Die spirituellen Empfindungen von Sterbenden
Monika Renz ist Psychologin und Theologin, hat in beiden Fächern promoviert und leitet seit 1998 die Psycho-Onkologische Station des Kantonsspitals St. Gallen in der Schweiz. Dieses Buch ist die überarbeitete Neuauflage der Ergebnisse eines Forschungsprojekts, das sie von 2000 bis 2003 an 251 sterbenskranken Krebspatienten durchführte.
Die Frage lautete: Wodurch werden spirituelle Erfahrungen ausgelöst, wie ereignen sie sich, wie werden sie von den Betroffenen beschrieben und was lässt sich über ihren Inhalt aussagen?
Nun ist "Spiritualität" weitgehend zum Modewort verkommen und Monika Renz stellt erstens klar, dass sie damit weder buddhistische, jüdische, islamische oder christlich-konfessionelle, aber auch keine esoterischen Seelenwellness-Praktiken meint. Sondern "spirituell" nennt sie "die Erfahrung des ewig Anderen, das Ergriffensein von einem Geheimnis, eine Intimität jenseits des Körperlichen", das "existenzielle Mit-mir-Sein". Längst nicht alle Probanden bezeichneten nämlich ihr Erleben als "Gott", "Jesus", "Engel" oder das vielzitierte "Licht", wie es von Menschen mit Nahtod-Erfahrung berichtet wird.
Aber: 135 ihrer 251 Patienten berichteten von "neu gewonnener Ruhe", von "Heiterkeit", "tiefer Gelassenheit" oder von einem "Versöhntwerden mit dem Sterbenmüssen". 72 Personen starben noch während der Projektdauer und nur 63 konnten in ihren Alltag zurückkehren.
Damit macht die Autorin zweitens klar, dass es zwischen der rein schulmedizinisch-pharmazeutischen, platt biologistischen Behandlung des Sterbenden und einer pseudoreligiös verschwurbelten Mystifizierung des Sterbens einen dritten Weg geben muss: die "für Spiritualität offene Psychotherapie" nämlich. Dafür plädiert Monika Renz, und das tut sie überzeugend, finde ich.
Die eigentliche Sensation der Forschungsarbeit: Alle 135 "spirituell erfahrenen" Patienten gaben zu Protokoll, ihre Wahrnehmung von Raum und Zeit, von Körper und Geist habe sich "befreiend" verändert. In der Schuldfrage zum Beispiel. "Der abendländische Mensch denkt und erlebt kausal, ob er will oder nicht", schreibt die Autorin, "und deshalb müssen entweder Gott oder die Umwelt oder ich selbst schuld sein, dass es Krebs gibt."
Dieses Denken und Fühlen loszulassen komme einer "Erlösung" gleich, meint Monika Renz, und die sei von bloßer Intuition, von Fantasiereisen oder Träumen eines Patienten nicht herstellbar, sondern solches "Erlöstwerden" sei eben ein unverfügbares, spirituelles Erlebnis.
Skeptisch bleibe ich hinsichtlich ihrer Methodik: Selbst jene Sterbenden, die noch sprechen können - beschreiben die das Erlebte zutreffend? Und wenn sie es zutreffend beschreiben – kommt dann ihre Deutung zur Sprache oder die der Psychologin? Interpretiert Monika Renz womöglich etwas "Spirituelles" in die Kranken hinein?
Sie entkräftet diesen Verdacht, indem sie ihr Buch mit vielen Fallbeispielen unterfüttert. Diese Passagen sind hochspannend zu lesen, aber in der Häufung auch furchtbar bedrückend. Sie machen das Grundproblem aller Sterbebegleitung anschaulich: Dass man das Unsagbare eben nicht sagen kann. "Welche Sprache erreicht den Körper und das Unbewusste des Patienten?" fragt die Autorin schon früh in ihrem Buch. Die der Musik, des Symbols, des Ritus, "die Sprache der Atmosphäre, der Berührung und des Zeichens" antwortet sie am Schluss. Ein Plädoyer für den notwendigen Trialog zwischen Medizin, Psychologie und Theologie. Ein Augenöffner für Betroffene, ihre Angehörigen und Pflegekräfte.
Zur Autorin: Dr. phil. Dr. theol. Monika Renz ist Musik- und Psychotherapeutin im Kantonsspital St. Gallen in der Schweiz und leitet dort auf der Krebsstation die psychotherapeutische Abteilung. Mit ihrer 2003 erstmalig publizierten Forschungsarbeit "Grenzerfahrung Gott" hat Monika Renz die im Fachgebiet Sterbeforschung und Palliativmedizin jahrzehntelang gültige Deutungshoheit der Amerikanerin Elisabeth Kübler-Ross gebrochen und ein Standardwerk vorgelegt, das jetzt, 2010, in einer laienverständlich überarbeiteten Neuauflage erschienen ist.
