Die Stille vor dem Untergang

Von Stefan Keim |
Es knallt, ein Feuerwerkskörper jagt in die Luft. Die Zuschauer fahren erschrocken zusammen. Sie hatten damit gerechnet, dass Wasser die Bühne flutet, vielleicht sogar die große Stahlwand nach unten sackt. Schließlich sitzen sie im "Titanic"-Musical. Mit dem kleinen Schockmoment hat Regisseur Nico Rabenald das Publikum auf dem Magdeburger Domplatz überrascht.
In der Hamburger Neuen Flora war die Musical-Fassung der Schiffskatastrophe wenig erfolgreich. Schon ein Jahr nach der Premiere wurde die Vorstellung abgesetzt. Was im Kino – und in einer Hamburger Ausstellung – die Massen interessierte, klappte im Theater nicht mehr. Dabei haben Autor Peter Stone und Komponist Maury Yeston gute Arbeit geleistet. Sie drücken nur sacht auf die Tränendrüse, bringen nur historische Persönlichkeiten auf die Bühne, die wirklich auf der Titanic waren und liefern einige Feinheiten. Wie Yeston vor der Pause in einer langen Ensemblenummer die Spannung langsam steigert, ist die hohe Schule des anspruchsvollen Musicals. Und kurz vor dem Untergang – und nach dem Knalleffekt der Magdeburger Regie - wird die Musik immer leiser, bis sie ganz verschwindet. Ein paar Dialoge der Verlorenen schaffen eine subtil schaurige Atmosphäre in der Erwartung des Entsetzens. Gerade weil die Todeskandidaten nicht verzweifeln, sondern Haltung bewahren.

Magdeburg ist das erste Stadttheater, das die Aufführungsrechte für "Titanic" bekam. Es ist schön, dass dieses Qualitätsmusical eine zweite Chance erhält. Zwar wird an diesem Abend alles auf die Bühne getrieben, was singen und sprechen kann. Roland Fenes singt den Kapitän mit Bravour, deklamiert aber hölzern. Dafür mühen sich manche Schauspieler etwas mit dem Gesang. Doch was zählt, ist die Mannschaftsleistung. Nico Rabenald, dem auch manche uninspirierten Steharrangements unterlaufen, bringt es fertig, über 40 Solorollen mit Chor, Tänzern und Statisten sortiert über die Bühne zu jagen, die Handlung schlüssig zu erzählen und im Riesenensemble Spielfreude zu wecken. Das ist keine kleine Leistung. Volker M. Plangg rattert die Ouvertüre mit der magdeburgischen Philharmonie eher routiniert als detailfreudig herunter, bedient aber dann die wechselnden Emotionen ohne Fehl und Tadel.

Einige junge frische Stimmen, vor allem Tenöre, sind in Magdeburg zu entdecken. Tomas Tomke singt den Heizer Fredrick Barrett mit natürlicher Kraft, ein jungenhafter Abenteurertyp. Peter Diebschlag überzeugt als Steward Hernry Etches, eine elegante Erscheinung mit gut geführtem, jugendlich-lyrischem Tenor. Heike Scheeles Bühne zeigt den Schiffsrumpf als riesige Stahlwand, in dem sich verschiedene Türen öffnen, hinter denen Ballsaal, Brücke, Funkerkabine oder der Flur vor den Kabinen sichtbar werden. Über dem Ausguck ist die Spitze des Domes zu sehen, als wäre er der Eisberg. Der Abend macht Spaß, wird heftig umjubelt, alle 19 Vorstellungen sind ausverkauft. Das gelingt mit einer Vorstellung, für die sich niemand schämen muss. Im Gegenteil, Magdeburg zeigt, dass es neben Kompilationsshows wie "Ich war noch niemals in New York" und Lloyd-Webber-Schmuseschmonzes auch im Gegenwartsmusical interessante Stücke zu entdecken sind.

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