"Die Strafen waren gnadenlos hoch"
Auch nach 1945 wurden Homosexuelle in Deutschland angezeigt, verfolgt und verurteilt. Bis heute wurden die Betroffenen nicht rehabilitiert. Manfred Bruns, ehemals Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof, fordert Wiedergutmachung.
Liane von Billerbeck: In den KZs mussten sie den rosa Winkel tragen, homosexuelle Männer, die nach dem 1935 von den Nationalsozialisten verschärften Paragrafen 175 zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden. Man hätte meinen können, dass dieses schreiende Unrecht nach 1945 beseitigt worden ist – weit gefehlt. Homosexuelle wurden weiter angezeigt, verfolgt und verurteilt, nur jetzt durch einen demokratisch legitimierten Staat. Es sollte Jahrzehnte dauern, bis dieses himmelschreiende Unrecht abgeschafft wurde, rehabilitiert aber sind die in der Bundesrepublik wegen ihrer sexuellen Orientierung verurteilten Männer bis heute nicht.
Das soll sich ändern. Der Berliner Senat hat eine erneute Initiative gestartet und veranstaltet morgen eine Tagung am Internationalen Tag gegen Homophobie und Transphobie, denn der 17. Mai, das ist der Tag, an dem 1990 die Weltgesundheitsorganisation beschloss, die Homosexualität aus der Liste der psychischen Krankheiten zu streichen.* Einer, der auf der morgigen Tagung spricht, ist Manfred Bruns, er war bis 1994 Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Er ist verheiratet, hat drei Kinder, vier Enkel, und lebt seit Jahren offen homosexuell. Manfred Bruns ist jetzt in Karlsruhe am Telefon, ich grüße Sie!
* Jahreszahl und Text korrigiert, die Schriftversion weicht daher vom MP3-Audio ab, Anm. d. Red.
Manfred Bruns: Guten Tag, Frau von Billerbeck!
von Billerbeck: Der Strafrechtsparagraf mit seinen drakonischen Strafen für homosexuelle Handlungen ist einer der Paragrafen, die man mit dem NS-Unrecht verbindet. Warum wurde er nicht direkt nach dem Ende des Nationalsozialismus in der jungen Bundesrepublik abgeschafft?
Bruns: Das liegt wohl daran, dass sich die junge Bundesrepublik nicht als pluralistische Demokratie verstanden hat, sondern als Demokratie, die sich den Wertvorstellungen der christlichen Kirchen verbunden fühlte. Und von den christlichen Kirchen ist ja Homosexualität zumindest damals, von allen Kirchen streng verurteilt worden. Und der Staat war der Meinung, dass er die Sittlichkeit mit den Mitteln des Strafrechts verteidigen muss. Das betraf damals, in den 50er-Jahren nicht nur Homosexualität, sondern überhaupt jede Sexualität außerhalb der Ehe. Wenn beispielsweise ein Hotelier einem nicht verheirateten Paar ein Zimmer vermietet hat, dann musste er gegenwärtigen, dass er wegen Kuppelei bestraft wird.
von Billerbeck: Die Homosexuellen, die unter den Nazis im Gefängnis gesessen hatten, die wurden also weiter verfolgt, auch strafrechtlich. Was bedeutete denn das für die Schwulen?
Bruns: Also diese strafrechtliche Verfolgung der Homosexuellen war in der Bundesrepublik, also in den jetzigen alten Bundesländern, besonders strikt, wütend. Sie wurde praktisch bruchlos so fortgesetzt wie unter den Nazis, mit der einzigen Ausnahme, dass die Männer nicht mehr ins KZ kamen. Man hat damals sogar Leute, die Männer, die von den Alliierten aus den KZs befreit worden waren, zur Fortsetzung der Strafverbüßung wieder ins Gefängnis geworfen. Die Strafen waren gnadenlos hoch, und vor allen Dingen, sie bedeuteten dann auch für die bürgerliche Existenz das absolute Aus. Die Leute bekamen keine Arbeit mehr, sie bekamen noch nicht mal mehr einen Führerschein.
von Billerbeck: War das eigentlich in der DDR anders?
