Die Sozialstaat-Debatte reloaded

Von Peter Lange, Chefredakteur Deutschlandradio Kultur |
Es liegt etwas mehr als zehn Jahre zurück. Da kam Heinz Schleußer, der langjährige sozialdemokratische Finanzminister von Nordrhein-Westfalen, einmal zu folgender Diagnose: Gekniffen sind in Deutschland die Leute mit einem Bruttoeinkommen zwischen 5000 und 10.000 Mark. Sie verdienen zu viel, um von staatlichen Transferleistungen zu profitieren. Und sie verdienen zu wenig, um durch Verlustzuweisungen und Abschreibungen ihre Steuerlast gestalten, sprich vermindern zu können.
Was Guido Westerwelle entdeckt haben will, ist also gar nichts Neues; die Belastung der Mittelschichten wurde schon damals thematisiert, nur nicht so schrill, so selbstgerecht, nicht so populistisch, und nicht so einseitig.

Arbeit muss sich wieder lohnen. Wer will da widersprechen. Für viele normale Menschen mit normalen Berufen lohnt sie sich nicht mehr. Aber lohnt sie sich dann mehr, wenn es dem arbeitslosen Nachbarn noch schlechter geht?

Westerwelles Ausfälle sind nichts anderes als ein Appell an die Neidinstinkte des frustrierten Kleinbürgertums. Wenn es mir schon nicht gut geht, obwohl ich mich 40 Stunden die Woche krumm mache, dann will ich wenigstens sehen, dass es denjenigen noch schlechter geht, die gar nicht arbeiten.

Der Abstand zwischen vielen Erwerbseinkommen und der staatlichen Grundsicherung ist zu klein geworden. Vermutlich auch richtig. Aber nicht, weil die staatliche Grundsicherung so komfortabel ist, sondern weil Erwerbsarbeit nur noch mit besseren Taschengeldern entlohnt wird. Seit 1990 sind die Bruttoeinkommen, wenn man die Inflation berücksichtigt, in ganz vielen Berufen deutlich zurückgegangen.

Vor 20 Jahren konnten Angehörige einfacher Lehrberufe mit einem Einkommen den Unterhalt für eine Familie auskömmlich sichern. Heute brauchen vergleichbare Familien ein zweites Einkommen. Und die Zahl derer, die trotz Vollzeitjob auf staatliche Hilfe angewiesen sind, nimmt stetig zu. Working poor, ein Phänomen aus den USA, ist auch bei uns längst Realität.

Nur: Auch davon redet Guido Westerwelle nicht. Und es hat auch die FDP bisher kaum gekümmert, die diesem Trend im Gegenteil das Wort geredet hat. Denn ihre Klientel ist es vor allem, die von der Entwertung der Arbeit profitiert. Deswegen hat sie auch das geringste Interesse, gegen die Lohnspirale nach unten einen Boden einzuziehen. Und es ist vermutlich nicht nur Zufall, dass diese Entwicklung eingesetzt hat, seit der westdeutsche Kapitalismus nicht mehr den Beweis erbringen muss, auch in sozialer Hinsicht und für kleine Leute mehr zu bringen als der Staatssozialismus ostdeutscher Prägung.

Fragt man nach den Ursachen, dann kommen einem die Politiker dieser Couleur immer mit der Globalisierung, gegen die man ja so machtlos ist wie gegen das Winterwetter. Dabei liegt die Ursache viel näher. Der Arbeitsmarkt mit seinem Überangebot an Arbeitskräften lässt es einfach zu, dass Arbeit billiger zu bekommen ist. Und der rechtliche Rahmen für den Niedriglohnsektor hat seit den Arbeitsmarktreformen von Gerhard Schröder den Druck noch erhöht.

Und ja: Es gibt auch Missbrauch. Jede staatliche Transferleistung trägt die Möglichkeit des legalen Missbrauchs in sich. Dem Sozialhilfeempfänger, der alle Schlichen kennt, um geregelter Arbeit auszuweichen, steht der sehr gut verdienende Mittelschichtler gegenüber, der sich steuerlich so arm rechnen kann, dass seine Kinder Anspruch auf Bafög haben. Sollte irgendwann im Gesundheitswesen die Kopfpauschale mit Sozialausgleich über Steuern eingeführt werden, dann werden wir uns umschauen, wer da alles einen Steuerzuschuss verlangt.

Man kann den Regierungen seit 1998 vieles vorwerfen, aber eines nicht: dass sie nicht versucht hätten, das Problem der verfestigten Langzeitarbeitlosigkeit und Dauersozialhilfe anzugehen - mit zum Teil untauglichen Mitteln, mit unzureichenden Ergebnissen, mit erheblichen negativen Nebenwirkungen. Darüber lohnt es, nachzudenken und zu streiten. Für die billige und unredliche Keilerei einer Partei, der im NRW-Wahlkampf die Felle davon schwimmen, taugt dieses Thema aber nicht.