Die Sehnsucht nach ewiger Jugend

Warum erwachsen werden?

Ein Skateboardfahrer in Cordhose steht auf seinem Board.
Erwachsene sollten nicht Skateboard fahren, meinte ein Kommentator der "Zeit". © picture alliance / dpa / Wolfram Steinberg
Von Georg Gruber |
60 Prozent der jungen Erwachsenen zwischen 18 und 24 Jahren leben noch im "Hotel Mama". Wollen die jungen Leute nicht erwachsen werden? Und was heißt "Erwachsen sein" heute überhaupt, wenn sich gleichzeitig immer mehr über 40-Jährige wie Jugendliche geben?
1981 war ich 15 Jahre alt und lebte in der bayerischen Provinz. Lange Haare, zerrissene Jeans. Ich hörte Jimi Hendrix, Neil Young, Fehlfarben.
Die meisten Lehrer auf dem Gymnasium trugen im Unterricht Hemd, Krawatte und Anzug. Fast alle Erwachsenen wirkten auf mich wie ferne Planeten, gefestigt und ihrer selbst sicher - und gleichzeitig so, als hätten sie abgeschlossen mit dem Leben. Auch meine Eltern waren für mich weit weg, nicht nur weil sie Klassik und französische Chansons hörten.
Heute bin ich 51, älter als meine Eltern damals. Und müsste eigentlich erwachsen sein. Aber bin ich das?
"Klar bist du erwachsen, du hast einen Job, du hast Kinder, du hast eine Familie, du hast ein Haus, in meinen Augen bist du erwachsen."
Meine Söhne sind 12 und 16 Jahre alt.

Erwachsenwerden - schön und schmerzhaft zugleich

"Ich glaube, ich bin gerade in so einer Übergangsphase, noch nicht erwachsen, aber auch kein Kind mehr, aber das finde ich nicht schlimm, weil da kann ich viel experimentieren und ausprobieren, muss aber noch nicht für alles Verantwortung übernehmen."
Die Rollen haben sich vertauscht und sind doch anders, nicht mehr so klar definiert wie vor 35 Jahren:
Erwachsen sein – was heißt das heute und warum sollte man erwachsen werden, wenn gleichzeitig so viele für immer jung bleiben wollen?
21-Jähriger: "Also, ich bin jetzt 21 und ich habe gemerkt, es gibt Schritte, wo man gerne erwachsen wird, wo man das Kindliche hinter sich lassen will und sagt, jetzt es ist es genug. Oder wo man das Kindliche hinter sich lassen muss, wegen Situationen, die dir passieren, in denen du erwachsen sein musst, sonst würdest du die Situation nicht bewältigen können, deswegen kann's sehr leicht sein, sehr schön sein, kann aber auch sehr schmerzhaft sein, erwachsen zu werden."

Erwachsen ist, wenn die jugendliche Egozentrik weicht

Erwachsenwerden ist ein Prozess der Trennung von der Herkunftsfamilie und der Verselbständigung, sagt der Psychotherapeut Holger Salge.
"Äußerlich kann man das natürlich erkennen am Entstehen von verbindlicheren Partnerschaften, eigene Wohnung wird bezogen, es gibt so etwas wie einen eigenen Lebensentwurf, der nicht nur in der Phantasie entsteht, sondern auch dann umgesetzt wird, realisiert wird.
Man könnte auch, wenn man von außen drauf schaut, sagen, also wenn Menschen anfangen ein bisschen aus ihrer jugendlichen Egozentrik, und auch Grandiositätsvorstellungen haben ja einen hohen Stellenwert in der Entwicklung im jungen Erwachsenenalter, wenn das ein bisschen zurücktritt, Kompromissfähigkeit zunimmt, soziale Verantwortung übernommen wird, das wären alles so Kriterien, die darauf hinweisen, dass jemand dabei ist, erwachsen zu werden, oder dass ihm dieser sehr komplizierte Prozess einigermaßen gelungen zu sein scheint."
Holger Salge arbeitet als Chefarzt an der Sonnenberg-Klinik in Stuttgart, einem Fachkrankenhaus für psychosomatische Medizin. Vor über 15 Jahren schon haben sie sich dort auf die Behandlung junger Erwachsener spezialisiert, die in diesem Übergangsstadium ins Straucheln kommen.
"Wir haben damals acht Behandlungsplätze gehabt, inzwischen sind es über 30 und wir können der Nachfrage kaum mehr Herr werden. Und auch an anderen Standorten in Deutschland gibt es zunehmend solche spezialisierten Behandlungsangebote, die sich an Patienten, zwischen 18, 20 und Mitte 20 richten. Also ich denke schon, dass es eine Entwicklung der letzten 10-15 Jahre ist, das Phänomen gibt es natürlich wie alle Phänomene schon ganz, ganz lang, auch 1930 hat Siegfried Bernfeld zum Beispiel schon solche Entwicklung von verlängerter oder verzögerter Adoleszenz beschrieben, aber dass es Fahrt aufnimmt, würde ich so in diesem Zeitraum verorten."

