"Die sieben Tugenden"
Es geht um gut und böse, um Schuld und freien Willen. Die sieben Kapitel in diesem Werk lesen sich wie Predigten. Sie handeln vom Glauben, Lieben und Hoffen, von Weisheit, Tapferkeit, Mäßigung und Gerechtigkeit.
Ein christlicher Theologe redet über Tugenden. Ungewöhnlich - gewöhnlich reden Theologen über Sünden und Laster. Das ist leicht zu erklären, sagt Eugen Drewermann: Das Christentum hat ursprünglich keine Tugendlehre.
"Der Begriff der Tugend und die ganze Lehre in der Ethik des Abendlandes entstammt griechisch-römischen Vorstellungen."
Es war Aristoteles, der Philosoph aus dem griechischen Stageira, der die abendländische Lehre von den Tugenden begründet hat - und damit die Moralphilosophie. Sie stützt sich auf die folgende Idee:
"Ein Mensch, der Gutes tut, formt dadurch seine Persönlichkeit. Und das gewohnte gute Tun stabilisiert sich als Haltung, eben als Tugend. - So etwas setzt voraus, dass Menschen frei sind in ihren Entscheidungen, dass sie über Gut und Böse selbst befinden können. Und dass sie, im Falle sie das Gute tun, belohnt zu werden verdienen. Und im Falle des Bösen bestraft gehören."
Aber nicht nur die griechisch-römische Philosophie, sondern auch das alttestamentliche Judentum hat genau genommen eine Tugendlehre entwickelt; darum geht es Drewermann im Vorwort seines neuen Buches "Die sieben Tugenden". Der Maßstab eines tugendhaften Lebens sind nach jüdischem Glauben die zehn Gebote Mose: Wer sich ihnen fügt, gilt als ein guter, weil gottgefälliger Mensch. Wer sie in den Wind schlägt, als sündhaft und böse.
Das Christentum, so Drewermann, wirft eine Frage auf, die weder im Judentum noch in der griechischen Philosophie Beachtung fand. Die Frage: Kann ein Mensch denn immer gut und tugendhaft sein, ganz einfach, weil er will?
Paulus, der Apostel Jesu Christi, ist in dieser Hinsicht weit weniger optimistisch als jüdische Propheten und griechische Philosophen. Sein Brief an die Christengemeinde in Rom ist auch ein Dokument der Selbsterkenntnis und der Selbstkritik:
"Das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich!"
heißt es im 7. Kapitel des Römerbriefes, den Drewermann zitiert.
Woher diese Offenherzigkeit des Paulus? Dieser Mut, die eigenen moralischen Gebrechen klar zu erkennen und sie anderen mitzuteilen? – Drewermann hat eine schlichte Erklärung: Paulus fühlte sich geliebt. Geliebt und verstanden von einem väterlichen Gott, den Jesus von Nazareth ihm offenbart hatte. Denn Jesus lässt den Gott der Juden in einem neuen Licht erscheinen: als Gott der Liebe, der Barmherzigkeit und der Vergebung.
"Was Jesus wollte, war ganz sicher keine neue Religion. Aber er wollte, dass man von Gott endlich aufhört zu reden als dem dauernd Strafenden, dem Gesetze Erlassenden, dem mit erhobener Faust Dräuenden. Er wollte uns einen Gott schenken, dem wir vertrauen können, egal, was passiert:
zu ihm zurückkehren zu können und noch viel mehr: von ihm gesucht werden, wenn wir uns verloren haben."
Der Glaube an die väterliche Güte Gottes. Die Liebe zu diesem Gott, zu sich selbst und zu den Mitmenschen. Und schließlich die Hoffnung, dass die Liebe als eine Gotteskraft unendlich sei – das sind laut Paulus die ersten Tugenden eines Christen. Drewermann hat ihnen je ein Kapitel seines Buches gewidmet. Allerdings weist er gleich im ersten darauf hin: Glauben können mit ganzer Kraft, Lieben und Hoffen mit ganzem Herzen ist mehr als nur eine Sache der Moral, denn sie ist mehr als eine menschliche Willensentscheidung:
"Nichts von alledem ist mit Anstrengungen herbei zu zwingen, es lässt sich nur als ein Geschenk in Empfang nehmen."
