ein ganz kleines Stück realisiert und einen Flickenteppich produziert. Und ich würde gerne, dass wir das, was wir an Einsichten gewonnen haben, dass wir das mal in einem Wurf versuchen darzustellen.
Watty: Ihnen wurde schon in der "Zeit" vom Hamburger Schulsenator Ties Rabe heftig widersprochen: Es sei unmöglich und vor allem sehr unrealistisch, eben diese Pläne aus diesem Flickenteppich, den großen Wurf zu machen, dieses große Schulsystem könne man so nicht renovieren quasi. Was entgegnen Sie ihm? Also ist es wirklich realistisch, aus dem Flickenteppich eine große Sache zu machen, und das auch noch in nächster Zeit?
Precht: Ja, das ist völlig realistisch, wenn es solche Leute wie Herrn Rabe nicht mehr gäbe. Das ist in Deutschland deswegen nicht möglich, weil die Macht über die Schulen bei den Kultusministerien liegt. Da haben wir 16 verschiedene Schulminister und Kultusminister, und der Grund, warum die Bildungsrevolution nicht geht, ist, dass Herr Rabe in einer Position ist, in der er gar nicht sein sollte, sondern die Schulen sollten die Macht haben. Die Schulleiter sollten sagen, wir würden gerne mal das einführen, wir würden gerne das machen, in Richtung Aufbesserer auf andere Schulen.
Das heißt, ich würde ganz viel Macht und Kreativität den Schulen selber geben und den Kultusministern wegnehmen. Und der Bund müsste die zentralen Rahmenbedingungen formulieren, was er übrigens gegenwärtig nicht darf – der Bund hat in der Schulpolitik überhaupt nichts mehr verloren seit dem Kooperationsverbot – der müsste also grundlegende Dinge wie Schulformen zum Beispiel, Bildungsminima, so was muss der Bund definieren. Und dann müssen die Schulleiter nach ihren Möglichkeiten, auch nach ihren sozialen Voraussetzungen – die sehen natürlich in einem reichen Vorort ganz anders aus als in einem sozialen Brennpunkt, die Möglichkeit haben, das umzusetzen.
Und dafür müssen wir die Ebene der Kultusminister deutlich beschneiden, und deswegen kann Herr Rabe nur gegen meine Vorschläge sein, er ist das Problem, für dessen Lösung er sich hält.
Watty: Herr Rabe sagt ja auch, Sie seien auch in einer Position, in der Sie eigentlich nicht sein dürften, denn Sie seien ein typischer Sofakritiker, und Ihnen wird nicht nur von Herrn Rabe widersprochen, sondern auch andere kommen jetzt mit Studien, die natürlich beweisen, dass das deutsche Schulsystem besser geworden sein muss, weil die Kinder und Jugendlichen aus Deutschland im internationalen Vergleich viel, viel besser dastehen. Was glauben Sie denn, woher das kommt, dass man Ihnen so gerne jetzt widersprechen möchte?
Precht: Ja, gut, also zwei Punkte, Studien sind die eine Sache, die Sofakritik, das andere. Was die Studien anbelangt: Qualität in der Schule kann man nicht messen – ich habe fünf Jahre am Lehrstuhl für Schulpädagogik eben solches versucht, und ich kann Ihnen ganz ehrlich sagen: 90 Prozent von dem, was PISA glaubt, an Qualität zu messen, ist alles Unsinn. Ob ein Kind sich zu einer Persönlichkeit in der Schule entfaltet, ob es teamfähig geworden ist, ob es Führungsqualitäten entwickelt, das sind alles Dinge, auf die es später im Leben ankommt, die können Sie alle nicht messen. Sie können ein paar Rechtschreibfehler messen oder ein paar Mathegrundkenntnisse, das bedeutet im Hinblick auf das gesamte Schulgeschehen gar nichts. Also diese Studien sind eigentlich wertlos.