Die Ablösung dauert heute länger

Genaue Zahlen zu dieser verlängerten Adoleszenz gibt es nicht. Doch es gibt Studien. Die ersten kamen aus den USA, sie sprechen von einer neuen Entwicklungsphase, der "Emerging Adulthood", dem "sich entwickelnden Erwachsensein".
"Betroffen ist die Altersgruppe zwischen 18 und 25 bis 30 Jahren, die durch eine enorme Instabilität im beruflichen und partnerschaftlichen Bereich, einen extremen Selbstfokus und das Gefühl des 'Dazwischenseins' (nicht mehr Jugendlicher, aber auch kein wirklich Erwachsener zu sein) gekennzeichnet ist."
Schreibt die Psychologin Inge Seiffge-Krenke in einem Aufsatz für das Deutsche Ärzteblatt im November 2015.
"Viele Entwicklungsaufgaben, die früher als typisch für die Adoleszenz galten (wie Ablösung von den Eltern, die Entwicklung einer eigenständigen Identität) dauern gegenwärtig sehr viel länger."

"Geradezu militantes Festhalten an der Kindposition"

Die jungen Männer und Frauen, die zu Holger Salge in Behandlung kommen, leiden unter Angsterkrankungen, Depressionen oder Zwangserkrankungen – Krankheiten, wie es sie in anderen Altersgruppen auch gibt.
"Aber bei den Patienten, die wir behandeln, gibt es so einen Trend, ich würde es mal als Vermeidung von Verantwortung beschreiben, so ein Festhalten, manchmal ein geradezu militantes Festhalten an der Kindposition. Dann begegnen sie 24-, 25-, 26-jährigen Menschen, die ganz inbrünstig von ihrer Mama oder ihrem Papa sprechen. Ich bin jetzt Mitte 50, und das wäre mir früher, in dem Alter, nicht mehr über die Lippen gekommen, also da gibt es eine ganz seltsame Identifizierung, ich hab das mal als Idealisierung der Position der Unschuld beschrieben."
Auffallend sei bei diesen Patienten eine ausgeprägte Neigung, sich zurückzuziehen, sagt Salge:
"Bei den jungen Männern häufiger als bei den jungen Frauen, die dann sich in so einem Dreieck bewegen: Bett, Kühlschrank, PC. Und ganz geringe oder gar keine Kontakte zur Außenwelt pflegen, also die dann zwar mir erzählen, dass sie mit jemanden sprechen, und wenn ich dann nachfrage, dann sind das die Mitspieler bei irgendeinem Strategiespiel, die sie nie in ihrem Leben je gesehen haben. Bei den jungen Frauen sehen wir scheinbar aktivere Strategien, wo auch der Körper häufig eine große Rolle spielt: Essstörungen, Selbstverletzungsverhalten ist da auf der Symptomebene sehr häufig anzutreffen. Aber immer mit dieser eingefrorenen arretierten eigenen Weiterentwicklung."
53-Jährige: "Ich bin 53 Jahre alt und ich bin erwachsen geworden, als ich 18 Jahre alt geworden bin, das war der Punkt, wo ich wusste, ich darf für mich entscheiden, ich muss meine Eltern nicht mehr fragen. Und dann habe ich das Elternhaus verlassen und ich bin ein Jahr nach London gefahren und musste aber selber mich finanzieren dieses Jahr. Das war für mich der Punkt, wo ich dachte, jetzt bin ich erwachsen."
Mitverantwortlich für die Probleme seiner Patienten seien oft auch die Eltern, sagt Holger Salge, die ihre Kinder nicht gehen lassen wollen.
22-Jähriger: "Ich bin 22 Jahre alt und für mich ist es wichtig, auf eigenen Füßen zu stehen, ich habe zum Beispiel nach dem Abitur sehr in der Nähe meiner Mutter gewohnt und ich habe schnell gemerkt, dass das auch mich behindert, mich weiter zu entwickeln oder auch eine erwachsene Beziehung zu meiner Mutter zu entwickeln. Und erst durch den Abstand konnten wir dann auch eine Beziehung finden, eben nicht nur dieses Mutter-Kind, sondern irgendwas, was beiden Spaß macht, also eine Freundschaft auch entwickeln vielleicht."