Als ein Gottesgeschenk, über dessen Wert und Bedeutung man allerdings nachdenken und um das man bitten kann im Gebet. Deshalb, so Drewermann, kann man über christliche Tugenden auch keine moralphilosophischen Abhandlungen verfassen. Man kann darüber nur predigen, so wie Jesus es getan hat und später Paulus. Das tut auch Drewermann in seinem Buch; die sieben Kapitel lesen sich wie sieben Predigten über die Tugend. - Den ersten drei über Glauben, Lieben und Hoffen folgt je eine Predigt über Weisheit, über Tapferkeit (oder Mut), über Mäßigung und schließlich über Gerechtigkeit. Die Einübung dieser vier moralischen Lebenshaltungen wurde bereits von griechischen Philosophen, aber auch von jüdischen Propheten empfohlen. In Drewermanns Buch allerdings werden sie nicht als primäre, sondern als abgeleitete Tugenden betrachtet:
"Es handelt sich dabei um eine bloße Folgebeschreibung von Einstellungen, die sich ergeben, wenn Menschen durch Glauben, Hoffen und Lieben starke und wahrhaft gute Menschen werden."
"Das Christentum ist die Entdeckung, dass man Menschen erlösen muss, um zu dem, was man sittlich gut nennt, sie überhaupt erst zu befähigen!"
sagt Drewermann, ein Theologe, der wegen seiner Kritik an verschiedenen Lehrmeinungen und vor allem an Machtmechanismen der römisch-katholischen Kirche vom Lehr- und vom Priesteramt suspendiert wurde; mittlerweile ist er aus dieser Kirche ausgetreten. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – versteht sich Eugen Drewermann als Seelsorger und als Therapeut im christlichen Sinn:
"Absolut! Ich habe die Auseinandersetzung mit der römischen Kirche ja nicht geführt einfach so. Sondern im Engagement, seelsorglich, für die, die erkennbar in dieser römischen Kirche, an dieser römischen Kirche leiden."
Der Theologe Drewermann beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Psychologie, besonders mit der Psychoanalyse in der Tradition von Sigmund Freud. Hier findet er Antworten auf Fragen, die Christen wie Paulus oder auch Martin Luther gestellt haben: Warum können Menschen manchmal nicht gut sein, nicht tugendhaft handeln, obwohl sie das doch eigentlich wollen? Oder: Warum sind sie nicht imstande, ihre moralischen Gebrechen überhaupt zu erkennen?
Die Tugenden des Mutes zum Beispiel und auch die, sich unerschrocken einzusetzen für Gerechtigkeit, sagt Drewermann, seien oft beschädigt bei Menschen, die eine allzu autoritäre Erziehung erlitten haben; sie hätten das Mutig-Sein in der Kindheit verlernt.
"Kinder, die groß werden, ständig unter dem erhobenen Zeigefinger: "Du musst brav sein!", werden so verwirrt, dass sie’s beim besten Willen nicht mehr können! Selbst wenn sie sich aus Angst fügen, knirschen sie mit den Zähnen inwendig. Und das verformt ihren Charakter."
Wessen Eigenwillen in jungen Jahren gebrochen worden ist, muss als Erwachsener neu lernen, etwas entschieden zu wollen und das auch mutig einzufordern, betont Eugen Drewermann. In schweren Fällen komme man kaum ohne gute Therapeuten aus.
Fazit: Ein lesenswertes Buch. Nicht nur für Christen, sondern für alle, denen die Selbsterkenntnis am Herzen liegt. Besonders aber für Amtsträger in den christlichen Kirchen, schon wegen Drewermanns Überlegungen in Sachen ‚Zukunft der christlichen Seelsorge’. Er meint, Priester und Pfarrer sollten ihre Gemeindeglieder nicht nur ermahnen, Sünden zu bekennen, sondern sie zuerst und vor allem ermutigen, die sieben Tugenden zu üben.
