Ins Kino trotz Corona
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Mitte April hat die Schweiz massive Lockerungen beschlossen. Danach durften Kinos, Fitnessstudios und auch die Außengastronomie wieder öffnen. Die Regierung hält das Risiko für vertretbar. Nicht alle teilen diese Ansicht.
Es ist ein Sonntag, Mitte April – und für Charlotte Wirthlin steht heute ein langer Tag an. Morgen darf sie zum ersten Mal wieder öffnen. Zwar noch nicht das ganze Restaurant, aber zumindest den Biergarten. Dafür muss im "Platanenhof" heute noch alles geputzt und repariert werden. Als erstes kommt ein Monteur, der die Bierzapfanlage durchspült.
"Das ist einfach die Steigleitung für den Bieroffenausschank. Bei uns ist die relativ lang, weil die Fässer sind unten im Keller, und oben wird dann das Bier gezapft. Und das muss regelmäßig gereinigt werden. Jetzt ist ja fast ein halbes Jahr alles still gestanden, deswegen muss man das jetzt alles wieder machen. Genau."
Draußen im Garten werden die bunten Tische und Stühle abgewischt, die beiden Angestellten freuen sich, dass es endlich wieder los geht. Die Wirtin vom "Platanenhof" ist da skeptischer.
"Ich habe sehr gemischte Gefühle. Ich finde jetzt einfach, mein Betrieb, wir haben einen so großen Garten mit so viel Platz, wir können wirklich mehr Distanz als vorgeschrieben noch machen. Wir können draußen, denke ich, die Leute wirklich schützen und auch die, die hier arbeiten", sagt sie.
"Aber wenn ich so die Situation anschaue und mit den Nachbarländern vergleiche, kann es sehr gut sein, dass wir in eine vierte Welle sozusagen kommen. Und das wäre dann für diesen Betrieb schon tragisch, weil wenn wir im Sommer zumachen müssten, das wäre nicht schön."
Die Öffnung kam für viele überraschend
Mitte April hat die Schweiz massive Lockerungen beschlossen. Seitdem sind Kinos und Theater wieder in Betrieb, Fitnessstudios geöffnet und Chorproben erlaubt. Sogar in Innenräumen sind wieder Veranstaltungen mit bis zu 50 Personen möglich. Für viele kam das überraschend.
Denn auch in der Schweiz steigen die Fallzahlen seit Ende März wieder. Zum Zeitpunkt der Entscheidung liegt die Sieben-Tage-Inzidenz in der Schweiz bei 175 – in Deutschland bei 172. Trotzdem hält die Schweizer Regierung das Risiko der Öffnungen für vertretbar.
"Ich habe halt das Gefühl, da ist ein riesiger Druck von Seiten des Gewerbes, der Gastrosuisse", sagt Charlotte Wirthlin. "Das ist für mich sehr schwierig in dieser Branche, weil ich mich da überhaupt nicht mit identifizieren kann. Ich weiß nicht, ob das jetzt nicht weiser gewesen wäre, noch ein bisschen Geduld zu haben."
Offenbar aber stand der Bundesrat – also die Schweizer Regierung – unter großem Druck. Nicht nur Wirtschaftsverbände hatten lautstark Öffnungen gefordert, sondern auch Politiker aus den eigenen Reihen.
Hohe Infektionszahlen schaden der Volkswirtschaft auch
"Der Bundesrat ist ja aus vier Regierungsparteien zusammengesetzt und die beiden rechtsbürgerlichen Parteien, deren Basis hat recht großen Druck ausgeübt, dass man jetzt sachte, aber doch recht deutliche Öffnungen beschließen muss."
Mark Ditttli ist Gründer und Chefredakteur von "The Market", einem Onlinemagazin, das sich dem Geschehen an den weltweiten Finanzmärkten widmet. Im vergangenen Jahr hat er analysiert, dass man in der Schweiz lange davon überzeugt war und zum Teil noch immer ist, man könne sich harte Maßnahmen zum Wohl der eigenen Wirtschaft nicht leisten. Erst recht keine hohen Staatsschulden.