Der Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann
Der Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann © dpa / picture alliance / Miguel Villagran
"Ich werde bald 74 Jahre alt und fühle mich sehr erwachsen und erinnere mich noch, dass ich in meiner Jugendzeit, also Schulausbildung, Studium, sehr daran interessiert war, aus dieser Phase heraus zu kommen, wo ich noch nicht irgendwie richtig zur Gesellschaft dazu gehörte."
Klaus Hurrelmann, Bildungs- und Jugendforscher.
"Also, ich war ganz, ganz froh, berufstätig zu sein und dann auch sehr selbstverständlich möglichst bald eine eigene Familie zu haben, aus der Herkunftsfamilie herauszukommen und damit sozusagen die Meilensteine zu passieren, die in unserer Kultur letztlich definieren, ob man noch Jugendlicher ist, oder ob man Erwachsener ist."
Damals gab es klare Marker. Erwachsen war man so gesehen meist mit Anfang 20. Heute haben sich diese sozialen Markierungs- und Meilensteine verschoben.
"Die Daten des Statistischen Bundesamtes zum Beispiel zeigen, dass heute 30-jährige junge Männer noch zu 12 Prozent im Elternhaus wohnen. Und das ist glaube ich ein Wert, der historisch in dieser Form so noch nie existierte."

Zunehmender Hang zur Unselbstständigkeit

Auch der Bildungs- und Jugendforscher sieht das Risiko einer zunehmenden Unselbstständigkeit, angefangen bei so banalen Dingen wie Wäschewaschen und Essen kochen.
"Es kann noch komplexer sein, dass man nicht weiß, wie man sich in der Gesellschaft frei bewegt, weil die Mutter oder der Vater - die Mutter spielt hier übrigens deutlich die größere Rolle in allen Untersuchungen - schon dafür sorgen, dass man sich rechtzeitig um den neuen Personalausweis kümmert und sie auch mal hingeht, wenn man einen wichtigen anderen Termin hat. Also der Selbstständigkeitsgrad kann leiden."
Allerdings sieht Klaus Hurrelmann die Gründe für das lange Zuhausebleiben auch in den gesellschaftlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen: Die Ausbildungszeiten werden immer länger, der Berufseinstieg erfolgt später, die Mieten werden teurer - und die Lebenserwartung immer höher, auch das könnte eine Rolle spielen.
"Das Ganze hat die historisch ziemlich neue Komponente, dass sich die Kinder, auch die jugendlich gewordenen Kinder, auch die jung-erwachsenen Kinder mit ihren Eltern heute blendend verstehen, das ist eine ganz enge Allianz, die Eltern sind Orientierungspunkt, sind Vorbild, die Eltern sind die wichtigsten Berater in allen Bildungs- und Karrierefragen, bis in persönliche Entscheidungen hinein, sie sind die wichtigsten Geldgeber, sie sind die wichtigsten Geld- und Finanzberater, die Eltern, vor allem wieder die Mutter, haben eine richtige Schlüsselrolle für die jungen Leute bekommen.
Wieder das Doppelgesicht: Ja, zu einem Teil macht das wenig selbstständig, wenn man sich auf die Eltern verlassen kann, zu einem anderen Teil ist das natürlich eine Ressource, dass ich heute als junger Mann als junge Frau, meine Eltern, meine Mutter, meinen Vater, als wichtigsten Verbündeten habe."