Aber das wichtigere Thema ist ja die Sofakritik: Sehen Sie mal, aller großer Fortschritt in der westlichen Zivilisation wurde von philosophierenden Sofakritikern gemacht. Die Erfindung der Demokratie wurde nicht von Praktikern gemacht, sondern von Philosophen, die Erklärung der Menschenrechte ist das Werk von Philosophen und nicht von Politikern. Wenn Sie die ganze liberale Bewegung, die ganze Reform des Kapitalismus, alles, was daraus hervorgegangen ist, die libertinären Entwicklungen, Gleichberechtigungsvorstellungen, Gewaltenteilungen – alles das, was unsere Gesellschaft heute ausmacht –, ist das Werk von philosophierenden Sofakritikern. Aber ich kenne nicht eine nennenswerte positive gesellschaftliche Umwälzung, die je von einem Kultusminister ausgegangen wäre.
Watty: Richard David Precht über ein neues deutsches Schulsystem. Jetzt haben Sie gerade gesagt, die ganzen Studien bringen uns überhaupt nichts, und tatsächlich, der Sofakritiker, in diesem Fall der Philosoph, steht für die große Veränderung. Aber da müssen Sie noch mal kurz erklären, woher denn dann Ihr Blick, Ihr düsterer Blick auf das deutsche Schulsystem kommt. Also wir können das nicht an Studien festmachen, wie können wir dann feststellen, dass es so tatsächlich nicht gut ist?
Precht: Also was wir an Studien feststellen können, das sind soziale Dinge. Das ist ja nicht schwer, wenn Sie gucken, wie viele Arbeiterkinder schaffen es auf ein Gymnasium, wie viele Arbeiterkinder studieren, da können Sie empirische Untersuchungen machen, die sind absolut sinnvoll.
Was Sie empirisch nicht einfangen können, ist die Qualität von Schulen im Hinblick auf das, was die Aufgabe von Schulen ist. Es ist ja nicht nur die Aufgabe von Schulen, Fachwissen bereitzustellen, sondern Kinder auf die Zukunft vorzubereiten, und da gehören ganz, ganz viele persönliche Dinge, die sie alle auf diese Art und Weise nicht erfassen können.
Die Schulen in Deutschland sind deswegen schlecht, weil von dem, was wir lernen, fast nichts hängenbleibt, weil wir falsch lernen – das ist der Haupteinwand gegen die deutschen Schulen. Das heißt, von dem, was Sie in der Schule gelernt haben, wissen Sie wahrscheinlich nicht mal mehr ein Prozent. Wenn ich Sie jetzt frage: Zu welcher Wortgruppe gehört "manche"? Das ist Grammatik fünftes Schuljahr. Wenn ich Sie jetzt frage: Was ist die Goldene Bulle? Das ist Geschichtsunterricht siebtes Schuljahr. Das wissen Sie nicht mehr. Das Ohmsche Gesetz haben Sie schon mal gehört, können Sie aber im Zweifelsfall nicht anwenden, und so weiter, und so weiter. Das heißt, Sie haben die ganze Zeit nur Bulimie-Lernen gemacht: Sie haben kurz für eine Klausur oder einen Test was gelernt, und dann haben Sie es wieder vergessen.
Warum beschäftigen wir unsere Kinder jahrelang in der Schule, und am Ende bleibt von alldem nur ein oder zwei Prozent übrig? Das ist ein furchtbares Ergebnis, und da möchte ich ansetzen und sagen: Wenn man auf Sinnhorizonte hin lernt, wenn man weniger effektiver lernt, wenn man es mit neuen und anderen Methoden lernt, dann bleibt auch mehr hängen.
Watty: Jetzt sind Sie aber natürlich nicht der Erste, der festgestellt hat, dass im deutschen Schulsystem alles mögliche falsch läuft, und es gibt ja viele Schulvisionen, Schulreformen, Reformpädagogik, und auch die Pädagogen wissen Bescheid, dass sich alles Mögliche ändern muss, und leiden im Zweifel auch unter den immer wieder neu ins Leben gerufenen kleineren und größeren Reformen. Ist es da nicht auch nachvollziehbar, wenn die Lehrer vielleicht sich auch eher eine Unterstützung wünschen, statt dass noch mal jemand kommt und sagt, es muss wieder alles ganz, ganz anders werden? Sollte man nicht Schulen und Schüler auch versuchen, zu stärken, statt von allen Ecken daran zu ziehen?
