Scharfe Kritik an Einwanderungspolitik
Wütende Protestchöre von Flüchtlingen gegen das ohnmächtige Schweigen der Mehrheitsgesellschaft: "Die Schutzbefohlenen" nach einem Text von Elfriede Jelinek ist das Stück der Stunde. Die Theater in Göttingen, Leipzig und Kassel loten die Möglichkeiten des Textes aus.
Wann hat sich wohl die Wirklichkeit jemals so schnell so radikal verändert und die Realitäten der Kunst überholt? Noch bis zum Feuer-Terror rechter Banditen unter dem Beifall braver Bürger im sächsischen Heidenau (das war im August!) passte Elfriede Jelineks kollektiver Verzweiflungsschrei der Geflüchteten ideal und brandaktuell ins politische Klima – im wie immer ohne konkrete Rollen-Zuweisung als Gardinenpredigt aus ganz viel Fließtext gefertigten Stück riefen die Geflüchteten solo und im Chor den eigenen Jammer in die wohlhabende, selbstzufriedene Euro-Welt.
Wie die (damals vor allem noch aus Afrikas Armut) Geflüchteten, die vor bald drei Jahren die Votiv-Kirche am Karlsplatz in Wien besetzt hatten - daran hatte sich der recht spezielle Wiener Skandal entzündet, den Jelinek engagiert und polemisch kommentierte.
"Die Schutzbefohlenen" klagen an
Ganz plötzlich aber, kurz nach Heidenau, war nun fast alles ganz anders. Die Flucht wuchs an zur modernen Völkerwanderung - aber die deutsche wie Jelineks österreichische Mehrheitsgesellschaft schien sich nicht überbieten lassen zu wollen an Hilfsbereitschaft.
Zwar ist die Politik längst in den Tiefen der Ebene angekommen, der Streit um Obergrenzen wie der tiefbraune Pegida-Sumpf von Dresden stützen nun wieder Jelineks Suada (die ja auch eine Art Kampfansage ist!), aber nach dem goldenen deutschen Hilfe-Herbst klingt die Angriffslust der "Schutzbefohlenen" auf deutschen Bühnen nun auch ein bisschen sonderbar.
So viel haben wir nun getan, könnte der Kurz-Schluss des Publikums jetzt lauten, und sie sind immer noch nicht zufrieden! Denn "Die Schutzbefohlenen" klagen vor allem an. Und zwar uns.
"Ja, Sie sind gemeint! Wir beten zu Euch ..."
Und sie wissen, wie wir vielleicht schon jetzt, bestimmt aber in absehbarer Frist denken werden:
"... und wenn sie erst mal da sind, liegen sie uns auf der Tasche! Das werden wir verhindern – und schon verhindern wir es ..."
Hier spricht das Ensemble am Deutschen Theater Göttingen. Vollzählig ist es versammelt in der Inszenierung von Intendant Erich Sidler. Der hat ganz auf die Wirkung dieser Menge Mensch gesetzt: In armseliger Einheitskleidung lässt er die Göttinger Truppe mal solistisch, mal (und vor allem am Ende) im bühnenfüllenden Chor durch Jelineks Pandämonium der verweigerten Menschenwürde rasen.
Deswegen, nicht irgendwelcher interpretatorischer Hintergründe und kluger Umwege wegen, hat Sidlers kollektive Kraftanstrengung am Beginn der Spielzeit überzeugt – und auch weil, sie sich Zeit und Ruhe lässt für die wichtigsten Sätze.
"Was anderes als die Menschenwürde bleibt es denn noch übrig?"
Aber dieser so einfache Gedanke verliert ja gerade wieder an Boden. Das Leipziger Schauspiel hatte eine sinnvolle Zusatzidee: Sie stellte der Bemühung um Jelinek das antike Original voran: "Die Hiketiden", die Flucht-Fabel von Aischylos, an deren Ende ein Politiker gegen das eigene Recht "pro Asyl" entscheidet und sogar das eigene Volk davon überzeugt.
Dieser Teil der Spielzeit-Eröffnung, auch in Leipzig vom Intendanten inszeniert, ist sehr stark geraten; aber Enrico Lübbe vertingeltangelt im Anschluss gründlich den Jelinek-Part. Dass Leipziger Bürger als Statisten das Finale bestreiten, ist in Sachsen allerdings ein kraftvolles Zeichen: für die Vernunft.
Geschwächt durch Jelinek-typisches Gewitzel
"Wir sind angekommen – aber wir sind gar nicht da!"
Nach Göttingen und Leipzig kommen "Die Schutzbefohlenen" auch noch in Kassel an; und Philip Rosendahl gelingt dort in einem zwanghaften Bühnenkasten voller Kirchenbänke eine klaustrophobische, psychologisch schmerzhafte Selbsterforschung der Betroffenen selbst. Merkwürdig überholt allerdings klingt der Text auch hier, geschwächt durch Jelinek-typisches Gewitzel sowieso - und er verliert an Kraft durch ein Detail, das niemand, das keine Regie verabschieden mochte, und das nur in Wien selbst, in Michael Thalheimers Burgtheater-Inszenierung, wirklich funktionierte: als lokale Pointe.
Jelinek führt nämlich auch eine Tochter des russischen Ex-Präsidenten Boris Jelzin und die Sängerin Anna Netrebko ins Feld, die sich die Einbürgerung in Österreich schlicht kaufen konnten. Ohne Extra-Erklärung versteht das weit weg von Wien letztlich niemand – nicht in Göttingen, nicht in Leipzig, nicht in Kassel; wie zuvor auch nicht in Bremen.
Jede Produktion darf sich doch den eigenen Jelinek-Text selber zurecht schnitzen, das lässt die Autorin ausdrücklich zu: Warum hat sich hier keiner zu kürzen getraut?