Literaturhinweis:
- Eugen Drewermann: "Die sieben Tugenden - oder: Weisen, mit sich eins zu werden", Patmos Verlag 2012, 208 Seiten
"Der Begriff der Tugend und die ganze Lehre in der Ethik des Abendlandes entstammt griechisch-römischen Vorstellungen."
Es war Aristoteles, der Philosoph aus dem griechischen Stageira, der die abendländische Lehre von den Tugenden begründet hat - und damit die Moralphilosophie. Sie stützt sich auf die folgende Idee:
"Ein Mensch, der Gutes tut, formt dadurch seine Persönlichkeit. Und das gewohnte gute Tun stabilisiert sich als Haltung, eben als Tugend. - So etwas setzt voraus, dass Menschen frei sind in ihren Entscheidungen, dass sie über Gut und Böse selbst befinden können. Und dass sie, im Falle sie das Gute tun, belohnt zu werden verdienen. Und im Falle des Bösen bestraft gehören."
Aber nicht nur die griechisch-römische Philosophie, sondern auch das alttestamentliche Judentum hat genau genommen eine Tugendlehre entwickelt; darum geht es Drewermann im Vorwort seines neuen Buches "Die sieben Tugenden". Der Maßstab eines tugendhaften Lebens sind nach jüdischem Glauben die zehn Gebote Mose: Wer sich ihnen fügt, gilt als ein guter, weil gottgefälliger Mensch. Wer sie in den Wind schlägt, als sündhaft und böse.
Das Christentum, so Drewermann, wirft eine Frage auf, die weder im Judentum noch in der griechischen Philosophie Beachtung fand. Die Frage: Kann ein Mensch denn immer gut und tugendhaft sein, ganz einfach, weil er will?
Paulus, der Apostel Jesu Christi, ist in dieser Hinsicht weit weniger optimistisch als jüdische Propheten und griechische Philosophen. Sein Brief an die Christengemeinde in Rom ist auch ein Dokument der Selbsterkenntnis und der Selbstkritik:
"Das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich!"
heißt es im 7. Kapitel des Römerbriefes, den Drewermann zitiert.
Woher diese Offenherzigkeit des Paulus? Dieser Mut, die eigenen moralischen Gebrechen klar zu erkennen und sie anderen mitzuteilen? – Drewermann hat eine schlichte Erklärung: Paulus fühlte sich geliebt. Geliebt und verstanden von einem väterlichen Gott, den Jesus von Nazareth ihm offenbart hatte. Denn Jesus lässt den Gott der Juden in einem neuen Licht erscheinen: als Gott der Liebe, der Barmherzigkeit und der Vergebung.
"Was Jesus wollte, war ganz sicher keine neue Religion. Aber er wollte, dass man von Gott endlich aufhört zu reden als dem dauernd Strafenden, dem Gesetze Erlassenden, dem mit erhobener Faust Dräuenden. Er wollte uns einen Gott schenken, dem wir vertrauen können, egal, was passiert:
zu ihm zurückkehren zu können und noch viel mehr: von ihm gesucht werden, wenn wir uns verloren haben."
Der Glaube an die väterliche Güte Gottes. Die Liebe zu diesem Gott, zu sich selbst und zu den Mitmenschen. Und schließlich die Hoffnung, dass die Liebe als eine Gotteskraft unendlich sei – das sind laut Paulus die ersten Tugenden eines Christen. Drewermann hat ihnen je ein Kapitel seines Buches gewidmet. Allerdings weist er gleich im ersten darauf hin: Glauben können mit ganzer Kraft, Lieben und Hoffen mit ganzem Herzen ist mehr als nur eine Sache der Moral, denn sie ist mehr als eine menschliche Willensentscheidung:
"Nichts von alledem ist mit Anstrengungen herbei zu zwingen, es lässt sich nur als ein Geschenk in Empfang nehmen."