Auseinandersetzungen brauchen Wucht

Meine Eltern gehören der gleichen Generation wie Klaus Hurrelmann an, die Geschlechterrollen waren klar verteilt: Der Vater arbeitet, die Mutter kümmert sich um die Kinder. Das hat sich inzwischen geändert. Mein Vater war wenig zu Hause - mir ist es wichtig, mehr Zeit mit meinen Kindern verbringen zu können. Ich will da sein für sie, als Ratgeber und jemand, den sie ins Vertrauen ziehen können. Der Psychoanalytiker Holger Salge sieht genau darin ein Problem: Zur Identitätsfindung sei die harte Auseinandersetzung mit den Eltern notwendig.
"Ich glaube, dass diese Auseinandersetzungen, die zum Teil auch sehr wuchtig sind, mit Entwertungen und Enttäuschungen einhergehen, ganz wichtig sind für die jungen Erwachsenen, um aus dieser bequemen vertrauten Welt wegzukommen. Die muss entwertet werden, ich muss mich der Peergroup zuwenden, also den Gleichaltrigen, und das braucht, glaube ich, auch diese Wucht, um diesem regressiven Sog ins Vertraute nicht wieder neu zu erliegen. Also, ich halte das für hochproblematisch, obwohl viele Eltern das glaube ich sehr schätzen und auch als Ausdruck ihrer guten Beziehung zu ihren Kindern einschätzen.
Das Problem ist: Kinder bleiben Kinder, und gerade in dieser Lebensphase geht es ja darum, sich zu trennen, um sich dann irgendwann, wenn es gut läuft, als etwas älterer und jüngerer Erwachsener neu begegnen zu können. Also die Kinder müssen, und das hat auch auf der psychischen Ebene was Aggressives, müssen quasi ihren Eltern in ihrer Funktion der Unterstützer und Begleiter, kündigen."
Nach diesen Kriterien bin ich selbst früh erwachsen geworden: Ich habe besonders mit meinem Vater zum Teil sehr heftig gestritten, bin mit Anfang 20 von zu Hause ausgezogen, habe meine Ausbildung komplett selbst finanziert. Ich habe meinen Eltern als "Unterstützer und Begleiter" gekündigt - im Rückblick weiß ich allerdings nicht, ob mir dieser harte Weg wirklich gutgetan hat. Und hoffe nun, dass das Erwachsenwerden meiner Kinder nicht mit solchen Brüchen einhergeht.

Eltern sind heute toleranter

"Studien zeigen, dass das gemeinsame Leben im Elternhaus nicht heißt, dass man sich in allen Dingen einig ist, sondern heute sind beide Parteien tolerant, sie akzeptieren unterschiedliche Lebensstile, sogar unterschiedliche Werte, unterschiedliche Wahl von Parteien, unterschiedliche Formen der Kleidung, des Umgangs, des Sexuallebens, das geht sehr weit. Und deswegen darf man das nicht mit früheren Zeiten vergleichen", sagt Klaus Hurrelmann.
"Und ich glaube nicht, dass das heutige starke lange Zusammenleben von Eltern und Kindern zwangsläufig die Kinder schwächer macht, weil diese Ablösungskrise als produktive Form der Abgrenzung von den Eltern entweder wegfällt oder sich über viele Jahre hinweg moderat entwickelt. Es haben sich die Verhältnisse der Ablösung verschoben und verändert. Pädagogisch und psychodynamisch kann man das sehr kritisch bewerten, ich bin aber nicht sicher, ob wir damit den jungen Leuten gerecht werden."
25-Jähriger: "Also, ich bin jetzt 25, das Konzept des Erwachsenseins, wie man es in den meisten Fällen mitkriegt, braucht’s eigentlich nicht. Ob es vom Alter her eingrenzbar ist? Es ist kein Begriff, der stetig ist, würde ich sagen, weil es gibt viele mit 20, die wahnsinnig viel durchgemacht haben, die wahnsinnig erwachsen wirken und es gibt Leute mit 35, die halt noch gar keine Art des Erwachsenseins haben, deswegen es ist schwer zu definieren, was ist denn eigentlich erwachsen?"
Klaus Theweleit 
Klaus Theweleit© picture alliance / ZB / Karlheinz Schindler
"Ich bin 75 Jahre alt geworden im Februar, also bald 76, das ist ein gewisses Alter, den Grad des Erwachsen-geworden-seins anzugeben ist nicht ganz einfach."
Klaus Theweleit, Kulturtheoretiker, Autor und Literaturwissenschaftler.
"Das trifft nicht nur für mich, sondern für viele, vielleicht die meisten meiner Generation zu, 1942 geboren, dass wir nach dem Krieg aufwuchsen, mit der Frage im Sinn, je älter wir wurden, was die eigenen Eltern und die Umgebung im Dritten Reich unter den Nazis gemacht hatte. Da bekam man nicht viele Auskünfte oder gar keine, aber man bekam Erziehungsregeln, man sollte über Schule einen gewissen Grad der Reife, wie das hieß, das hieß ja Reifeprüfung damals, das Abitur erreichen.
Und man wollte aber unter keinen Umständen so werden wie diese alte Generation, wo man gemerkt hatte, die waren unterwürfig gewesen, den Nazis angehangen, antisemitisch in unterschiedlichen Graden, aber das war bei allen Erwachsenen, mit denen ich zu tun hatte, zu merken. Man musste also in einer Distanz oder Widerstand aufwachsen in vieler Hinsicht.
Was man schon will: Man will wachsen, man will sich verändern, weil das einem auch das Gefühl gibt, dass man in einer bestimmten Weise lebt und nicht dahin vegetiert, wie man das von manchen, gerade unter den 68ern, wo ich ja herkomme, ideologisch zumindest, war ja dieser Begriff, die Alten, die Erwachsenen als Gemüse, wie das bei Bernward Vesper auftauchte, 'vegetables in american', die leben kein wirkliches menschliches Wachstum, sondern wie bei Gemüsepflanzen vor sich hin, irgendwann sind sie dann reif fürs Grab. Also diese Abwehr gegenüber dieser Sorte Erwachsensein oder -werden, die ist geblieben."

