Die Stadt als Stoffwechselkreislauf

Moderation Britta Bürger |
Auf der International Water Week in Amsterdam werden in dieser Woche technische Innovationen rund um die Wasserver- und die Abwasserentsorgung vorgestellt. Architekt Michael Prytula erklärt, warum der sparsame Umgang mit Wasser städtische Abwassersysteme blockieren kann oder wie Mikroben Wasser wieder aufbereiten.
Britta Bürger: In Amsterdam, der wasserreichsten Stadt Europas, findet in dieser Woche, umgeben von Grachten und Kanälen, die International Water Week statt, eine Messe, auf der technische Innovationen rund um die Wasserversorgung und die Abwasserentsorgung unserer Städte vorgestellt werden. Dabei geht es um mehr als ausgeklügelte Kanalisationen, im Untergrund der Städte bestimmen nämlich hoch komplexe unsichtbare Systeme unser Leben. Ein Thema, mit dem sich auch der Berliner Architekt Michael Prytula am Deutschen Institut für Urbanistik befasst. Heute ist er unser Gast, Herr Prytula, schönen guten Tag!

Michael Prytula: Ja, guten Morgen!

Bürger: Es ist ja noch gar nicht so lange her, dass Wörter wie Gosse und Rinnstein noch ganz real zum Alltag gehört haben. Bis wann lief das Abwasser – nehmen wir ruhig das Beispiel Berlin – noch direkt am Straßenrand entlang?

Prytula: Man muss sich vorstellen, dass Berlin eigentlich vor 150 Jahren, also bis Mitte des 19. Jahrhunderts, noch über keine Kanalisation verfügte, wie wir sie heute kennen. Es gab noch kein Abwassersystem in der Form, wie wir es heute kennen.

Bürger: Das heißt, das Abwasser lief ungefiltert in die Spree und den Landwehrkanal?

Prytula: Ja, es gab verschiedene Systeme, es wurde unter Umständen auch dezentral gesammelt und auf die Felder zurückgebracht. Etwas, was man heute auch durchaus wieder unter dem Systembegriff Nährstoffmanagement versucht nachzuvollziehen und wiederzubeleben. Aber es gibt Berichte von Besuchern der Stadt, die Berlin als eine sehr stinkende Stadt empfunden haben.

Bürger: Sehr stinkend, und im Winter wahrscheinlich wahnsinnig vereist?

Prytula: Vereist, ja, und sicherlich nicht sehr hygienisch.

Bürger: Berlin hat dann Ende des 19. Jahrhunderts Standards gesetzt. Interessant, dass man sich wohl zuerst tatsächlich nicht um die Versorgung mit frischem Trinkwasser gekümmert hat!

Prytula: Nein, es war eigentlich so, dass es frühzeitig, auch ausgehend von England, in London, also als Industrienation, die federführend war, diese Systeme schon entwickelt hatte, dass dann die Berlin Water Companies Berlin erst mal mit Trinkwasser versorgt haben und dann plötzlich die Kommune in Zugzwang war, was machen wir mit dem aufkommenden Abwasser eigentlich. Bis dahin hatte man quasi ein System entwickelt, auch privatwirtschaftlich entwickelt, was Berliner Bezirke mit Trinkwasser dann versorgt hat, aber das Abwasser war nicht geklärt.

Bürger: Crelle und Hobrecht, Wiebe und Virchow, das sind alles Namen, die einem im heutigen Berlin auf Schritt und Tritt begegnen. Sie alle hatten Ideen zur Lösung der Abwasserprobleme der Stadt. Was war davon jetzt wirklich bahnbrechend und ist auch heute noch Teil unseres jetzigen Untergrunds?

"Rieselfelder als Innovation"
Prytula: Zum einen wurde diskutiert, ob man ein zentrales Abwassersystem einführt. Das hat dann Hobrecht als Planung auch umgesetzt. Und was da innovativ war, war vor allem, dass er als Vermessungsingenieur sehr gut die Topografie der Landschaft kannte. Der Hobrecht-Plan ist ja auch ein Stadterweiterungsplan von Berlin, für eine Stadt von vier Millionen Einwohnern, damals schon, Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelt. Und er hat Berlin dann in verschiedene Entwässerungsbezirke eingeteilt, die dann durch die natürliche Schwerkraft zu einem tiefsten Punkt jeweils regional das Wasser gesammelt haben und dann über ein Pumpwerk vor die Tore der Stadt auf Rieselfelder gebracht haben. Die Rieselfelder waren auch eine Innovation, da hat er viel experimentiert, welche Pflanzen, wie das funktionieren kann, dass dann die Abwässer dort wieder gereinigt werden.