Dabei weiß man mittlerweile, dass es einer Volkswirtschaft zugute kommt, wenn die Infektionszahlen nicht durch die Decke gehen. Trotzdem geht man jetzt wieder das Risiko ein.
"Und jetzt haben wir seit März eigentlich stetig leicht steigende Zahlen, man blickt aber im Prinzip in der Schweiz immer auf die Auslastung der Intensivstationen in den Krankenhäusern. Und der Bundesrat sagt: Diese Intensivstationen sind noch nicht allzu stark ausgelastet, insofern können wir uns das Risiko leisten, jetzt allmählich etwas weiter zu öffnen."
Die wissenschaftliche Task Force, die die Regierung in Sachen Corona-Maßnahmen berät, wurde vorher nicht über diesen Schritt informiert. Ein Mitglied trat aus Protest zurück, viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler warnen vor massiven Folgen für das Gesundheitssystem. Auch Mark Dittli attestiert der Politik eine große Lernunfähigkeit.
"Was ich feststelle: In der Schweiz, ehrlich gesagt in ganz Europa, habe ich das Gefühl, kann die Politik nicht mit exponentiellem Wachstum umgehen. Also man sieht, die Infektionszahlen steigen, weiß eigentlich, dass mit einer zeitlichen Verzögerung von zwei bis drei Wochen auch die Hospitalisierungszahlen steigen – also man kann das im Prinzip alles recht gut modellieren. Und diese Fähigkeit, einige Wochen in die Zukunft zu schauen, die ist leider oft ein bisschen unterentwickelt."
Schweiz übergeht eigene Lockerungskriterien
Dabei hatte die Regierung selbst fünf Kriterien für Lockerungen festgelegt: Die Neuinfektionen der letzten 14 Tage, den R-Wert also den Ansteckungswert, die Zahl der Krankenhauseintritte, die Todesfälle und die Belegung der Intensivstationen. Vier der fünf Kriterien waren nicht erfüllt. Trotzdem wurde gelockert.
"Das ist korrekt, ja. Man ist schlichtweg jetzt im Frühjahr zum Schluss gekommen, man kann das der Bevölkerung jetzt nicht mehr länger zumuten, wir müssen allmählich Zeichen geben, dass wir öffnen. Das wurde über den Haufen geworfen, ganz klar."
Laut Umfragen sind die Schweizerinnen und Schweizer gespalten, was die Lockdown-Maßnahmen angeht. Insgesamt scheinen die Menschen hier etwas gelassener und weniger ängstlich im Umgang mit der Pandemie als in Deutschland.
Es gab, trotz hoher Todeszahlen im Herbst und Winter, aber auch nie einen wirklich harten Lockdown in der Schweiz. Bis auf ein paar Wochen ganz zu Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 waren die Schulen – und sogar Hotels und Skigebiete immer offen. Eine Ausgangssperre ist für die meisten Schweizer undenkbar, die Geschäfte haben schon seit Anfang März wieder geöffnet.
"Sicher, die Schweiz bzw. die Bevölkerung, man sagt ihr so eine gewisse Freiheitsliebe nach. Aber für mich sind das dann eher Plattitüden. Ganz ehrlich, ich habe jetzt nicht das Gefühl, aber das ist natürlich subjektiv, dass die Stimmung in der Bevölkerung am Kochen ist", sagt Ditttli.
"Der größte Teil der Bevölkerung versteht, dass wir in einer Pandemie stehen und versteht auch, dass die Lockdown-Maßnahmen, die wir hatten und zum Teil auch noch haben, dass man mit denen leben kann. Dass die vertretbar sind. In meinen Augen lässt man sich auch ein bisschen von extremeren Gruppierungen, die lautstark sagen, dass das jetzt ganz schlimm ist und unsere persönlichen Freiheitsrechte in gravierendem Maße beeinflusst sind, man lässt sich von diesen Bevölkerungsgruppen etwas gar stark vor sich her treiben."
