Was ist los im Osten?

Verschüttete Erinnerungen, verhärtete Seelenfronten

Auf einem Schild bei einer Demonstration der Querdenken-Bewegung steht "Willkommen in der Diktatur - Sie verlassen Demokratie".
Die Erinnerung an die tatsächliche Diktatur scheint bei denen, die noch Repression und Gewalt der SED-Herrschaft erlebt haben, verschüttet, vermutet Anne Rabe. © imago / opokupix
Überlegungen von Anne Rabe |
Warum ist die AfD in Thüringen und Sachsen so stark? Warum formt sich dort ein so wütender Protest gegen eine vermeintliche Impfdiktatur? Was hat das mit der DDR zu tun? Zeit, sich unangenehmen Fragen zu stellen, meint die Autorin Anne Rabe.
Es sei ein Fehler gewesen, so lange an dem Gedanken festzuhalten, es gäbe eine Generation Wendeverlierer, die sich auswachsen werde, sagte SPD-Politiker Carsten Schneider kürzlich in einem Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“, über das ich nach seiner Ernennung zum neuen Ostbeauftragten der Bundesregierung gestolpert bin. Insbesondere politische Einstellungen würden sich vererben.

Vererbt sich das Loser-Gefühl?

Eine bemerkenswerte Äußerung, finde ich, deutet er doch an, dass sich trotz aller wirtschaftlicher Erfolge auch das alte Loser-, das ewige Underdog-Gefühl im Osten durch die Generationen trage.
Noch im Juni dieses Jahres sah sich sein Vorgänger Marko Wanderwitz (von der CDU) massiver Kritik ausgesetzt, nachdem er in einem Podcast der „FAZ“ über die Ursachen für die Erfolge der AfD im Osten äußerte: „Das sind Nachwirkungen von 40 Jahren Sozialismus.“
Das gab Ärger! Selbst die Kanzlerin rief ihn zur Ordnung, und sein Landesvater Michael Kretschmer versuchte ihm nach der Wahl die Schuld für das schlechte Abschneiden der CDU in Sachsen zu geben.
Der erstaunliche Sieg der Sozialdemokraten und der neue Verhandlungsstil der Ampel-Koalitionäre haben für einige Wochen die politische Katastrophe überstrahlt. Dass sich nämlich die AfD in den ostdeutschen Bundesländern eine Stammwählerschaft von etwa 20 Prozent erarbeitet hat und dass sie sowohl in Sachsen als auch Thüringen durchaus in der Lage war, zur stärksten Kraft zu werden.

Fackelmarsch und Mordaufruf

Aber man wollte nicht schon wieder „nach dem Rechten sehen“ – der skurrilen Verwandtschaft aus dem Osten, die sich offenbar noch immer nicht zu benehmen wusste.
Spätestens jedoch seit den radikalisierten Corona-Protesten, die sich mit ihren Fackelmärschen der Symbolik der SA bedienten, die zum Mord an Ministerpräsident Kretschmer aufriefen und die von der Polizei trotz Verbots nicht aufgelöst, sondern bloß begleitet wurden, ist klar: Wir müssen uns Gedanken machen.
Was ist los im Osten? Diktatursozialisiert oder transformationsgeschädigt? Es ist kein Zufall, dass Schneider im Gegensatz zu Wanderwitz eben gerade nicht auf die Diktaturgeschichte des Ostens, sondern auf die sogenannten Wendeverlierer verweist.
Er bedient sich der Erklärungen der 90er- und Nuller-Jahre, in denen erst die Baseballschläger kreisten und dann die NPD in Länderparlamente einzog. Perspektivlosigkeit und Armut würden die Menschen in die Fänge der Rechtsradikalen treiben. Ödes Land statt blühender Landschaft.

Es greift eine gefährliche Wagenburgmentalität um sich, die nicht von selbst verschwinden wird.

Anne Rabe

Unterdessen skandieren auch heute Nacht in Grimma, Zwickau oder Chemnitz Menschen wieder „Frieden, Freiheit, keine Diktatur“ – und ich möchte sie ernst nehmen.

Hinter die Mauern blicken

Die Erinnerung an die tatsächliche Diktatur scheint bei denen, die noch die Repressionen und Gewalt der SED-Herrschaft erlebt haben, verschüttet. An die Jüngeren wiederum, die den größten Teil der rechtsextremen Wählerschaft und Gewalttäter stellen, wurde sie wohl gar nicht erst vermittelt.
Die Seelenfronten sind inzwischen so verhärtet, dass ein Gespräch über eine freiheitliche Realität unmöglich scheint. Eine Realität, in der Polizisten auch Demonstrationen schützen, auf denen Teilnehmer zu Umsturz und Mord aufrufen.
Es greift eine gefährliche Wagenburgmentalität um sich, die nicht von selbst verschwinden wird. Im Gegenteil. Mit jeder neuen Krise wird die Burg weiter ausgebaut und mit neuem, noch schwererem Geschütz ausgestattet. Auf beiden Seiten. Es fällt mit jedem Mal schwerer, miteinander reden zu wollen.
Für Carsten Schneider wird genau darin die Aufgabe bestehen. Zu ermöglichen, in den nächsten Jahren hinter diese - unsere - Mauern zu blicken. Auf das zu schauen, was uns noch in den Knochen steckt und was wir uns nicht von der Seele schweigen können.

Die Geschichte des Ostens integrieren

Zwei Diktaturen, die Gesichter der Schuld und die Geschichten des Leids. Die Schmerzen der Transformation, aber auch das Glück in all seinen Möglichkeiten. Die Geschichte des Ostens muss selbstverständlicher Teil des gesamtdeutschen Bewusstseins werden. Dafür braucht es mehr als eine Doppelstunde Geschichte und einen Erörterungsaufsatz über den Begriff des Unrechtsstaats.
Dieses Land und seine Geschichte sind schwer auszuhalten. In ihr liegt die Angst vor Gewalt und Unterdrückung ebenso begründet wie die Bereitschaft dazu. Die Auseinandersetzung mit dieser Geschichte sollte und braucht noch lange nicht zu einem Ende kommen.

Anne Rabe ist Schriftstellerin und Drehbuchautorin. Sie schreibt für diverse TV-Serien, wie etwa „Warten auf den Bus“. Für ihr Theaterstück „18109 – Lichtenhagen“ erhielt sie unter anderem den Kleist-Förderpreis für junge Dramatiker. Zuletzt erschien von ihr der Essay „Kinderland“ in der Zeitschrift „Merkur“.

Anne Rabe sitzt auf einem Balkon.
© privat / Anne Rabe
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