"Das Gefühl, großes Kino gesehen zu haben"
Die Löwen bei den Filmfestspielen in Venedig sind verliehen worden. Unsere Kritiker Anke Leweke und Patrick Wellinski zeigen sich begeistert sowohl vom aktuellen Jahrgang als auch von den Entscheidungen der Jury.
Unser Filmkritiker Patrick Wellinski sagt, er sei noch ganz elektrisiert von der Entscheidung der Jury, Alfonso Cuarón für seinen von Netflix produzierten Film "Roma" mit dem Goldenen Löwen auszuzeichnen: "Selten ist man mit der Jury so einer Meinung, wie nach dieser Preisvergabe. Für mich gehen alle Preise in Ordnung, aber dieser ganz besonders."
Obwohl der Film schon am zweiten Tag des Festivals gezeigt wurde, hätten sich die sehnsüchtigen Bilder festgesetzt. Der Film sei eine schöne und sehr persönliche Geschichte: "Eine Liebeserklärung an die Nanny von Alfonso Cuarón. Das Ganze spielt in den 70-er Jahren in Schwarz-Weiß und diese Nanny ist Herz und Seele dieser Familie und hält sie zusammen."
Produzent Netflix zeigt sich risikofreudig
Anke Leweke sagt, dass der Film ein sehr schönes langsames Erzähltempo habe, bei dem man sich gut in den Alltag der Familie einfinde. Schon über die Topographie des Hauses werde sehr viel erzählt und die Nanny bekomme eine komplexe Biographie, sie habe nämlich einen indigenen Hintergrund. "Der Film erzählt dieses große Paradox: Sie gehört zur Familie, aber sie bleibt trotzdem immer die Angestellte."
Leweke findet es gut, dass man mit Netflix einen Produzenten habe, der Regisseuren wie Alfonso Cuarón die Mittel zur Verfügung stelle. Auf Schwarz-Weiß zu drehen sei ziemlich teuer und man könne sich als Produzent die Frage stellen, wer sich das überhaupt anschauen will. "Da hat sich Netflix sehr risikofreudig gezeigt." Neben Roma wurde noch ein weiterer Netflix-Film ausgezeichnet, nämlich "The Ballad of Buster Scruggs" von den Coen-Brüdern für das beste Drehbuch.
Aggressive Frauen in perfider Versuchsanordnung
Der Film "The Favourite" von Giorgos Lanthimos, der den Großen Preis der Jury gewonnen hat, zeige laut Leweke sehr gut, "dass die Filme, wenn sie wirklich Kino waren, wenn sie abgehoben haben, eigentlich am meisten unsere Wirklichkeit reflektiert haben, auch wenn sie im 18. Jahrhundert im britischen Königshaus spielen. Man muss sich den Film als perfide Versuchsanordnung vorstellen, wie Menschen mit Macht umgehen, und man ist so schön schockiert, wie selbstverständlich aggressiv die Frauen sind."
Patrick Wellinski freut sich darüber, dass Olivia Colman für die Rolle der Queen Anne in "The Favourite" als beste Darstellerin ausgezeichnet worden ist: "Diese Schauspielerin kommt aus einer Comedy-Schule und ist unglaublich begabt, was das Stand-Up-Comedy-Fach betrifft. Man kennt sie aus britischen Serien und jetzt steigt sie in den Olymp auf."
"Wir sehen, wie Kunst entsteht"
In dem Film "At Eternity's Gate" von Julian Schnabel, für den Willem Dafoe für seine Rolle als Vincent van Gogh als bester Darsteller ausgezeichnet wurde, sehe man gut, was für ein physischer Darsteller Dafoe sei, meint Leweke. "Man sieht sehr schön, wie er mit sich ringt, wenn er durch die Landschaft läuft, wie er nach dem bestimmten Licht sucht. Wir sehen da, wie Kunst entsteht, dass Künstler etwas sehen, das wir nicht sehen."
Patrick Wellinski ergänzt: "Es ist auch schön zu sehen, wie der Regisseur Julian Schnabel versucht, den künstlerischen Akt des Malens einzufangen." Der Film verlange zudem sehr viel von Willem Dafoe, da er in jeder Szene zu sehen sei. "Aber das kann er auch einlösen."
"Es war eine hochinteressante und auch hochemotionale Fahrt in den letzten Tagen", resümiert Wellinski. "Wir sind ja auf dieser Insel sozusagen eingeschlossen und reden tagtäglich über die Filme. Auf den anderen Festivals gibt es Möglichkeiten zu fliehen, hier sind wir nahe bei der Kunst, an der Kunst und sie reflektiert auf uns zurück, also eine sehr intensive Zeit hier. Anke Leweke fügt hinzu: "Ich hatte das Gefühl in den letzten zehn Tagen großes Kino gesehen zu haben und dabei auch immer in der Wirklichkeit gesessen zu haben."