Als ein Gottesgeschenk, über dessen Wert und Bedeutung man allerdings nachdenken und um das man bitten kann im Gebet. Deshalb, so Drewermann, kann man über christliche Tugenden auch keine moralphilosophischen Abhandlungen verfassen. Man kann darüber nur predigen, so wie Jesus es getan hat und später Paulus. Das tut auch Drewermann in seinem Buch; die sieben Kapitel lesen sich wie sieben Predigten über die Tugend. - Den ersten drei über Glauben, Lieben und Hoffen folgt je eine Predigt über Weisheit, über Tapferkeit (oder Mut), über Mäßigung und schließlich über Gerechtigkeit. Die Einübung dieser vier moralischen Lebenshaltungen wurde bereits von griechischen Philosophen, aber auch von jüdischen Propheten empfohlen. In Drewermanns Buch allerdings werden sie nicht als primäre, sondern als abgeleitete Tugenden betrachtet:
"Es handelt sich dabei um eine bloße Folgebeschreibung von Einstellungen, die sich ergeben, wenn Menschen durch Glauben, Hoffen und Lieben starke und wahrhaft gute Menschen werden."
"Das Christentum ist die Entdeckung, dass man Menschen erlösen muss, um zu dem, was man sittlich gut nennt, sie überhaupt erst zu befähigen!"
sagt Drewermann, ein Theologe, der wegen seiner Kritik an verschiedenen Lehrmeinungen und vor allem an Machtmechanismen der römisch-katholischen Kirche vom Lehr- und vom Priesteramt suspendiert wurde; mittlerweile ist er aus dieser Kirche ausgetreten. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – versteht sich Eugen Drewermann als Seelsorger und als Therapeut im christlichen Sinn:
"Absolut! Ich habe die Auseinandersetzung mit der römischen Kirche ja nicht geführt einfach so. Sondern im Engagement, seelsorglich, für die, die erkennbar in dieser römischen Kirche, an dieser römischen Kirche leiden."
Der Theologe Drewermann beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Psychologie, besonders mit der Psychoanalyse in der Tradition von Sigmund Freud. Hier findet er Antworten auf Fragen, die Christen wie Paulus oder auch Martin Luther gestellt haben: Warum können Menschen manchmal nicht gut sein, nicht tugendhaft handeln, obwohl sie das doch eigentlich wollen? Oder: Warum sind sie nicht imstande, ihre moralischen Gebrechen überhaupt zu erkennen?
Die Tugenden des Mutes zum Beispiel und auch die, sich unerschrocken einzusetzen für Gerechtigkeit, sagt Drewermann, seien oft beschädigt bei Menschen, die eine allzu autoritäre Erziehung erlitten haben; sie hätten das Mutig-Sein in der Kindheit verlernt.
"Kinder, die groß werden, ständig unter dem erhobenen Zeigefinger: "Du musst brav sein!", werden so verwirrt, dass sie’s beim besten Willen nicht mehr können! Selbst wenn sie sich aus Angst fügen, knirschen sie mit den Zähnen inwendig. Und das verformt ihren Charakter."
Wessen Eigenwillen in jungen Jahren gebrochen worden ist, muss als Erwachsener neu lernen, etwas entschieden zu wollen und das auch mutig einzufordern, betont Eugen Drewermann. In schweren Fällen komme man kaum ohne gute Therapeuten aus.
Fazit: Ein lesenswertes Buch. Nicht nur für Christen, sondern für alle, denen die Selbsterkenntnis am Herzen liegt. Besonders aber für Amtsträger in den christlichen Kirchen, schon wegen Drewermanns Überlegungen in Sachen ‚Zukunft der christlichen Seelsorge’. Er meint, Priester und Pfarrer sollten ihre Gemeindeglieder nicht nur ermahnen, Sünden zu bekennen, sondern sie zuerst und vor allem ermutigen, die sieben Tugenden zu üben.
Literaturhinweis:
- Eugen Drewermann: "Die sieben Tugenden - oder: Weisen, mit sich eins zu werden", Patmos Verlag 2012, 208 Seiten