Freiwillige Unreife?

"In früheren Zeiten sahen zwölfjährige Jungen wie kleine Erwachsene aus, in deren Gesicht die Zeit bereits ihre Furchen gegraben hatte", schreibt der Literaturwissenschaftler Robert P. Harrison in seiner Kulturgeschichte des Alterns, "Ewige Jugend":
"Dagegen bleibt das Gesicht heute in der ersten Welt unfertig, unreif, selbst wenn es mit den Jahren welkt, ohne jemals die markanten Züge des Alters anzunehmen, die in anderen Kulturen oder Epochen für Greise charakteristisch sind. Der Unterschied liegt nicht nur in unserer besseren Ernährung, Gesundheitsvorsorge und Absicherung gegen Naturgewalten, sondern in einer umfassenden biokulturellen Transformation, die größere Teile der menschlichen Population in eine 'jüngere' Spezies verwandelt – jünger im Aussehen und Verhalten, in Mentalität und Lebensstil, vor allem aber in ihren Wünschen und Sehnsüchten."
"Mein Name ist Jim Avignon, ich bin Maler, Musiker, dass ich nicht wirklich erwachsen bin, kann man schon daran ablesen, dass ich mein wahres Alter nicht bekannt geben möchte. Ich habe eine siebenjährige Tochter und beschäftige mich sehr viel mit Kindern. Das Konzept des Erwachsenwerdens hat mich nie wirklich überzeugt, ich denke, man sollte in irgendeiner Weise reifen, aber ich denke, dass man für sein Leben lang die Welt auch mit den Augen eines Kindes weiterhin sehen kann, weil sonst verliert man sehr viel und ich glaube, das ist auch ein Grund, warum wir so viele Konflikte und Probleme auf der Welt haben."
Reifen und den kindlichen Blick nicht verlieren - was ich mir vom Älterwerden erhoffe, geht in eine ähnliche Richtung: Gelassenheit, ohne abgeklärt zu sein.