Bruns: Ein bisschen. Also die Nazis haben 1935 die Strafvorschrift verschärft, bis dahin war nur also geschlechtsverkehrähnlicher Sex strafbar, beischlafsähnliche Handlungen. Und seit 1935 wurde jedwede sexuelle Regung zwischen Männern bestraft. Und diese ausufernde Strafvorschrift, die wurde dann in der DDR wieder zurückgenommen, während sie in der Bundesrepublik bestehen blieb und dann sogar vom Bundesverfassungsgericht 1957 gebilligt.
von Billerbeck: Mit welchen Argumenten?
Bruns: Also es waren drei Argumente, das eine ist immer gesagt worden, das ist nationalsozialistisches Unrecht. Und da hat das Bundesverfassungsgericht einen Trick angewandt, die haben dann gesagt, ob das nationalsozialistisches Gedankengut ist, ist unerheblich, entscheidend ist allein, ob es mit unserer Verfassung vereinbar ist. Und das haben sie dann bejaht. Und da wurden zwei Argumente vorgebracht, das eine war der Gleichheitsverstoß, es wurden ja nur Männer bestraft, aber nicht lesbische Frauen. Und da hat dann das Bundesverfassungsgericht gesagt, dass sich die männliche Homosexualität und die weibliche Homosexualität so wesentlich unterscheiden, dass sie nicht vergleichbar sind und dass kein Gleichheitsverstoß vorliegt. Das, was sie damals gesagt haben, wenn man das heute liest, das ist kabarettreif, das kann man nur noch aus der damaligen Zeit verstehen. Das ist also ein Musterbeispiel für ein vorurteilsgeprägtes Urteil.
Der zweite Gesichtspunkt war, die Beschwerdeführer hatten geltend gemacht, nach Artikel zwei des Grundgesetzes besteht das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, allerdings begrenzt durch das Sittengesetz. Und dann hat das Bundesverfassungsgericht gesagt, was nun das Sittengesetz vorschreibt, das ist ja sehr schwer zu erkunden, wir richten uns nach dem, was die Kirchen sagen. Und das wird ja auch von weiten Teilen der Bevölkerung allgemein akzeptiert. Und da Homosexualität gegen das Sittengesetz verstößt, können sich die Beschwerdeführer nicht auf das Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit berufen.
von Billerbeck: Wenn man das hört, da denkt man, das verstößt doch aber auf jeden Fall auch gegen die Menschenwürde. Wann und warum kam es denn in der Bundesrepublik zu einem Sinneswandel mit auch juristischen Folgen?
Bruns: Also der Sinneswandel trat im Zuge der sexuellen Revolution in den 60er-Jahren ein. Warum es zu diesem Sinneswandel kam, das kann auch bis heute niemand so richtig beantworten, jedenfalls trat er ein. Man vertrat jetzt den Standpunkt, der Staat ist nicht dazu da, die Sittlichkeit zu verteidigen, sondern nur noch, wenn es sozialschädliche Handlungen sind, also durch die andere Rechtsgüter beschädigt werden. Und dann fiel damals dann '68 in der DDR und '69 in der Bundesrepublik das Verbot der einvernehmlichen Sexualität zwischen Männern. Es gab ja auch sonst Lockerungen, also seit den 60er-Jahren wurde dann auch der Schwangerschaftsabbruch nicht mehr so wütend verfolgt, wie das noch in den 50er-Jahren der Fall war.
von Billerbeck: Diese Unrechtsurteile wurden aufgehoben, die Verfolgten, die in der Nazizeit verurteilt worden sind, die wurden auch rehabilitiert. Der Bundestag entschuldigte sich im Jahr 2000 auch bei den Homosexuellen, die nach 1945 verurteilt worden sind, immerhin 50.000 schwule Männer. 50.000, das ist ja keine kleine Zahl. Warum ist es so schwer, diese Männer endlich auch zu rehabilitieren?
