Die Sprache als Freundin

Richard Pietraß im Gespräch mit Jürgen König · 30.12.2009
Richard Pietraß hat nnerhalb eines Jahres gleich drei Bände herausgegeben. Im Gespräch erläutert der Lyriker Beweggründe für sein Schreiben, spricht über Schreibanlässe und Publikationsmöglichkeiten.
Dieter Kassel: Paul Fleming lebte von 1609 bis 1640 und war einer der bedeutendsten Dichter des deutschen Barock. Inger Christensen lebte von 1935 bis Anfang 2009 und sie war eine der bedeutendsten europäischen Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts. Richard Pietraß wurde 1946 geboren und er ist ebenfalls Lyriker. Im jetzt zu Ende gehenden Jahr sind gleich drei Bücher von ihm erschienen, eines über Fleming, eines über Christensen und eines über ihn selbst. Mein Kollege Jürgen König hat deshalb mit ihm gesprochen.

Jürgen König: Herr Pietraß, die "FAZ" zitierte Inger Christensen einmal mit dem Satz: "Wenn ich Gedichte schreibe, dann kann es mir einfallen, so zu tun, als schriebe nicht ich, sondern die Sprache selbst." Fällt Ihnen sowas auch manchmal ein? "Dann kann es mir einfallen, so zu tun, als schreibe ich nicht ich, sondern die Sprache selbst."

Richard Pietraß: Nein, aber mir gefällt der Satz, weil er ein bisschen augenzwinkernd ist, denn sie ist eine große Meisterin mit viel Kalkül, mit viel Versenkung in die Weltgesetze, in die Weltschönheit, das ist große Bescheidenheit und zugleich kokettes Spiel. Ich bemühe mich auch um beide diese Tugenden, die Bescheidenheit und das Spiel, aber das hätte ich wahrscheinlich nie gesagt, dass die Sprache aus mir spreche, obwohl sie meine Freundin ist, sie mir viel gestattet und ich aber auch versuche, sie auf Touren zu bringen, die Sprache, und sie auch zu bereichern, ihr Worte zu schenken, die in ihr schlummerten, die sie selbst noch nicht kannte. Das ermöglicht das Deutsche, schon durch die Komposita kann man einen Zweitkosmos von Zusammensetzungen schaffen.

König: Ihr Buch über Inger Christensen ist ein Band der Reihe Poesiealbum, und der beginnt mit dem Gedicht "Der Winter" und davon würde ich gerne den Anfang lesen. "Der Winter erwartet viel dies Jahr, der Strand ist schon steif. Alles soll eins, soll eins werden dies Jahr, Flügel und Eis, eins werden in der Welt. Alles soll verwandelt werden in der Welt, das Boot soll seine Schritte auf dem Eis hören, der Krieg soll seinen Krieg auf dem Eis hören, die Frau soll ihre Stunde auf dem Eis hören, die Stunde der Geburt, in Todeseis. Der Winter erwartet viel." Ist das ein bezeichnendes Gedicht für Inger Christensen, "Der Winter"?

Pietraß: Das Gedicht war ziemlich unbekannt, berühmt ist sie für ihre großen Zyklen: "Alphabet", "Das Schmetterlingstal", und dieses Gedicht ist aus ihrem frühen Band "Lys", also zu Deutsch Licht, den ich erst vor einem halben Jahr geholt habe, weil ich außer den großen Zyklen noch auch was anderes doch sichten wollte, und war ganz beglückt, dass es diese zarten, stillen und doch tiefernsten und philosophischen, also der sinnlichen Gedichte gibt, und "Der Winter" ist das herausragende, ich habe es vorangestellt, und das Heft auch gegen den Widerstand meines Verlegers auf weiß setzen lassen.

König: Was macht die Größe Inger Christensens aus?

Pietraß: Es ist ein tiefer Lebensernst, es ist die nicht verschwiegene Todesangst, die wir mit ihr teilen, die wir alle auf unsere Weise immer wieder auch erfolgreich, zum Glück, verdrängen. Es ist die sinnliche Geerdetheit, es ist diese Gleichzeitigkeit von Formel und Fatum.

König: Also, das Formelhafte und das Schicksalhafte zusammengebracht.

Pietraß: Ja, das Kühle, das Konstruierte, und zugleich das schicksalhaft, wieder ganz geschöpfhaft geworfene, Schwache, Kleine, dass sie das in Balance bringt, souverän zu sein, wie der Homo sapiens sein möchte und auch immer wieder ist, und zugleich wieder fast ein Kind nur zu sein, abhängig vom Großen, vom Starken, von den Gegebenheiten der Welt.