Wie die Lebensphase "Jugend" entstand

Historisch gesehen sind "Erwachsensein", "Jugend" und "Kindheit" Konzepte, die im ständigen Wandel sind. Abhängig von den gesellschaftlichen Umständen:
"Jugend ist vor allem im 19. Jahrhundert ausdifferenziert worden", sagt Bodo Mrozek, Historiker am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Schwerpunkt Jugend – und Popkultur.
"Früher hatte man einen relativ harten Übergang, man war Kind und sowie man auf zwei Beinen stehen konnte und Geld verdienen, war man erwachsen, man zog sich auch an wie ein Erwachsener."
Jugendliche aus Berlin-Kreuzberg.
Jugendliche aus Berlin-Kreuzberg.© Massimo Maio/Julia Illmer
Dieser Zustand zwischen Kindheit und Erwachsensein wurde immer länger, durch Gesetze gegen Kinderarbeit und verlängerte Schul- und Ausbildungszeiten. Auch der Blick auf die Jugend hat sich verändert im Laufe der Zeit:
"Der Begriff des Jugendlichen war ursprünglich ein negatives Sozialklischee, von dem man sich abgrenzen wollte, von dem eine gewisse Bedrohung auf die Ordnung der Gesellschaft ausging, das war der Jugendliche, was später auch als Halbstarker bekannt wurde.
Irgendwann in der Mitte des 20. Jahrhunderts kippte das aber und es ist eine Art Jugendkult entstanden, verbunden mit dem Erfolg einer Kulturindustrie und einer Popkultur, wurde das als ein positiv erstrebenswerter Zustand umdefiniert. Und dieser Prozess ist, glaube ich, noch gar nicht abgeschlossen, sondern der läuft im Grunde genommen weiter."
Während in den 50er- und 60er-Jahren Rebellion und Rockmusik noch Teil der Jugendkultur waren und ein Weg, um sich von den Erwachsenen abzugrenzen, sind heute alle – Eltern wie Kinder - mit Popkultur aufgewachsen. Auch die Mode hat sich verändert, heute ist alles erlaubt, ich selbst habe weder Anzug noch Krawatte im Schrank. Seit Punk kann laute Musik oder zerrissene Kleidung niemand mehr erschrecken.
"Heute macht man sich ja schon Sorgen um einen Jugendlichen, der sich nicht irgendwie abweichend oder verrückt eine Zeit lang verhält, was ist mit dem nicht in Ordnung, zumal wenn es männliche Jugendliche sind. Wer sich also nun wirklich abgrenzen will, der muss genau das Gegenteil machen und wird wahrscheinlich ganz, ganz andere Dinge tun, als genau diese Erwartungen seiner mit Popkultur sozialisierten Eltern und Lehrer und der Gesamtgesellschaft zu erfüllen."
Der Jugendliche wird vielleicht in digitale Welten ausbrechen, wohin die Eltern nicht folgen können. Die amerikanische Philosophin Susan Neiman hat mit "Warum erwachsen werden?" eine "philosophische Ermutigung" geschrieben. Und sie hat auch eine Erklärung gefunden, warum viele die Jugendzeit so glorifizieren:
"Weil es uns nicht gelungen ist, Gesellschaften zu schaffen, in die unsere Jugend gerne hineinwachsen möchte, idealisieren wir die Phasen der Kindheit und Jugend."

Nehmen die Alten den Jungen die Räume?