Bürger: Im 20. Jahrhundert kam dann dieses Konzept der Stadt als Stoffwechselkreislauf auf, das ist ja schon so was, was Sie gerade beschrieben haben. Man sprach vom urbanen Metabolismus. Haben die Ingenieure und Architekten des 19. Jahrhunderts dafür tatsächlich die Grundlagen geliefert, haben sie die Stadt im Grunde schon damals als Stoffwechselsystem verstanden?

Prytula: Es ist schwer zu sagen. Ich denke, Wissenschaft oder auch Ingenieurskunst ist dann ja auch eine Art von Patchwork, wo viele Generationen arbeiten. Und manche Systeme, die dann als Lösung gelten, werden dann von späteren Generationen als Problem erkannt. Also Stichwort verkehrsgerechte Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg, Auto-gerechte Stadt, was man dann ja auch wieder infrage gestellt hat und heute wieder andere Konzepte entwickelt. Insofern, ja, ich glaube, da waren viele Ansätze schon vorhanden und der Stoffwechselansatz ist eigentlich genuin was aus dem 20. Jahrhundert.

Bürger: Von der Gosse zum urbanen Metabolismus, was passiert eigentlich mit unserem Abwasser? Darüber sind wir hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Architekten Michael Prytula. Wir leben ja in Zeiten immer knapper werdender Ressourcen, wir kaufen Waschmaschinen, die möglichst wenig Wasser verbrauchen, Duschköpfe, die aus wenig Wasser mehr machen, Toilettenspülung mit Stopptaste, all solche Sachen. Welche Auswirkungen hat das denn auf die Abwassersysteme?

Prytula: Einige Auswirkungen sind die, dass wir teilweise weniger Abwasser produzieren, als den Abwassersystemen lieb ist. Das gerade beschriebene System der Schwerkraft basiert ja letztendlich auf der Schwemmkanalisation. Das heißt, die Stoffe, vor allem die Fäkalstoffe, die das Problem darstellten, auch hygienische Probleme des 19. Jahrhunderts, werden durch Wasser durch die Kanalsysteme mit Schwerkraft transportiert zunächst. Und wenn diese Abwassermengen geringer werden, dann bleiben die Schwemmstoffe halt liegen. Und wir sind heute so dabei, dass die Berliner Wasserbetriebe zum Beispiel im Sommer oder in Urlaubszeiten in bestimmten Bereichen tatsächlich die Kanäle künstlich spülen, damit es dort nicht zu Verunreinigung kommt und es stinkt.

Bürger: Mit frischem Wasser?

Prytula: Mit frischem Wasser, ja.

Bürger: Unsere Städte verändern sich ja immer weiter, in bestimmten Bezirken gibt es eine extreme Verdichtung. Doch diese unterirdische Infrastruktur, die bleibt ja vergleichsweise starr. Macht auch das Probleme, vor welchen Aufgaben stehen heutige Stadtplaner mit Blick auf die Abwasserentsorgung und die Wasserzufuhr?

Prytula: Einerseits, wenn man zurückguckt noch mal in die Geschichte der Nachkriegszeit, so gab es da mit dem Hansaviertel ja den Plan, mit einer komplett neuen Stadtentwicklung …, also die alte Stadt war durch die Bomben weitestgehend zerstört und man wollte jetzt nach der Charta von Athen moderne Stadtplanung machen, hat dann aber festgestellt, dass ja der Untergrund unzerstört war. Quasi 90 Prozent der Infrastrukturen, die ja auch viel Geld kosten, waren erhalten geblieben. Und man hat dann den Wettbewerbsentwurf vom Hansaviertel an das unterirdische Stadtnetz quasi wieder angepasst. Was heute eine große Frage ist, man diskutiert viel über die Energieknappheit, Ölknappheit. Es gibt Wissenschaftler im Wasserbereich, die sagen, bevor uns das Öl ausgeht, gehen uns die Nährstoffe aus.

"Tonnenlösung statt Schwemmkanalisation"
Die Felder werden ja mit Phosphaten gedüngt, das sind in der Regel Lagerstättenphosphate, die gewonnen werden, die aber durch die Schwemmkanalisation halt letztendlich ins Meer gespült werden, die verloren gehen. Und was damals schon bei der Einführung des zentralen Wassersystems diskutiert worden ist, Liebig, der Agrarwissenschaftler, hatte sich damals starkgemacht für die Heidelberger Tonnenlösung, quasi nicht eine Schwemmkanalisation, sondern eine dezentrale Sammlung von Abwässern, häuslich, die dann wieder auf die Felder gebracht werden können. Das wird heute tatsächlich wieder diskutiert, praktiziert, da gibt es auch technische Lösungen, Lübeck-Flintenbreite, mit Vakuumtoiletten gibt es solche Systeme, die dann tatsächlich die Nährstoffe sammeln und die man dann wieder aufbereitet auf die Felder bringen kann.