Bruns: Also zunächst muss man mal sagen, dass es mit der Rehabilitation der Verurteilten vor '45 auch sehr schwierig war. Es gab ja eine Wiedergutmachung nach '45 für politisch Verfolgte, und bei den Homosexuellen sagte man einfach, die sind nicht politisch verfolgt, sondern die sind bestraft worden wegen Straftaten, die auch nach unseren Vorstellungen noch strafbar sind. Und da besteht kein Grund, sie irgendwie zu entschädigen, Wiedergutmachung zu leisten. Das hat sich dann erst Ende der 80er, Anfang der 90er-Jahre geändert, da gab es dann ein Gesetz zur Aufhebung der nationalsozialistischen Unrechtsurteile, da wurden dann zunächst auch die Verurteilungen nach Paragraf 175 also nicht generell mit einbezogen, das ist dann schließlich und endlich auch noch geändert worden. Aber eine Entschädigung hat es eigentlich nie gegeben. Es wird jetzt darüber diskutiert, über eine generelle Entschädigung dadurch, dass man eine Stiftung begründet, weil ja auch die Betroffenen nicht mehr existieren, nicht mehr leben.
Und bei den Urteilen nach '45, also in der Bundesrepublik, da besteht überhaupt keine Bereitschaft zur Wiedergutmachung. Dahinter steht auch die Furcht, dass man dann eventuell Zahlungen leisten muss. Aber der Bundestag, das haben Sie ja schon gesagt, der hat also dann 2000 einstimmig sich bei den schwulen Männern entschuldigt dafür, dass sie in ihrer Menschenwürde verletzt worden sind.
von Billerbeck: Herr Bruns, Sie sind ein homosexuell lebender Jurist. Wie haben Sie die Diskrepanz zwischen dem geltenden Recht, das ja auch gegen Ihre Menschenwürde verstieß, und Ihrem eigenen Leben ausgehalten?
Bruns: Also ich bin 1934 geboren und ganz in dieser Zeit lag meine Jugend. Nun muss man sagen, das war so was schwer Strafbares und, also das war überhaupt keine Lebensmöglichkeit, und dann kam noch hinzu, es gab in den 50er-Jahren überhaupt keine Sexualaufklärung, mir war gar nicht bewusst, dass es unterschiedliche sexuelle Orientierungen gab. Es hieß einfach, alle Menschen sind gleich und einige machen dann – aus Überdruss, hat man damals gesagt – irgendwelche kriminellen Handlungen. Und dann bin ich auch noch in einer sehr katholischen Familie aufgewachsen, hatte das alles sehr verinnerlicht, und ich habe das einfach verdrängt, und habe dann 1961 geheiratet, hatte großes Glück, habe eine Frau, die ich auch nach wie vor noch sehr schätze, ein sehr gutes Familienleben, bis auf dieses Problem mit der Sexualität, was also ungelöst war und, weil ich es unterdrückt habe, auch immer schwieriger zu handhaben war. Ich habe 20 Jahre sehr eisern an der Ehe festgehalten, bis es einfach nicht mehr ging. Dann habe ich mich in einem sehr, sehr langen Prozess mit meiner Frau, meiner Familie auseinandergesetzt, das ist Gott sei Dank alles sehr gut gegangen, wir haben ein sehr, sehr gutes Verhältnis, die Enkelkinder sind dauernd bei uns, wir fahren mit denen in Urlaub, Kinder und so weiter, machen gemeinsame Familienfeiern, ist alles sehr schön.
von Billerbeck: Wie groß sind denn nun Ihre Hoffnungen, dass es endlich zu einer Rehabilitierung der so lange geächteten und verurteilten Homosexuellen kommt, die also in der Bundesrepublik verurteilt wurden?
Bruns: Also zunächst muss ich mal sagen, ich habe dann '85 auch, bin ich in den Zeitungen geoutet worden und hatte mir dann vorgenommen, ich will was tun, damit sich so unsinnige Lebensläufe nicht wiederholen, wo ja auch andere Menschen, meine Frau, meine Kinder und so weiter mit einbezogen sind. Und in dieser Hinsicht – deswegen habe ich mich dann in den Schwulen-Organisationen engagiert, bin auch jetzt noch immer im Lesben- und Schulenverband tätig –, wir haben sehr, sehr viel erreicht. Was wir nicht erreicht haben, ist diese Wiedergutmachung für die in der Bundesrepublik verfolgten Männer. Es scheint bei der CDU, bei der FDP und auch bei der SPD immer noch große Vorbehalte zu geben, aber ich denke, dass wir die in einigen Jahren auch überwinden, und dass wir das dann auch durchsetzen werden.
von Billerbeck: Manfred Bruns war das, Bundesanwalt a. D. am Bundesgerichtshof und einer der Sprecher des Lesben- und Schwulenverbandes in Deutschland über die Verfolgung homosexueller Männer in der Bundesrepublik nach 1945. Ganz herzlichen Dank für das Gespräch!
