Die Stimme des eigenen Vaters

Von Christoph Leibold |
Es braust ein heftiger Sturm hinter dem heruntergelassenen eisernen Vorhang, in dem eine Türe aufgeht, woraufhin der Wind einen Mann durch die Öffnung drückt, einen Wanderer in festen Schuhen, Kniebundhose und Wollpullover, Stirnband auf dem Kopf, Rucksack auf dem Rücken.
Der von Franz Schubert vertonte Zyklus "Winterreise" des Dichters Ludwig Müller hat Elfriede Jelinek schon als Klavier-Studentin fasziniert. Er erzählt von einem einsamen Wanderer, der ziellos in die Wintereiseskälte zieht. Ein enttäuschter Liebhaber, und mehr noch: einer, dem mit seiner Liebe auch alle Hoffnung abhanden gekommen ist.

Die darin anklingenden Themen von Verlust, Verlorenheit in der Welt und Vergänglichkeit sind auch Jelinek vertraut. Gleichwohl erzählt sie die "Winterreise" nicht einfach nach, sondern schafft mittels Zitaten aus der Vorlage und motivischen Anleihen ihre eigene "Winterreise" - wie immer bei Jelinek kein klassisches Theaterstück mit Dialog und sich entwickelnder Handlung, sondern acht Texte, mal in der Ich-Form erzählt (also monologtauglich), mal in der dritten Person. Die Stimme des Wanderers ist dabei nur eine von vielen. Eine andere gehört Elfriede Jelineks Vater, der das Ende seines Lebens alzheimerkrank in einer Nervenheilanstalt verbracht hat.

André Jung spielt diesen ins Heim abgeschobenen Vater, weniger verbittert als vielmehr verblüfft, mit stirnrunzelndem Staunen darüber, wie schnell er doch aus seinem Leben gerutscht ist. Ihr Vater, hat Elfriede Jelinek einmal bekannt, sei die tragischste Figur gewesen, die sie kannte. Mit seiner Krankheit wusste sie nicht umzugehen. Die Scham über dieses Unvermögen belastet sie noch heute.

Vielleicht gehört der Text über den Vater gerade deshalb zu den berührendsten Stellen des Stücks und - dank dem leise-eindringlichen Spiel von André Jung - auch der Inszenierung, die freilich auch ganz andere, lautere Momente kennt.

Das Motiv aus Schuberts "Winterreise" von der Braut, die der Wanderer lassen muss, weil ihre Eltern einen wohlhabenderen Ehemann für sie gefunden haben, greift Jelinek auf, um von einem anderen Ehebund zu erzählen: Bei ihr ist die Braut die Hypo Group Alpe Adria, deren wahrer Zustand verschleiert wurde, um sie attraktiv zu machen. Was 2007 ja tatsächlich funktionierte, als die BayernLB die Skandalbank kaufte.

Johan Simons macht aus dieser Passage eine überdrehte Farce. Stefan Hunstein gibt den Bräutigam mit bayerisch-weißblauer Schärpe um die Brust, der blind vor Gier lange nicht wahrnimmt, dass die ihm Zugedachte, gespielt vom stämmigen Benny Claessens mit feistem Grinsen, bei Weitem keine so lukrative Partie ist, wie vermutet. Dabei müsste der Freier im Frack nur genau hinsehen, dass die Brautwerbung – in diesem Falle: Die Werbung, die für die Braut gemacht wird – nicht hält, was sie verspricht: Ist die Angebetete doch ein rechter Trauerklos mit einem weißen Schleier auf dem mächtigen Schädel, der eigentlich viel zu klein ist, um zu kaschieren, dass ihr massiger Leib in einem schwarzen Trauerkleid steckt.

An diesem Punkt sind Stück und Inszenierung bei der kalauernden Kapitalismuskritik angekommen, die schon Jelineks "Kontrakte des Kaufmanns" prägte – hochgradig amüsant aber auch hochtourig leer drehend - auch wegen der Jelinek-typischen, bis nahe ans Unendliche weiter gedrehten Wortspiele.

Diese Endlos-Textschlaufen, auch in den ernsthaften Passagen des Stücks, lähmen zuweilen, ziehen manches arg in die Länge. Auch in dieser ansonsten gelungenen Inszenierung. Der Wiederholungscharakter allerdings gehört zu Jelinek und lässt sich nicht weginszenieren. In ihm drückt sich eine Beharrlichkeit aus; der Versuch, gegen die Vergänglichkeit an zu erzählen.

Dass dieser Kampf vergeblich ist, davon wussten Franz Schubert und Wilhelm Müller ein Lied zu singen. Wie ein fernes Echo wehen Musikfetzen aus ihrer "Winterreise" durch die Köpfe der Figuren auf der Bühne der Münchner Kammerspiele, die manches Mal innehalten und mitzusummen beginnen -bis der Sturmwind die Musik und mit ihr den zugleich traurigen und tröstlichen Moment einfach fort bläst.
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