Besprochen von Andreas Malessa
Monika Renz: Grenzerfahrung Gott. Spirituelle Erfahrungen in Leid und Krankheit
Kreuz-Verlag, Freiburg 2010
280 Seiten, 19,95 Euro
Nun ist "Spiritualität" weitgehend zum Modewort verkommen und Monika Renz stellt erstens klar, dass sie damit weder buddhistische, jüdische, islamische oder christlich-konfessionelle, aber auch keine esoterischen Seelenwellness-Praktiken meint. Sondern "spirituell" nennt sie "die Erfahrung des ewig Anderen, das Ergriffensein von einem Geheimnis, eine Intimität jenseits des Körperlichen", das "existenzielle Mit-mir-Sein". Längst nicht alle Probanden bezeichneten nämlich ihr Erleben als "Gott", "Jesus", "Engel" oder das vielzitierte "Licht", wie es von Menschen mit Nahtod-Erfahrung berichtet wird.
Aber: 135 ihrer 251 Patienten berichteten von "neu gewonnener Ruhe", von "Heiterkeit", "tiefer Gelassenheit" oder von einem "Versöhntwerden mit dem Sterbenmüssen". 72 Personen starben noch während der Projektdauer und nur 63 konnten in ihren Alltag zurückkehren.
Damit macht die Autorin zweitens klar, dass es zwischen der rein schulmedizinisch-pharmazeutischen, platt biologistischen Behandlung des Sterbenden und einer pseudoreligiös verschwurbelten Mystifizierung des Sterbens einen dritten Weg geben muss: die "für Spiritualität offene Psychotherapie" nämlich. Dafür plädiert Monika Renz, und das tut sie überzeugend, finde ich.
Die eigentliche Sensation der Forschungsarbeit: Alle 135 "spirituell erfahrenen" Patienten gaben zu Protokoll, ihre Wahrnehmung von Raum und Zeit, von Körper und Geist habe sich "befreiend" verändert. In der Schuldfrage zum Beispiel. "Der abendländische Mensch denkt und erlebt kausal, ob er will oder nicht", schreibt die Autorin, "und deshalb müssen entweder Gott oder die Umwelt oder ich selbst schuld sein, dass es Krebs gibt."
Dieses Denken und Fühlen loszulassen komme einer "Erlösung" gleich, meint Monika Renz, und die sei von bloßer Intuition, von Fantasiereisen oder Träumen eines Patienten nicht herstellbar, sondern solches "Erlöstwerden" sei eben ein unverfügbares, spirituelles Erlebnis.
Skeptisch bleibe ich hinsichtlich ihrer Methodik: Selbst jene Sterbenden, die noch sprechen können - beschreiben die das Erlebte zutreffend? Und wenn sie es zutreffend beschreiben – kommt dann ihre Deutung zur Sprache oder die der Psychologin? Interpretiert Monika Renz womöglich etwas "Spirituelles" in die Kranken hinein?
Sie entkräftet diesen Verdacht, indem sie ihr Buch mit vielen Fallbeispielen unterfüttert. Diese Passagen sind hochspannend zu lesen, aber in der Häufung auch furchtbar bedrückend. Sie machen das Grundproblem aller Sterbebegleitung anschaulich: Dass man das Unsagbare eben nicht sagen kann. "Welche Sprache erreicht den Körper und das Unbewusste des Patienten?" fragt die Autorin schon früh in ihrem Buch. Die der Musik, des Symbols, des Ritus, "die Sprache der Atmosphäre, der Berührung und des Zeichens" antwortet sie am Schluss. Ein Plädoyer für den notwendigen Trialog zwischen Medizin, Psychologie und Theologie. Ein Augenöffner für Betroffene, ihre Angehörigen und Pflegekräfte.
Zur Autorin: Dr. phil. Dr. theol. Monika Renz ist Musik- und Psychotherapeutin im Kantonsspital St. Gallen in der Schweiz und leitet dort auf der Krebsstation die psychotherapeutische Abteilung. Mit ihrer 2003 erstmalig publizierten Forschungsarbeit "Grenzerfahrung Gott" hat Monika Renz die im Fachgebiet Sterbeforschung und Palliativmedizin jahrzehntelang gültige Deutungshoheit der Amerikanerin Elisabeth Kübler-Ross gebrochen und ein Standardwerk vorgelegt, das jetzt, 2010, in einer laienverständlich überarbeiteten Neuauflage erschienen ist.
Besprochen von Andreas Malessa
Monika Renz: Grenzerfahrung Gott. Spirituelle Erfahrungen in Leid und Krankheit
Kreuz-Verlag, Freiburg 2010
280 Seiten, 19,95 Euro