Das soll sich ändern. Der Berliner Senat hat eine erneute Initiative gestartet und veranstaltet morgen eine Tagung am Internationalen Tag gegen Homophobie und Transphobie, denn der 17. Mai, das ist der Tag, an dem 1990 die Weltgesundheitsorganisation beschloss, die Homosexualität aus der Liste der psychischen Krankheiten zu streichen.* Einer, der auf der morgigen Tagung spricht, ist Manfred Bruns, er war bis 1994 Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Er ist verheiratet, hat drei Kinder, vier Enkel, und lebt seit Jahren offen homosexuell. Manfred Bruns ist jetzt in Karlsruhe am Telefon, ich grüße Sie!
* Jahreszahl und Text korrigiert, die Schriftversion weicht daher vom MP3-Audio ab, Anm. d. Red.
Manfred Bruns: Guten Tag, Frau von Billerbeck!
von Billerbeck: Der Strafrechtsparagraf mit seinen drakonischen Strafen für homosexuelle Handlungen ist einer der Paragrafen, die man mit dem NS-Unrecht verbindet. Warum wurde er nicht direkt nach dem Ende des Nationalsozialismus in der jungen Bundesrepublik abgeschafft?
Bruns: Das liegt wohl daran, dass sich die junge Bundesrepublik nicht als pluralistische Demokratie verstanden hat, sondern als Demokratie, die sich den Wertvorstellungen der christlichen Kirchen verbunden fühlte. Und von den christlichen Kirchen ist ja Homosexualität zumindest damals, von allen Kirchen streng verurteilt worden. Und der Staat war der Meinung, dass er die Sittlichkeit mit den Mitteln des Strafrechts verteidigen muss. Das betraf damals, in den 50er-Jahren nicht nur Homosexualität, sondern überhaupt jede Sexualität außerhalb der Ehe. Wenn beispielsweise ein Hotelier einem nicht verheirateten Paar ein Zimmer vermietet hat, dann musste er gegenwärtigen, dass er wegen Kuppelei bestraft wird.
von Billerbeck: Die Homosexuellen, die unter den Nazis im Gefängnis gesessen hatten, die wurden also weiter verfolgt, auch strafrechtlich. Was bedeutete denn das für die Schwulen?
Bruns: Also diese strafrechtliche Verfolgung der Homosexuellen war in der Bundesrepublik, also in den jetzigen alten Bundesländern, besonders strikt, wütend. Sie wurde praktisch bruchlos so fortgesetzt wie unter den Nazis, mit der einzigen Ausnahme, dass die Männer nicht mehr ins KZ kamen. Man hat damals sogar Leute, die Männer, die von den Alliierten aus den KZs befreit worden waren, zur Fortsetzung der Strafverbüßung wieder ins Gefängnis geworfen. Die Strafen waren gnadenlos hoch, und vor allen Dingen, sie bedeuteten dann auch für die bürgerliche Existenz das absolute Aus. Die Leute bekamen keine Arbeit mehr, sie bekamen noch nicht mal mehr einen Führerschein.
von Billerbeck: War das eigentlich in der DDR anders?
Bruns: Ein bisschen. Also die Nazis haben 1935 die Strafvorschrift verschärft, bis dahin war nur also geschlechtsverkehrähnlicher Sex strafbar, beischlafsähnliche Handlungen. Und seit 1935 wurde jedwede sexuelle Regung zwischen Männern bestraft. Und diese ausufernde Strafvorschrift, die wurde dann in der DDR wieder zurückgenommen, während sie in der Bundesrepublik bestehen blieb und dann sogar vom Bundesverfassungsgericht 1957 gebilligt.
von Billerbeck: Mit welchen Argumenten?