König: Sie haben auch, Herr Pietraß, herausgegeben zum 400. Geburtstag des Dichters am 15. Oktober das Buch "Ich bin ein schwaches Boot ans große Schiff gehangen. Die Lebensreise des Paul Fleming in seinen schönsten Gedichten". Dieses Buch beginnt mit dem Gedicht "Gedanken über der Zeit", und das geht zu Beginn so: "Ihr lebet in der Zeit und kennt doch keine Zeit, so wisst ihr Menschen nicht von und in was ihr seid. Dies wisst ihr, dass ihr seid in einer Zeit geboren, und dass ihr werdet auch in einer Zeit verloren. Was aber die Zeit, die euch in sich gebracht, und was wird diese sein, die euch zu nichts mehr macht? Die Zeit ist was und nichts, der Mensch in gleichem Falle. Doch was dasselbe was und nichts sei, zweifeln alle."

Pietraß: Ja, das ist ein Gedicht des jungen Fleming, der Medizinstudent in Leipzig war, in schwerster Zeit, während des Dreißigjährigen Krieges, während der Pest. Er hatte aber in Leipzig einen guten Studienort, der ehemalige Thomaner, und er hatte einen hervorragenden Lehrer, zum Beispiel Adam (…), dem er auch späterhin verdankte das Mitgenommenwerden auf diese große Gesandtschaftsreise, die Handelswege erkunden sollte, um internationalen Meeresembargos zu entgehen, und da war er mehrere Jahre unterwegs, von Schleswig-Holstein bis nach Persien und zurück.

König: Die Lebensreise …

Pietraß: Ja, nach dieser Reise wurde er zum großen Dichter.

König: Diese barocke Sprache mutet ja in ihrer Fremdheit schon wieder fast modern an, weil man jedes Wort sich irgendwie selber neu erarbeiten muss, um es zu verstehen, obwohl das eigentlich ganz einfach ist, was er sagt.

Pietraß: Ja. Ich bin eher erstaunt, wie wenig fremd die barocke Sprache uns geworden ist. Wenn man sich ein kleines bisschen einliest, fühlt man sich schnell heimisch und spürt aber auch so die originäre Kraft einer nicht dudengeregelten Sprache, auch jetzt in der Schreibweise. Überhaupt ist das Barock uns nah, weil "ich bin ein schwaches Boot an große Schiff gehangen, muss folgen, wie und wenn und wo man denkt hinaus". Es ist Dichtung einer Krisenzeit, eines Krisenjahrhunderts, und wir sind wieder in einer großen Krise, sodass wir gerade jetzt von der stoischen Gefasstheit der Barockdichter viel an Ermutigung und Selbstvergewisserung und Selbstermunterung ziehen können.

König: Es ist ein drittes Buch von Ihnen gerade erschienen, "Kippfigur. Ein Kiebitzbuch über die Schulter von Richard Pietraß geschaut." Die beginnt gleich im Klappenumschlag mit dem Gedicht beziehungsweise mit dem Ende eines Gedichtes, mit den letzten vier Zeilen: "Ich sitze mit meinem Bleistift und weiß nicht, durch die Hintertür welchen Gedichts ich diesmal entkomme." Sind Sie beim Schreiben manchmal auf der Flucht?

Pietraß: Es hat sich … es ist vielleicht eher etwas gedreht, gewendet. Das Gedicht ist das Titelgedicht meines ersten, ausgewachsenen Buchs "Notausgang", das 1980 erschienen ist, das ist aus den 70er-Jahren. Und bei meiner damaligen Situation, als ich ein Student war und oft auch in Bedrängnis, sei es die Prüfungsnot, sei es finanzielle Klammheit oder was auch immer, bleibe ich oft in eine Ecke gedrängt, aus der es eigentlich kein Entkommen mehr gab.

Und da half nur noch sozusagen der Salto poetale des Gedichts, verzauberte Verblüffung, wo die anderen, die (…) vielleicht in die Ecke getrieben hatten, etwas wie gebannt steht, was hat er denn jetzt gemacht? Ja, aber da ist er, weggelaufen ist er, er hat mit dem (…) des Gedichts sich aus der Bedrängnis gezaubert.

König: Ich möchte Sie bitten, ein Gedicht von Ihnen zu lesen, nämlich "Die Kippfigur".

Pietraß: Gerne. "Kippfiguren. Bin ich zu jung, zu alt, mich dir einzubrennen? Regen nagelt den See, ohne ihn zu erkennen. Ich treibe in Rippenstößen unter deine Wellenhaut, ob ich an dir nippe, ob in Tiefschlaf kippe. Ich bin der graue Fetzen, der zerfließend blaut."

König: Komisch, Sie haben das jetzt so ernst gelesen, ich habe das viel fröhlicher gelesen, als ich es leise las.

