Die Sehnsucht nach dem Süden
Kaum ein anderer hat das Italienbild der Deutschen so nachhaltig geprägt wie Johann Wolfgang von Goethe. Im Rahmen seiner Italienreise hat Goethe 1787 fast vier Monate lang in Neapel gelebt. Wie er die Stadt erlebt hat, beschreibt der Literaturwissenschaftler Dieter Richter in seinem neuen Buch.
Ohne Goethe gibt es Italien eigentlich gar nicht. Der Geheimrat aus Weimar, der 1786 Hals über Kopf vor den Zwängen der Hofgesellschaft floh, prägte das deutsche Italienbild wie kaum ein anderer. Zwar absolvierte Goethe die klassischen Etappen der Grand Tour, Pflichtroute aller europäischen Bildungsreisenden und bereits von seinem Vater erprobt, aber seine "Italienische Reise" und das berühmte Lied Mignons aus dem "Wilhelm Meister" "Kennst Du das Land, wo die Zitronen blühn ... " wurden zum Inbegriff der deutschen Sehnsucht nach dem Süden.
Vor allem Rom mit seinen antiken Denkmälern und Faustinas befreiender Sinnlichkeit galt seit jeher als biografischer Wendepunkt. Neapel, mit 450.000 Einwohnern eine Metropole und weitaus urbaner als Rom mit einer Bevölkerung von 160.000, schien ihn gleichermaßen ergriffen wie verunsichert zu haben. Der Literaturwissenschaftler Dieter Richter, Verfasser mehrerer gewichtiger Neapelbücher, zeichnet in einem ebenso lehrreichen wie kurzweiligen Essay die vielschichtige Beziehung des "Werther"-Dichters zu der Stadt am Golf nach.
Gemeinsam mit Tischbein bricht Goethe zu Beginn der Fastenzeit 1787 nach Neapel auf. Die Reise ist beschwerlich und gefährlich, das Wetter erschütternd kühl und die Herberge schlicht. Aber Goethe entscheidet sich bewusst für ein einfaches Gasthaus mitten in der Stadt. In den Gassen kann er das Treiben der Handwerker beobachten, das er differenzierter beschreibt als jeder andere Fremde. Goethe verfällt nicht in das schon damals weitverbreitete Klischee der Lazzaroni, der faulen Südländer, sondern durchdringt mit ethnografischem Gespür die komplexe Aufgabenteilung der Lastenträger, Karrenfahrer, Verkäufer, Bootsleute und Fischer, in die auch Frauen und Kinder eingebunden sind.
Lebendig schildert er die mitunter morbide Religiosität und wundert sich über die Späße auf Abendgesellschaften. Anders als in Rom logiert Goethe in Neapel unter seinem Klarnamen und tritt viel direkter in Kontakt mit der Stadt. Er diniert bei den örtlichen Honoratioren, lernt mit Gaetano Filangieri einen der aufgeklärten Aristokraten kennen, der ihn auf den Philosophen Giambattista Vico hinweist, und besucht die berühmte Antikensammlung des englischen Botschafters Sir William Hamilton.
Trotz der geologischen Exkursionen zum Vesuv und botanischer Erkundungen der Kulturlandschaft vor den Toren der Stadt überwindet Goethe seinen protestantischen Arbeitseifer und lernt, sich dem Genuss hinzugeben, worauf man sich hier besonders gut verstünde: "Wenn man in Rom gern studieren mag, so will man hier nur leben; man vergisst sich und die Welt", meint er. Aber nach einigen Monaten bereitet ihm die betörende Wirkung von Klima, Licht, Speisen und schönen Frauen eher Verdruss: "Das bunte Leben ist meine Sache nicht".
Die Regression habe Goethe eben auch als eine Gefahr für sein Ich und seinen Arbeitseifer empfunden, meint Richter. Eine folgenschwere Erkenntnis, ohne die die deutsche Literatur sehr viel ärmer wäre - zum Beispiel um die "Italienische Reise".
Besprochen von Maike Albath
Dieter Richter: Goethe in Neapel
Klaus Wagenbach Verlag Berlin 2012
142 Seiten, 15,90 Euro
Vor allem Rom mit seinen antiken Denkmälern und Faustinas befreiender Sinnlichkeit galt seit jeher als biografischer Wendepunkt. Neapel, mit 450.000 Einwohnern eine Metropole und weitaus urbaner als Rom mit einer Bevölkerung von 160.000, schien ihn gleichermaßen ergriffen wie verunsichert zu haben. Der Literaturwissenschaftler Dieter Richter, Verfasser mehrerer gewichtiger Neapelbücher, zeichnet in einem ebenso lehrreichen wie kurzweiligen Essay die vielschichtige Beziehung des "Werther"-Dichters zu der Stadt am Golf nach.
Gemeinsam mit Tischbein bricht Goethe zu Beginn der Fastenzeit 1787 nach Neapel auf. Die Reise ist beschwerlich und gefährlich, das Wetter erschütternd kühl und die Herberge schlicht. Aber Goethe entscheidet sich bewusst für ein einfaches Gasthaus mitten in der Stadt. In den Gassen kann er das Treiben der Handwerker beobachten, das er differenzierter beschreibt als jeder andere Fremde. Goethe verfällt nicht in das schon damals weitverbreitete Klischee der Lazzaroni, der faulen Südländer, sondern durchdringt mit ethnografischem Gespür die komplexe Aufgabenteilung der Lastenträger, Karrenfahrer, Verkäufer, Bootsleute und Fischer, in die auch Frauen und Kinder eingebunden sind.
Lebendig schildert er die mitunter morbide Religiosität und wundert sich über die Späße auf Abendgesellschaften. Anders als in Rom logiert Goethe in Neapel unter seinem Klarnamen und tritt viel direkter in Kontakt mit der Stadt. Er diniert bei den örtlichen Honoratioren, lernt mit Gaetano Filangieri einen der aufgeklärten Aristokraten kennen, der ihn auf den Philosophen Giambattista Vico hinweist, und besucht die berühmte Antikensammlung des englischen Botschafters Sir William Hamilton.
Trotz der geologischen Exkursionen zum Vesuv und botanischer Erkundungen der Kulturlandschaft vor den Toren der Stadt überwindet Goethe seinen protestantischen Arbeitseifer und lernt, sich dem Genuss hinzugeben, worauf man sich hier besonders gut verstünde: "Wenn man in Rom gern studieren mag, so will man hier nur leben; man vergisst sich und die Welt", meint er. Aber nach einigen Monaten bereitet ihm die betörende Wirkung von Klima, Licht, Speisen und schönen Frauen eher Verdruss: "Das bunte Leben ist meine Sache nicht".
Die Regression habe Goethe eben auch als eine Gefahr für sein Ich und seinen Arbeitseifer empfunden, meint Richter. Eine folgenschwere Erkenntnis, ohne die die deutsche Literatur sehr viel ärmer wäre - zum Beispiel um die "Italienische Reise".
Besprochen von Maike Albath
Dieter Richter: Goethe in Neapel
Klaus Wagenbach Verlag Berlin 2012
142 Seiten, 15,90 Euro