Die Selbstzweifel der CDU

Von Stephan Hebel · 07.11.2011
Der Alltag hat Angela Merkel wieder. Nächste Woche ist CDU-Parteitag, und die Basis will endlich wissen, wofür sie steht. Sie, die Kanzlerin. Und sie, die Partei. Und sie hat recht, die Basis. Auf Dauer ist Politik mehr als Krisenmanagement, ob das der Kanzlerin nun passt oder nicht.
Auf Dauer ist Politik auch mehr als Kapitulation vor Notwendigkeiten, die andere längst klar erkannt hatten – siehe Atomausstieg, siehe Abschaffung der Wehrpflicht, siehe auch die halbherzige Annäherung an den gesetzlichen Mindestlohn.

Auf Dauer wird eine Partei, die sich christlich nennt, wieder sagen müssen, in welchen Haltungen und Werten sie sich von den anderen zu unterscheiden gedenkt. Auf Dauer geht Demokratie nicht gut, wenn Politiker wie Merkel und Steinbrück sich allenfalls in Ton und Stil unterscheiden. Sonst könnten wir die große Koalition gleich im Grundgesetz festschreiben.

Wo ist er also heute, der Werte-Kern der Konservativen? Bei der CDU ist nebulös vom "christlichen Menschenbild" die Rede. Nehmen wir als Beispiel die Bildungspolitik, die auf dem Parteitag am 15. November besprochen werden soll: "Nach unserem christlichen Menschenbild", heißt es im Leitantrag des Vorstands, ist der Mensch "ein freies und verantwortliches Wesen" und so weiter und so fort.

Was aber folgt aus diesem Menschenbild, zum Beispiel für die heftig umstrittene Hauptschule? Antwort: Dass man sie entweder abschafft oder auch nicht. Zusammenlegung jetzt!, sagt Bildungsministerin Annette Schavan, und zwar mit der Realschule! So will es das "christliche Menschenbild"! Nein, sagt zum Beispiel Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier. Zitat: "Eine Partei, die ihr Selbstverständnis vom christlichen Menschenbild ableitet, muss für die Vielfalt von Bildungsangeboten stehen." Zitat Ende.

Und Angela Merkel sagt: "Es wird nicht ein Ja oder Nein zur Hauptschule geben." Das stimmt natürlich, weil es offiziell um Zusammenlegung und nicht um Abschaffung geht. Vor allem aber folgt Merkel ihrer alten Übung, klare Ansagen durch unentschiedenes Kompromiss-Gephrase zu ersetzen.

Es wäre Zeit, das christliche Menschenbild, wenn man es schon im Munde führt, genauer zu definieren. Der erste Schritt wird im konservativen Umfeld, anders als bei Merkel, bereits getan: Im Feuilleton der FAZ entdeckt ein Autor nach dem anderen, dass der Finanzmarkt nicht sein Freund ist.

Die Rechtsausleger im Büßerhemd, zum Beispiel Frank Schirrmacher oder Lorenz Jäger, verschweigen zwar geflissentlich, dass die Dominanz der Wirtschaft über die Politik auch zu ihrem ideologischen Rüstzeug bisher gehörte, dass sie zumindest beim Linken-Bashing nicht störte. Aber immerhin: Den Weg zu einer Konservatismus-Debatte, die Politik wieder von der Freiheit des Individuums her denkt, haben ihre Bekenntnisse geebnet.

Gut möglich, dass diese Debatte demnächst den politischen Raum erreicht. Und dass sie dort anknüpft, wo sie vor gut einem halben Jahrzehnt den Faden verlor. 2005, im Jahr der Wahl von Angela Merkel zur Bundeskanzlerin, veröffentlichte der Verfassungsrichter Udo di Fabio sein Buch "Die Kultur der Freiheit". Es war ein Manifest derjenigen Konservativen, die lange vor der Finanzmarkt-Krise die ideologischen Wegweiser aufstellten: Nicht etwa in einer ausreichenden sozialstaatlichen Absicherung sollte der globalisierte und flexibilisierte Mensch seine Sicherheit finden, sondern in Familie, Nation und Religion.

Das kostet nichts und erspart der Politik die notwendige Debatte über eine Sozialstaats-Finanzierung durch gerechtere Besteuerung der Vermögenden. Es ist ein anti-sozialstaatlicher Konservatismus, der das gefährliche Potenzial besäße, an die Stelle der neoliberalen Ideologie zu treten.

Ist das der Weg der CDU? Die Kanzlerin wird bekennen müssen, ob das christliche Menschenbild mehr umfasst als den Verweis auf die ideelle Nestwärme der Familie, der Heimat und der Religion. Sie wird uns bald sagen müssen, ob die neoliberale Angela Merkel des Jahres 2005 in neuem Gewand Wiederauferstehung feiert oder nicht.

Stephan Hebel, Journalist, geboren 1956 in Frankfurt am Main, studierte Germanistik und Romanistik, bevor er 1986 Redakteur der "Frankfurter Rundschau" wurde. Er arbeitete im Nachrichtenressort, als Korrespondent in Berlin, im Ressort Politik und als Mitglied der Chefredaktion. Seit 2011 ist er als politischer Autor tätig.
Stephan Hebel, freier Autor
Stephan Hebel, freier Autor© Frankfurter Rundschau
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