Stimmung wie in den Sommerferien
Im März hatten in Liestal bei Basel etwa 8000 Menschen demonstriert – zum großen Teil ohne Masken. Und an Karfreitag trafen sich 500 coronamüde Jugendliche in der Innenstadt von Sankt Gallen, um Krawalle, oder eigentlich eher, um Party zu machen. Gesundheitsminister Alain Berset gab bei der Medienkonferenz Mitte April bekannt, man könne der Jugend die Einschränkungen nicht länger zumuten. Die träfen sich doch eh draußen, meint hingegen die Wirtin vom "Platanenhof".
"Die Jugendlichen sind ja jetzt nicht die, die in Restaurants konsumieren, die haben ja das Geld gar nicht. Also das ist sicher ein Vorwand diesbezüglich."
Am Basler Rheinufer geht es in der Woche nach den Öffnungen am 19. April zu wie in den Sommerferien: Überall sitzen die Menschen in der Sonne, vom Steg legt ein Motorboot ab und zwischen zwei Bäumen ist eine Hängematte gespannt. Auch die Straßencafés sind voll, fast niemand trägt hier eine Maske. Ein junger Mann hat Smartphone und Sonnenbrille vor sich auf den Tisch gelegt.
"Also ich bin erleichtert für die Jugend und für alle, die keine positiven Bewältigungsstrategien hatten für diese Zeit. Für die bin ich sicher glücklich, aber ich bin eh der Meinung, es wurde Zeit, jetzt mal etwas zu lockern."
Einen Tisch weiter sitzt ein Paar beim Aperol Spritz, sie ist Schweizerin, er ursprünglich Deutscher, lebt aber in Basel. Beide halten die Öffnungen für richtig.
"Es ist für mich selbstverständlich, das Minimum an Lebensqualität. Und der Rest ist Dummheit. – Gesundheitsminister Berset hat gesagt, die Fallzahlen steigen, aber wir gehen das Risiko ein. Und wo steckt man sich im Geschäft an? Ich bin noch nicht geimpft, ich warte auf einen Impftermin, ich bin Risikogruppe, ich habe es bis jetzt überlebt. In Geschäften, wenn man Abstand hält, da kann ja gar nichts passieren. Weil Lebensmittel muss man auch kaufen. – Die Deutschen brauchen das scheinbar, sonst würden sie es sich nicht so sang- und klanglos gefallen lassen."
Gespaltene Reaktionen
An der nächsten Ecke stehen die Leute Schlange vor einem Eiscafé. Wer reingeht zur Eistheke, um zu bestellen, muss sich die Maske anziehen. Eine junge Frau trägt sie auch schon beim Warten. Sie freue sich über die Öffnungen, sagt sie. Einerseits.
"Erleichtert so für Restaurants, ja. Fitnesscenter, Kino wäre jetzt nicht nötig gewesen. Innenräume finde ich etwas kritisch."
Es wäre ihr lieber gewesen, die Regierung hätte damit noch gewartet, bis zumindest alle Erwachsenen, die wollten, geimpft seien. Jetzt muss sie eigentlich auch wieder zu Seminaren und Vorlesungen an die Uni – bis zu 50 Personen in einem Raum sind offiziell erlaubt.
"Angst, dass die Zahlen jetzt wieder steigen, wenn alles offen ist, die habe ich schon."
Die ältere Frau hinter ihr, mit Kurzhaarschnitt und Outdoorjacke, schüttelt bestimmt den Kopf.
"Ich habe letztens mal ein nettes Foto gesehen von einer Bekannten, die im Skiurlaub war – und da stand drunter: Danke dem Bundesrat, dass wir das machen durften. Vielfach wurde es auch von den Leuten geschätzt, dass es nicht so eng war. Ich denke auch in dieser Situation, wenn man gewisse Vorsichtsmaßnahmen einhält, minimiert man das Risiko."