Precht: Das ist doch genau das, was ich mache, die Unterstützung. Alles, was ich mache, geht darauf hin, den Lehrern die Arbeit zu erleichtern und effektiver zu machen, und den Schülern auch.
Ich schlage vor, dass Lehrer die Chance haben müssen, im Team zu unterrichten. Ich schlage vor, dass Lehrer alle vier Jahre mal eine Auszeit bekommen, in der sie die Batterien auftanken können, sich inspirieren lassen, was dann wieder seinen Niederschlag in neuen Projekten findet, ich will die Unterrichtsstundenzahl für Lehrer reduzieren. Ich will Lehrern Praktiker an die Seite stellen aus dem täglichen Leben – kurz gesagt, ich will richtig Leben, Kreativität, ja, einen viel abwechslungsreicheren Job aus dem Lehrerberuf machen. Nichts von dem, was ich sage, ist gegen den Lehrer gerichtet. Alles, was ich vorschlage, schlage ich für die Lehrer vor.
Watty: Dann stellen wir uns zum Abschluss vor, es könnte direkt losgehen. Wie wollen Sie das umsetzen, Ihre Pläne für ein neues deutsches Schulsystem, und zwar konkret? Was würde jetzt passieren, wenn es nach Ihnen ginge?
Precht: Wenn es nach mir gehen würde, würde es darum gehen, dass die Kultusministerkonferenz sich darauf einigt, wichtige Kompetenzen an die Gemeinden zu geben, beziehungsweise an die Schulen und die Schulleiter, und das endlich einzusehen. Also das wäre, diese Einsicht, wäre natürlich großartig, und die kommt dann zustande, wenn ein entsprechender gesellschaftlicher Druck ist, und das allererste, was wir mal ändern, ist die Lehrerausbildung, diese Tonnen von Fachdidaktik, die nie jemand braucht, ersetzen durch eine wirkliche praktische, den psychologischen Herausforderungen des Berufs entsprechende akademische Ausbildung an einer Akademie – einer Akademie, die nach dem Motto einer Kunsthochschule oder einer Schauspielschule gestaltet ist, dann kriegen Sie ganz schnell ganz, ganz andere Leute, die Lehrer werden wollen.
Watty: Sie haben noch den gesellschaftlichen Druck erwähnt. Kriegen wir den zustande oder haben wir nicht vielleicht doch auch als Gesellschaft einfach auch das Schulsystem, das wir verdienen?
Precht: Ich glaube, wir kriegen ihn zustande, weil es, wie ich vorhin sagte, Teil einer internationalen Bewegung ist, und weil Sie bestimmte Emanzipationsbewegungen nicht aufhalten können. Sie können das ganz gut vergleichen mit der Emanzipation der Frau: Gucken Sie mal, in den 60er-Jahren konnten Sie als Frau ohne Unterschrift Ihres Gatten kein Konto eröffnen oder Mietvertrag unterschreiben. Und gucken Sie mal, wo die Frauen heute stehen, 90 Prozent der Strecke ist gemacht. Ich weiß, da fehlen noch 10 Prozent, aber 90 Prozent ist gemacht. Solche libertinären Bewegungen des gesellschaftlichen Fortschritts lassen sich nicht aufhalten, und alles, was jetzt dagegen gesagt wird, sind Versuche, mit der Luftpumpe die Windrichtung zu ändern.
Watty: Richard David Precht über ein neues Schulsystem, das er sich wünscht, und auch in seinem Buch "Anna, die Schule und der liebe Gott" beschreibt. Vielen Dank für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Programmtipp:
Hören Sie um 16.07 Uhr bei uns im Radiofeuilleton die Replik auf Prechts Thesen von Josef Kraus, Vorsitzender des Deutschen Lehrerverbandes.