Bruns: Also es waren drei Argumente, das eine ist immer gesagt worden, das ist nationalsozialistisches Unrecht. Und da hat das Bundesverfassungsgericht einen Trick angewandt, die haben dann gesagt, ob das nationalsozialistisches Gedankengut ist, ist unerheblich, entscheidend ist allein, ob es mit unserer Verfassung vereinbar ist. Und das haben sie dann bejaht. Und da wurden zwei Argumente vorgebracht, das eine war der Gleichheitsverstoß, es wurden ja nur Männer bestraft, aber nicht lesbische Frauen. Und da hat dann das Bundesverfassungsgericht gesagt, dass sich die männliche Homosexualität und die weibliche Homosexualität so wesentlich unterscheiden, dass sie nicht vergleichbar sind und dass kein Gleichheitsverstoß vorliegt. Das, was sie damals gesagt haben, wenn man das heute liest, das ist kabarettreif, das kann man nur noch aus der damaligen Zeit verstehen. Das ist also ein Musterbeispiel für ein vorurteilsgeprägtes Urteil.
Der zweite Gesichtspunkt war, die Beschwerdeführer hatten geltend gemacht, nach Artikel zwei des Grundgesetzes besteht das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, allerdings begrenzt durch das Sittengesetz. Und dann hat das Bundesverfassungsgericht gesagt, was nun das Sittengesetz vorschreibt, das ist ja sehr schwer zu erkunden, wir richten uns nach dem, was die Kirchen sagen. Und das wird ja auch von weiten Teilen der Bevölkerung allgemein akzeptiert. Und da Homosexualität gegen das Sittengesetz verstößt, können sich die Beschwerdeführer nicht auf das Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit berufen.
von Billerbeck: Wenn man das hört, da denkt man, das verstößt doch aber auf jeden Fall auch gegen die Menschenwürde. Wann und warum kam es denn in der Bundesrepublik zu einem Sinneswandel mit auch juristischen Folgen?
Bruns: Also der Sinneswandel trat im Zuge der sexuellen Revolution in den 60er-Jahren ein. Warum es zu diesem Sinneswandel kam, das kann auch bis heute niemand so richtig beantworten, jedenfalls trat er ein. Man vertrat jetzt den Standpunkt, der Staat ist nicht dazu da, die Sittlichkeit zu verteidigen, sondern nur noch, wenn es sozialschädliche Handlungen sind, also durch die andere Rechtsgüter beschädigt werden. Und dann fiel damals dann '68 in der DDR und '69 in der Bundesrepublik das Verbot der einvernehmlichen Sexualität zwischen Männern. Es gab ja auch sonst Lockerungen, also seit den 60er-Jahren wurde dann auch der Schwangerschaftsabbruch nicht mehr so wütend verfolgt, wie das noch in den 50er-Jahren der Fall war.
von Billerbeck: Diese Unrechtsurteile wurden aufgehoben, die Verfolgten, die in der Nazizeit verurteilt worden sind, die wurden auch rehabilitiert. Der Bundestag entschuldigte sich im Jahr 2000 auch bei den Homosexuellen, die nach 1945 verurteilt worden sind, immerhin 50.000 schwule Männer. 50.000, das ist ja keine kleine Zahl. Warum ist es so schwer, diese Männer endlich auch zu rehabilitieren?
Bruns: Also zunächst muss man mal sagen, dass es mit der Rehabilitation der Verurteilten vor '45 auch sehr schwierig war. Es gab ja eine Wiedergutmachung nach '45 für politisch Verfolgte, und bei den Homosexuellen sagte man einfach, die sind nicht politisch verfolgt, sondern die sind bestraft worden wegen Straftaten, die auch nach unseren Vorstellungen noch strafbar sind. Und da besteht kein Grund, sie irgendwie zu entschädigen, Wiedergutmachung zu leisten. Das hat sich dann erst Ende der 80er, Anfang der 90er-Jahre geändert, da gab es dann ein Gesetz zur Aufhebung der nationalsozialistischen Unrechtsurteile, da wurden dann zunächst auch die Verurteilungen nach Paragraf 175 also nicht generell mit einbezogen, das ist dann schließlich und endlich auch noch geändert worden. Aber eine Entschädigung hat es eigentlich nie gegeben. Es wird jetzt darüber diskutiert, über eine generelle Entschädigung dadurch, dass man eine Stiftung begründet, weil ja auch die Betroffenen nicht mehr existieren, nicht mehr leben.