So vorsichtig, wie es gefällt
Dieses Argument hört man oft in der Schweiz. Man müsse den Menschen nicht so strenge Vorschriften machen, sondern könne auf Eigenverantwortung setzen. Auch Gesundheitsminister Berset betonte bei der Bekanntgabe der Lockerungsschritte, jeder Einzelne müsse weiter aufpassen. Im Alltag lege das aber jeder Einzelne etwas anders aus, meint Severin Gerfin.
"Das ist ein Punkt, der mir am Herzen liegt. Der mich auch oft stört, dass wir hier in der Schweiz sehr heterogen unterwegs sind, was das angeht. Und zwar, dass es Leute gibt, die für sich Ausnahmen bei diesen Grundregeln - Maske tragen, Hände waschen, sich nicht die Hände schütteln - ich glaube, da gibt es noch immer viele Leute, die finden: 'Ja, heute zählt das für mich nicht.' Und das stört mich persönlich."
Severin Gerfin arbeitet als Notfallsanitäter bei der Rettung Basel-Stadt. Momentan hat er Ferien und genießt ebenfalls die Frühlingssonne – wenn auch lieber mit Maske auf einer einsamen Bank im Botanischen Garten. Die Entscheidung der Regierung, mitten in der dritten Welle so stark zu öffnen, hat ihn überrascht.
"Also ich persönlich, ich hatte so ziemlich am Wochenende von Ostern wieder den ersten Corona-Patienten. Und das Wochenende drauf habe ich auch gearbeitet, da hatten wir auch einen. Und am zweiten Tag sogar zwei. Das war aber nur unser Team, wir haben am Wochenende mehrere Teams, und die hatten zum Teil auch Patienten mit positiven Corona-Tests."
Notfallsanitäter haben weiterhin viel zu tun
Diese Einsätze seien sehr viel aufwändiger, erzählt der 31-Jährige: Die Notfallsanitäter müssen einen Vollschutz tragen und nach jedem Einsatz wieder zurück, um ihre Kleidung zu wechseln. Auch das Fahrzeug wird nach jedem Einsatz von oben bis unten gereinigt, desinfiziert und muss dann erstmal zwei Stunden stehen und auslüften.
"Sehr oft sind das Einsätze von Leuten, die ein paar Tage zu Hause geblieben sind nach einem positiven Test-Resultat und mit der Zeit merken, es geht nicht mehr, sie fühlen sich schwach, sie fühlen sich schwindelig oder einfach krank. Die meisten Patienten sind eigentlich nicht mal so stark krank, dass sie es nicht alleine ins Spital schaffen würden, aber da ist natürlich wieder das Problem: Die kann man ja nicht ins Taxi setzen."
Immer wieder gab es auch kritische Fälle, die es ohne die Rettungskräfte nicht mehr ins Krankenhaus geschafft hätten.
"Was ich bis jetzt erlebt habe, sind halt starke Atemnot bis zur Unfähigkeit, noch selbst zu atmen. Das geht damit einher, dass die Leute nicht mal mehr sitzen können, dass sie leicht kollabieren, wenn man sie irgendwie bewegen möchte. Und da muss man natürlich dieses Atemproblem erstmal in den Griff bekommen, bevor man sich überhaupt mit dem Menschen auf den Weg ins Spital machen kann."
Die Auslastung der Schweizer Intensivbetten liegt mittlerweile bei rund 86 Prozent – ist also in den letzten beiden Wochen nur knapp gestiegen. Die Inzidenz ist sogar etwas gesunken, seit alles geöffnet wurde. Ob sich das Risiko lohnt, das die Schweiz derzeit eingeht, muss sich aber erst noch zeigen. Der Gesundheitsminister hat derweil schon mal einen Fahrplan zurück in die Normalität angekündigt.