Bürger: Heute arbeiten ja nicht mehr wie zu Hobrechts Zeiten nur Ingenieure und Architekten an diesem städtischen Stoffwechselkreislauf. Wie und von wem werden solche Versorgungskonzepte der Städte heute erdacht?

Prytula: Wir arbeiten am Deutschen Institut für Urbanistik, vor allem Kollegen, auch sehr stark im Bereich der Transformation der Wasserinfrastruktur, auch der Energieinfrastruktur. Und das sind in der Regel transdisziplinäre Forschungsprojekte, vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gibt es da auch einen extra Forschungsschwerpunkt, sozialökologische Forschung. Das heißt, allein mit Ingenieurskunst oder allein mit sozialwissenschaftlichen Ansätzen kommt man da nicht weiter, sondern tatsächlich die transdisziplinäre Zusammenarbeit ist ein Schlüssel für eine nachhaltige Zukunft.

Bürger: Heute müsste das Ziel sein, alles in diesen Stoffwechselkreislauf zurückzuführen, die Energie umzuwandeln. Gibt es da bereits auch Konzepte für Städte wie Berlin, die in diese Richtung eine wirkliche Revolution einleiten könnten? Denn noch machen wir ja ganz absurde Sachen, spülen zum Beispiel unsere Toiletten mit frischem Trinkwasser.

Prytula: Ja. Es gibt Grauwasserkonzepte, die haben sich auch technologisch mittlerweile ziemlich etabliert.

Bürger: Grauwasser, erklären Sie den Begriff noch?

Prytula: Das heißt, Abwasser, was im Haushalt anfällt aus Handwaschbecken, Dusche, Badewanne, was eben wenig belastet ist, wird in einem in der Regel Haus-eigenen System aufbereitet über Mikroben, die die organischen Bestandteile aus dem Wasser herausknabbern, und dann als aufbereitetes Wasser wird das in die Toilettenspülung eingeführt. Wir haben selber unser Haus so ausgerichtet und können damit im Grunde täglich 700, 800 Liter Wasser sparen.

Bürger: Als Privatperson haben Sie das umgerüstet. Aber könnte so etwas auch zu einem großen Infrastrukturprojekt dieses Jahrhunderts werden für gesamte Städte, also auch für die Kommunen?

Prytula: Ja, ich glaube, man muss das systemisch betrachten. Ich denke, die Ausgangslagen der Regionen und Kommunen ist ja unterschiedlich. Das ist die Frage von Innovationszyklen. Also, wenn man jetzt ein Kanalsystem komplett erneuert, stellt sich schon die Frage, ob man heute nicht auch andere technologische Möglichkeiten hat, also irgendwie eine Trennstoffbehandlung oder eine starke Integration von Grauwasser oder Regenwasser in die Wassersysteme. Aber das muss man, glaube ich, sehr dezidiert von Fall zu Fall betrachten und nicht in den Fehler zurückfallen, der, denke ich, so ein bisschen das Denken des 19. Jahrhunderts auch geprägt hat: technologische, ingenieurstechnologische Lösungen zu finden, die alles erschlagen. Ein Thema der Moderne ist, man hat eine Standardlösung. Und ich glaube, eine nachhaltige Entwicklung in allen Bereichen wird sich durch eine Pluralität von vielen Lösungen auszeichnen.

Bürger: Gerade haben wir in Berlin an den Volksentscheiden zu kommunalen Wasser- und Energieversorgung ja gesehen, wie kontrovers diese Themen debattiert werden. Die Frage also, ob eine Stadt ihre Infrastruktur privatisieren sollte oder nicht. Welchen Weg halten Sie da mit Blick auf die Weiterentwicklung der Wassersysteme für sinnvoll?

Prytula: Ich denke, die Rekommunalisierung jetzt auch in Berlin, hat ja der Volksentscheid auch ein bisschen gezeigt, ist ein Weg. Ich denke, es gibt andere Ansätze auch mit einer privateren Wasserversorgung, wird auch kontrovers diskutiert, aber die kommunale Fürsorge auch und der Besitz und der Betrieb, die kommunale Fürsorge sozusagen in öffentlicher Hand zu haben, ist, denke ich, was diese Dinge angeht, schon auch eine etablierte und gute Leistung.

Bürger: Die Stadt als Stoffwechselkreislauf, damit beschäftigt sich der Architekt Michael Prytula vom Deutschen Institut für Urbanistik. Ich danke Ihnen für das Gespräch!

Prytula: Vielen Dank!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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