Die sich wandeln, überleben

Von Gesine Palmer · 12.11.2013
Eine Theologie, die nur den "Vater-Mutter-Kind-Familien" ihren Segen gibt, hält die Autorin Gesine Palmer für nicht zukunftsfähig. In der Auseinandersetzung über ein neues, moderneres Familienbild innerhalb der evangelischen Kirche bezieht sie ausdrücklich Stellung FÜR Menschen, die andere Lebensformen wählen.
Menschen sind ziemlich offene Wesen. Das ist einerseits ganz schön. Denn es erlaubt uns jederzeit zu denken, wir KÖNNTEN auch anders. Andererseits ist es lästig. Denn es macht uns schwer berechenbar. Schon für uns selbst, aber vor allem auch füreinander.

Um sich das Leben etwas überschaubarer zu gestalten, haben Menschen sich von jeher Institutionen geschaffen. Wo immer man geboren wird, irgendwelche Institutionen sind schon da. Die erste ist zumeist eine Familie. Irgendeine Art von Familie, je nach Ort und Zeit.

Gerade darin, wie sie das Zusammenleben der Geschlechter und Generationen regulieren, unterscheiden sich die Kulturen am stärksten. Gerade an dieser Stelle werden Veränderungen mit größter Empfindlichkeit beobachtet, vorangetrieben oder verhütet, und Abweichungen von überwiegend ungeschriebenen, oft aber auch sorgsam in Stein gehauenen und stellenweise sogar ins Fleisch geschnittenen Gesetzen am schärfsten geahndet.

Im Westen werden Traditionen und Institutionen kritisch gesehen
In der westlichen Welt haben wir uns ziemlich weit vorgewagt. Das liegt vielleicht daran, dass wir Traditionen und Institutionen kritisch sehen. Seit der Apostel Paulus seine Lehre nicht durch ihr Alter, sondern durch ihre Neuheit gerechtfertigt hat, steht bei uns das Neue als solches in hohem Ansehen. Theoretisch jedenfalls. Aber es bleiben immer Reste.

Die Heidenchristen glaubten lange, das Judentum überwunden zu haben, aber das Judentum blieb neben dem Christentum erhalten. Die Reformatoren glaubten, die katholische Kirche überwunden zu haben, aber die blieb. Die Aufklärer glaubten, die Reformation überwunden zu haben, aber die Evangelische Kirche blieb.

Die Ehescheidung breitete sich aus, aber es blieben bürgerliche Familien bestehen. Und gerade unkonventionelle Partnerschaften streben oft danach, ganz bürgerlich in einer Ehe zu leben und Kinder groß zu ziehen. So tragen sie auf ihre Weise zu einer Erhaltung der Tradition vielleicht mehr bei als so manche konventionelle Familie, die von ihren Mitgliedern als Last empfunden wird.

Institutionen, die nicht heimlich unterlaufen, sondern offen ernst genommen werden wollen, müssen vorangehen. Sie müssen die menschliche Offenheit ernstnehmen – und selbst offen sein. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat das mit ihrer Orientierungshilfe zur Familie beherzigt.

Kein grundsätzliches Misstrauen gegen Menschen abseits der Norm
Sie misstraut denen, die anders als in einer bürgerlichen Familie leben, nicht mehr grundsätzlich. Sie will nicht, dass Menschen, die kein Normleben führen, sich um die Auseinandersetzung herumschleichen müssen. Sie geht davon aus, dass viele Menschen mit dem Scheitern ihrer Lebensentwürfe oder mit ihren Neigungen verantwortungsvoll umgehen: gerade indem sie aufrecht und offen etwas Neues versuchen.

Diese werden in dem neuen Papier gewürdigt, neben den anderen, treuen Vater-Mutter-Kind-Familien. Der Ratsvorsitzende hat Recht, wenn er sagt, es sei in diesen Fragen nichts in Stein gemeißelt. Denn auch wer buchstäblich "nach der Bibel leben" wollte, müsste erst einmal entscheiden, nach welchem ihrer Bücher.

Ob unter päpstlicher Lehrautorität wie in der katholischen Kirche oder unter der lutherischen Überzeugung, dass jeder Mensch in der Schrift bei gewissenhafter Interpretation Gottes Wort finden könne, ob unter den Vorzeichen einer ganz anderen Religion oder in der Abgrenzung gegen alle Religion: die Verantwortung dafür, wie wir leben wollen, kann niemand irgendjemandem abnehmen.

Jeder Einzelne wächst in etwas hinein – und verändert es durch sein eigenes Leben. Die Kirchen können dafür Sorge tragen, dass ihre den Verhältnissen gleichermaßen voraus- und hinterhereilenden Orientierungshilfen Halt und Freiheit in guter Balance anbieten.

Denn selten gehen die Pläne von einzelnen Menschen und ganzen Institutionen auf. Das ist einerseits einschüchternd, lässt es doch all unser Planen immer ein bisschen lächerlich dastehen. Andererseits ist es ganz schön. Denn es heißt, dass wir immer auch anders könnten. Das Abendland wird nicht untergehen, solange es diese Möglichkeit beherzigt.

Dr. Gesine Palmer, geb. 1960 in Schleswig-Holstein, studierte Pädagogik, evangelische Theologie, Judaistik und allgemeine Religionsgeschichte in Lüneburg, Hamburg, Jerusalem und Berlin.
Nach mehrjähriger wissenschaftlicher Lehr- und Forschungstätigkeit gründete die Religionsphilosophin 2007 das "Büro für besondere Texte" und arbeitet seither als Autorin, aber auch als Redenschreiberin, Trauerrednerin und Beraterin.
Ihr wiederkehrendes Thema sind "Religion, Psychologie und Ethik" – im Kleinklein der menschlichen Beziehungen wie im Großgroß der Politik.
Gesine Palmer
Gesine Palmer© privat