16-Jährige: "Das sehe ich nicht so, dass die Erwachsenen einem das Jung-sein wegnehmen, ich werde auf jeden Fall Räume finden, wo die Erwachsenen nicht sind und ich ich sein kann als 16-Jährige."
Die Alten nehmen den Jungen die Räume, die sie brauchen, um sich zu entwickeln und sich abzugrenzen. Diese These findet sich seit Jahren immer wieder, so zum Beispiel in einem Artikel des Publizisten Gero von Randow in der Wochenzeitung "Die Zeit" vom November 2017. Dort heißt es:
"Wer alt ist, sollte dazu stehen."
Und weiter:
"Beispielsweise gehören Alte nicht auf Skateboards. Und zwar weniger, weil sie für sich und ihre Mitwelt eine Gefahr darstellen würden, sondern aus einem anderen Grund: Das Skateboard ist spätestens durch Bart Simpson zum Symbol jugendlicher Fortbewegung geworden. Und wenn Alte es besteigen, lösen sie diesen Symbolgehalt auf. Sie nehmen der Jugend ein Unterscheidungsmerkmal weg, sie verwischen auch ihre eigene Identität als Alte, sie ebnen den Unterschied zwischen Jung und Alt ein. Der aber ist eine der wichtigen, die Gesellschaft ordnenden Dualitäten."
Ich bin anderer Meinung: Jeder sollte Skateboard fahren dürfen. Und für meine Söhne hoffe ich, dass sie ihren Weg in die Welt finden, auch wenn wir uns für ähnliche Musik begeistern können. Vielleicht gehört es zu meiner Identität als Alter, offen zu bleiben für neues und nicht auf imaginäre Generationsgrenzen zu achten.
Heinz Hengst: "Es gibt natürlich kumulative Erfahrungen."
Aber ich würde dazu niemals sagen: Irgendwann gab es die Zäsur, wo aus dem jugendlichen Heinz Hengst der erwachsene Heinz Hengst geworden ist.
Heinz Hengst, 76, ist Sozial- und Kulturwissenschaftler und Kindheitsforscher.
So erinnern wir uns an die 70er: Jugendliche sitzen im Kreis.
So erinnern wir uns an die 70er: Jugendliche sitzen im Kreis.© imago/Sven Simon
Dem Konzept des Erwachsen-Werdens, das in bestimmten Stufen und Jahren verläuft, kann er nicht viel abgewinnen. Es ist seiner Ansicht nach nur ein soziales Konstrukt, das vielleicht für die Nachkriegsjahrzehnte passend war, aber deshalb keine Allgemeingültigkeit besitzt:
"Da denke ich schon, dass man das sehr gut erklären kann, dass das mit stabilen Lebensbedingungen zusammenhängt, die wir nach dem II. Weltkrieg bis in die frühen 70er-Jahre hinein hatten. Und da konnte man sich also vorstellen, dass Menschen in bestimmter Weise aus werdenden oder unfertigen zu fertigen Menschen werden.
Also irgendwann gibt es ein Ende der Reise durch Kindheit und Jugend, weil man einen Arbeitsplatz hat, weil man heiratet, weil man Eltern wird, die Engländer sagen: es wird das Stadium des settling down erreicht. Und ich denke, dass der Umstand, dass man so gesettelt war, eben auch dazu geführt hat, dass man dieses Erwachsensein zu einem Altersphasenmodell als in Stein gemeißeltes betrachtet hat."
Die Lebensumstände haben sich geändert. Es gibt keine sicheren Jobs mehr bis zum Lebensende. Heiraten und Kinder kriegen können auch nicht mehr als Marker herhalten, bei all den verschiedenen Lebensentwürfen, die es heute gibt.
"Meine These geht dahin, dass wir jetzt wieder sehen müssen, wie sehr eigentlich ein bestimmtes Alter nur ein Faktor ist, der überlagert ist von dem Faktor der Erfahrungen, die man macht."
21-Jähriger: "Erwachsen sein ist Erfahrungen sammeln, ja, doch, für mich schon."
Heinz Hengst sieht demnach auch kein Problem darin, wenn junge Menschen heute länger als in den 70er- und 80er-Jahren zu Hause leben:
"Weshalb soll das ein Problem sein, wenn unter Bedingungen teurer Mieten jemand, wie das in den südlichen Ländern immer der Fall gewesen ist, zu Hause bleibt. Wenn seine Entwicklungs- und Bildungsmöglichkeiten dadurch nicht behindert werden."
Klaus Hurrelmann, der Jugendforscher, spricht von neuen Allianzen, von denen auch die Eltern profitieren. Und erklärt so auch, warum sich die Alten heute so stark an den Jungen orientieren – um von ihnen zu lernen:
"Meiner Ansicht nach merken die Eltern, die ganz dicht bei ihren jugendlich und jung-erwachsen-gewordenen Kindern ja dran sind, weil sie auch so lange im Elternhaus sich noch aufhalten, dass die Art und Weise, wie die 20-jährige Tochter oder der 22-jährige Sohn mit den Anforderungen des Lebens umgehen, dass die einfach zeitgemäß ist, dass die Art und Weise zu sprechen, sich zu kleiden, aber vor allem die Einstellung, Dinge auf sich zukommen zu lassen, sich nicht zu früh festzulegen, Entscheidungen offen zu halten, auf alles eingerichtet zu sein, was an überraschenden Ereignissen passieren kann, immer einen Plan B oder sogar C zu haben, wenn irgendwie der erste Plan nicht klappt, sowieso sich dessen bewusst zu sein, dass man keine strikte Lebensplanung mehr von heute an mit Perspektive von 20 Jahren treffen kann, alle diese Dinge, das spüren die Eltern, die sind zeitgemäß und die sind von Vorteil, für ein Leben in einer offenen, demokratischen aber eben auch sich ständig umbrechenden Gesellschaft, zumal dann noch in einer digital durchsetzten Gesellschaft."
Der oft als negativ angeprangerte Jugendwahn ist so gewendet Zeichen von Lebensweisheit.
Bin ich erwachsen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass sich mein Leben und mein Blick auf die Welt grundlegend verändert haben, als ich Vater wurde - zum Positiven. Als Kind war ich überzeugt, Erwachsene wären ihrer selbst sicher, stünden gefestigt im Leben - heute weiß ich, dass das nicht immer so ist. Vielleicht war es nie so, auch bei meinen Eltern nicht. Aber Unsicherheiten zeigen und eingestehen gehörte sich lange nicht. Auch das ist heute anders.
Die Philosophin Susan Neiman sieht Erwachsenwerden als eine Aufgabe, die niemals endet. Einen einfachen Leitfaden bietet sie nicht, sie verweist auf Kant und die selbstverschuldete Unmündigkeit, die wir hinter uns lassen sollten.
"Warum erwachsen werden? Die kurze Antwort lautet: Weil es schwieriger ist, als Sie denken, so schwierig, dass es einem Widerstand gleichkommen kann. Die Kräfte, die unsere Welt bestimmen, wollen genauso wenig mit Erwachsenen umgehen müssen wie zu Kants Zeiten, denn Kinder sind gefügigere Untertanen – und Konsumenten."
Rentner auf Parkbank im Volksgarten. Köln
Warum nicht zu seinem Alter stehen?© imago stock&people
Auch der Psychotherapeut Holger Salge warnt vor der Vorstellung, jung bleiben zu können:
"Ich glaube, es geht nicht nur ums Jungbleiben, es geht auch ums Unschuldigbleiben. Und ich glaube, dass letztlich, wenn wir uns alle in das Paradies des nie Altwerdens retten, dass das jegliches Leben im engeren Sinne, Lebendigkeit, zum Erstarren bringt. Weil das, glaube ich, auch einhergeht, die Entwicklung, die ich jetzt beobachte, mit einem enormen Rückgang an Möglichkeiten, sich auseinander zu setzen, zu streiten, also Aggressivität hat ja auch in unserer aktuellen gesellschaftlichen Diskussion eine ganz schlechte Lobby, sag ich mal. Und Aggressivität ist nicht automatisch Destruktivität, sondern Aggressivität ist was enorm Wichtiges, Lebendiges, braucht man in ganz vielen Dingen."
16-Jährige: "Ich will schon für immer jung bleiben, aber nicht hundertprozentig für immer jung, sondern so fifty-fifty, einfach dass man immer noch rumalbern kann und nicht diese 100 Prozent ernste Person sein muss, wie man es vielleicht von Erwachsenen denkt oder von manchen Erwachsenen kennt."
Die Sehnsucht, für immer jung zu sein und jugendlich zu bleiben, ist allerdings alles andere als neu - angefangen bei der griechischen Mythologie, bis zu Oscar Wildes Dorian Grey oder Peter Pan.
Klaus Theweleit: "Wir kennen alle diese Lieder der Alten: Ich möchte noch mal 20 sein! Alles das, das war ja vorhanden, das ist auch jetzt vorhanden, also man möchte, bis man irgendwann so alt ist und verfällt, bis dahin möglichst jung bleiben oder sein, zumindest im Denken, in der Empfindung.
Aber natürlich ist der Wunsch auch körperlich da, ich merke, dass die Knöchel unbeweglicher werden, natürlich ist der Wunsch da, dass das unterbleiben möge. Man möchte natürlich weiter über dem Boden schweben wie mit 22 und jederzeit bereit abzuheben und sich ins Schweben zu begeben, nicht nur als mentalen Zustand, sondern als Körperzustand. Klar möchte ich jung bleiben."
Als 15-Jähriger wollte ich nicht erwachsen werden. Nun bin ich es – nach den äußeren Kriterien zumindest. Im Inneren nicht. Ich halte es mit denjenigen, die diesem Denken in starren Konzepten und Lebensabschnitten kritisch gegenüberstehen. Erfahrungen sammeln, Verantwortung übernehmen, gerne. Daran wachsen auch. Erwachsen sein: nein. Das klingt für mich immer noch zu sehr nach dem Ende eines Weges – nach abgeschlossen haben mit dem Leben.
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