Pietraß: Kann man natürlich, aber es ist einerseits ein Beginn fröhliches Gedicht, ich schrieb es oder es kam mir in den Sinn, als ich bei einem aufkommenden Regen in einen See bei Rheinsberg stieg, in den Witwesee, und ich sah, wie die Tropfen ins Wasser schlugen.

König: Den See nagelten.

Pietraß: Wie Nägel, aber jeder Nagel sprang wieder raus. Und das war ein großes Erlebnis, da kam mir das ein, aber die Schlusswendung ist auch eine metaphysische, ein, wie nennt man das noch, ein transzendenter Trost. Es ist eine Formel …

König: Sagen Sie sie noch mal?

Pietraß: Ja. "Ich bin der graue Fetzen, der zerfließend blaut." Das ist eine Formel, in die ich mich verliebt habe. Jeder muss bereit sein zu gehen und sich unsichtbar zu machen dadurch, aber wenn man, indem man sich auflöst, zum Wiederblausein des Himmels beiträgt, zerfließend blauen, dann ist es ein schönes Vergehen, dann war ich als Wolke oder als Nebel den anderen nur grau im Wege, und auf einmal ist wieder alles blau und schön. Das ist meine Glücksvorstellung, zerfließend blauen, Zerblauen ist auch das Leuchten, was man vermocht hat, das Leuchten des Werks, das ist auch das Blauende, könnte ich sagen.

König: Wenn man das hört, dann denkt man, ja, das verstehe ich, dann denkt man wieder, nein, ich verstehe es nicht, und dann hat man das Gefühl, dass es eigentlich gar nicht wichtig ist, ob man es versteht oder nicht, sondern dass da irgendwie etwas anderes ist und dass es gerade dieses Etwas ist, das nicht bestimmbar ist, das aber in uns nachklingt.
Pietraß: Ja. Das Verstehen ist ein Auflösen auch, wir tun einen Kandiszucker in den Tee, langsam löst er sich auf, und indem wir den Tee dann gesüßt trinken, haben wir das Gedicht verstanden. Wenn aber ein kleiner Rest bleibt, der sich nicht auflöst, dann lesen wir das Gedicht auch wieder und wieder in der Hoffnung, dass auch wir dem kleinen Rest noch nahekommen. Und das ist der magische Rest, der irrational unauflösliche Rest, der sehr wichtig, dass ein Gedicht eine Langzeitwirkung hat, dass es nicht abgehakt werden kann.

König: Ich habe vorhin ein Gedicht meinem Kollegen vorgelesen und wir hatten alle danach eine Gänsehaut, da Sie das viel besser lesen könnten, möchte ich Sie bitten, auch das selber zu tun, "Das Gängelband".
Pietraß: Schön! "Gängelband. Du führst mich tot an langer Leine, ich schicke mich zeilenschindend drein, wenn ich mich windend innehalte, holst du die Leine eine Elle ein."

König: Und jetzt kriege ich wieder eine Gänsehaut.

Pietraß: Das ist gut so!

König: Wenn Sie innehalten mit dem Schreiben, das besagt ja der Text, nehmen wir den mal ganz wörtlich, dann spüren Sie sozusagen, wie das Leben schneller zerrinnt, wie der Tod näher rückt.

Pietraß: Ja. Da wird dem Faulpelz die Leine gekürzt, der Tod hat ein Einsehen, hat eine Zeitkreditwilligkeit, solange wir uns regen und tun, aber wenn wir faule Säcke werden und die Hände in den Schoß legen, (…) die Leine ganz einholen und uns an Bord holen. Jedenfalls so sehe ich das, dass eben Untätigkeit bestraft werden könnte, indem er sagt, du bist ein Nichtsnutz geworden. Also versuche ich mich, obwohl ich große Sehnsucht habe nach Faulsein und nach Innehalten, immer wieder eingedenkt in dieser Formel regsam zu halten und etwas zu tun, womit ich andere, aber auch mich, erfreuen kann.

König: Herr Pietraß, ich danke Ihnen und wünsche Ihnen ganz, ganz viele Gelegenheiten zur Arbeit.

Pietraß: Schön, ich danke Ihnen für dieses vergnügliche Gespräch!

Kassel: Vergnügliches Gespräch mit dem Schriftsteller Richard Pietraß führte mein Kollege Jürgen König. Pietraß hat, wie erwäht, gleich drei Bücher in diesem Jahr veröffentlicht zu den Werken von Paul Fleming, zu den Werken von Inger Christensen und zu seinen eigenen, die sind auch noch in verschiedenen Verlagen erschienen, deshalb schlage ich einfach mal vor, bevor ich etwas sage, was Sie sowieso nicht so schnell mitschreiben, gucken Sie im Internet nach, da finden Sie alle Angaben zu den Büchern unter www.dradio.de.