Und bei den Urteilen nach '45, also in der Bundesrepublik, da besteht überhaupt keine Bereitschaft zur Wiedergutmachung. Dahinter steht auch die Furcht, dass man dann eventuell Zahlungen leisten muss. Aber der Bundestag, das haben Sie ja schon gesagt, der hat also dann 2000 einstimmig sich bei den schwulen Männern entschuldigt dafür, dass sie in ihrer Menschenwürde verletzt worden sind.
von Billerbeck: Herr Bruns, Sie sind ein homosexuell lebender Jurist. Wie haben Sie die Diskrepanz zwischen dem geltenden Recht, das ja auch gegen Ihre Menschenwürde verstieß, und Ihrem eigenen Leben ausgehalten?
Bruns: Also ich bin 1934 geboren und ganz in dieser Zeit lag meine Jugend. Nun muss man sagen, das war so was schwer Strafbares und, also das war überhaupt keine Lebensmöglichkeit, und dann kam noch hinzu, es gab in den 50er-Jahren überhaupt keine Sexualaufklärung, mir war gar nicht bewusst, dass es unterschiedliche sexuelle Orientierungen gab. Es hieß einfach, alle Menschen sind gleich und einige machen dann – aus Überdruss, hat man damals gesagt – irgendwelche kriminellen Handlungen. Und dann bin ich auch noch in einer sehr katholischen Familie aufgewachsen, hatte das alles sehr verinnerlicht, und ich habe das einfach verdrängt, und habe dann 1961 geheiratet, hatte großes Glück, habe eine Frau, die ich auch nach wie vor noch sehr schätze, ein sehr gutes Familienleben, bis auf dieses Problem mit der Sexualität, was also ungelöst war und, weil ich es unterdrückt habe, auch immer schwieriger zu handhaben war. Ich habe 20 Jahre sehr eisern an der Ehe festgehalten, bis es einfach nicht mehr ging. Dann habe ich mich in einem sehr, sehr langen Prozess mit meiner Frau, meiner Familie auseinandergesetzt, das ist Gott sei Dank alles sehr gut gegangen, wir haben ein sehr, sehr gutes Verhältnis, die Enkelkinder sind dauernd bei uns, wir fahren mit denen in Urlaub, Kinder und so weiter, machen gemeinsame Familienfeiern, ist alles sehr schön.
von Billerbeck: Wie groß sind denn nun Ihre Hoffnungen, dass es endlich zu einer Rehabilitierung der so lange geächteten und verurteilten Homosexuellen kommt, die also in der Bundesrepublik verurteilt wurden?
Bruns: Also zunächst muss ich mal sagen, ich habe dann '85 auch, bin ich in den Zeitungen geoutet worden und hatte mir dann vorgenommen, ich will was tun, damit sich so unsinnige Lebensläufe nicht wiederholen, wo ja auch andere Menschen, meine Frau, meine Kinder und so weiter mit einbezogen sind. Und in dieser Hinsicht – deswegen habe ich mich dann in den Schwulen-Organisationen engagiert, bin auch jetzt noch immer im Lesben- und Schulenverband tätig –, wir haben sehr, sehr viel erreicht. Was wir nicht erreicht haben, ist diese Wiedergutmachung für die in der Bundesrepublik verfolgten Männer. Es scheint bei der CDU, bei der FDP und auch bei der SPD immer noch große Vorbehalte zu geben, aber ich denke, dass wir die in einigen Jahren auch überwinden, und dass wir das dann auch durchsetzen werden.
von Billerbeck: Manfred Bruns war das, Bundesanwalt a. D. am Bundesgerichtshof und einer der Sprecher des Lesben- und Schwulenverbandes in Deutschland über die Verfolgung homosexueller Männer in der Bundesrepublik nach 1945. Ganz herzlichen Dank für das Gespräch!