Die Suche nach dem unheiligen Gral
In seinem Debütroman führt der junge Londoner Autor Ned Beauman eine seltene Käfersorte und einen stoffwechselkranken Computerfreak zusammen. Herausgekommen ist eine Mischung aus Geheimwissenschaftsthriller, historischem Roman und fabelhaftem Quatsch.
Üblicherweise verarbeiten Debütanten im ersten Roman ihre eigene Biografie. Das selbst Erlebte drängt zur Form. Der 1985 geborene Londoner Ned Beauman macht es anders: Er verlässt sich auf seine übermütige Fantasie, verquirlt sie mit einer Wagenladung skurrilen Spezialwissens und entwickelt eine Kapriolen schlagende Romanhandlung jenseits allen guten Geschmacks.
Worum geht's? Um die Suche nach einem unheiligen Gral – in diesem Fall ein rattenstarker, fleischfressender Superkäfer, dessen Musterung ein Hakenkreuz ergibt, sobald er die Flügel schwirren lässt: Anophthalmus hitleri.
Es geht um den Wahnwitz der Eugenik, um Züchtungsideen, Verschwörungstheorien und Geheimgesellschaften – Wissenswelten, die sich der junge Autor mit erstaunlicher Souveränität angelesen oder herbeigegoogelt hat. Es geht um unterdrückte Triebe und entfesselte Lüste. Zum Personal gehören kleingewachsene jüdische Preisboxer, spleenige Wissenschaftler, die die Menschheit mit Kunstsprachen wie Pangäisch oder Volapük beglücken wollen, und skrupellose Killer, die im Auftrag der ariosophischen Thule-Gesellschaft unterwegs sind.
Die Hauptfigur Kevin Broom hat ein Problem: Er leidet an Trimethylaminurie, einer Krankheit, die ihn zum sozialen Krüppel macht. Die Betroffenen stinken aufgrund eines Stoffwechseldefekts nach altem Fisch. Menschliche Kontakte pflegt "Fishy" deshalb vor allem via Chatroom. Und er hat viel Zeit für sein ausgefallenes Hobby. Leidenschaftlich sammelt er Nazi-Devotionalien. Eines Tages fällt ihm ein Originalbrief von Hitler in die Hände, datiert auf den 4. Oktober 1936. Ein wahrhaft merkwürdiges Schreiben, in dem sich der Diktator bei dem britischen Hobby-Insektenforscher Philip Erskine für die schönste Gabe seines Lebens bedankt.
Da sind für Kevin die stillen Tage schon vorbei. Er wird in die überaus lebensgefährliche Suche nach dem ominösen Käfer verwickelt – die letzten Exemplare befinden sich in der Kehle des Boxers Seth "Sinner" Roach, der vor 70 Jahren irgendwo auf einer Londoner Müllhalde begraben wurde.
Zwischendrin ergeht sich das Buch ausgiebig auf einer zweiten Zeitebene, um die ungeheuerlichen Vorgänge des Jahres 1936 zu rekonstruieren. Neben dem Boxer ist hier der von Hitler gepriesene Erskine die zentrale Figur, wir erfahren von seinen wahrhaft phänomenalen Forschungen, seinem fatalen Familiendrama und hören britischen Intellektuellenkreisen, die unter dem Eindruck des faschistischen Zeitgeists stehen, bei überhitzten Debatten zu.
Beauman schreibt temporeich, gewitzt und trashig; immer wieder wartet er mit frischen Vergleichen auf: "Als er auf New York hinaussah, fühlte er sich wie eine Ameise, die über eine Filmleinwand kriecht." Oder: "In dieser relativ schönen Straße wirkte das schmale Gebäude wie ein heruntergekommener Eindringling mit braunen Zähnen."
Der Roman ist selbst ein merkwürdiger Käfer, eine Kreuzung aus Geheimwissenschafts-Thriller, historischem Roman und fabelhaftem Quatsch, geschult an düsteren Comic-Bildwelten, geprägt von einer pynchonesken Lust an überdrehter Erfindung.
Gewiss, zwischen herrlich schrägen Einfällen (wie dem "Burial Reformer", der "Vierteljahreszeitschrift der Londoner Gesellschaft zur Verhütung vorzeitiger Beerdigungen") hat auch mancher schale Gimmick ins Buch gefunden; vor allem das Motiv der verdrängten und dann umso grotesker praktizierten Homosexualität wird überstrapaziert. Aber die Mäkelei heben wir uns für die kommenden Bücher von Beauman auf. Hier ist erst einmal auf ein sehr talentiertes Debüt hinzuweisen. Anophthalmus hitleri gibt es übrigens wirklich.
Besprochen von Wolfgang Schneider
Ned Beauman: Flieg, Hitler, flieg!
Aus dem Englischen von Sophie Kreutzfeldt
DuMont, Köln 2010
286 Seiten, 19,95 Euro
Worum geht's? Um die Suche nach einem unheiligen Gral – in diesem Fall ein rattenstarker, fleischfressender Superkäfer, dessen Musterung ein Hakenkreuz ergibt, sobald er die Flügel schwirren lässt: Anophthalmus hitleri.
Es geht um den Wahnwitz der Eugenik, um Züchtungsideen, Verschwörungstheorien und Geheimgesellschaften – Wissenswelten, die sich der junge Autor mit erstaunlicher Souveränität angelesen oder herbeigegoogelt hat. Es geht um unterdrückte Triebe und entfesselte Lüste. Zum Personal gehören kleingewachsene jüdische Preisboxer, spleenige Wissenschaftler, die die Menschheit mit Kunstsprachen wie Pangäisch oder Volapük beglücken wollen, und skrupellose Killer, die im Auftrag der ariosophischen Thule-Gesellschaft unterwegs sind.
Die Hauptfigur Kevin Broom hat ein Problem: Er leidet an Trimethylaminurie, einer Krankheit, die ihn zum sozialen Krüppel macht. Die Betroffenen stinken aufgrund eines Stoffwechseldefekts nach altem Fisch. Menschliche Kontakte pflegt "Fishy" deshalb vor allem via Chatroom. Und er hat viel Zeit für sein ausgefallenes Hobby. Leidenschaftlich sammelt er Nazi-Devotionalien. Eines Tages fällt ihm ein Originalbrief von Hitler in die Hände, datiert auf den 4. Oktober 1936. Ein wahrhaft merkwürdiges Schreiben, in dem sich der Diktator bei dem britischen Hobby-Insektenforscher Philip Erskine für die schönste Gabe seines Lebens bedankt.
Da sind für Kevin die stillen Tage schon vorbei. Er wird in die überaus lebensgefährliche Suche nach dem ominösen Käfer verwickelt – die letzten Exemplare befinden sich in der Kehle des Boxers Seth "Sinner" Roach, der vor 70 Jahren irgendwo auf einer Londoner Müllhalde begraben wurde.
Zwischendrin ergeht sich das Buch ausgiebig auf einer zweiten Zeitebene, um die ungeheuerlichen Vorgänge des Jahres 1936 zu rekonstruieren. Neben dem Boxer ist hier der von Hitler gepriesene Erskine die zentrale Figur, wir erfahren von seinen wahrhaft phänomenalen Forschungen, seinem fatalen Familiendrama und hören britischen Intellektuellenkreisen, die unter dem Eindruck des faschistischen Zeitgeists stehen, bei überhitzten Debatten zu.
Beauman schreibt temporeich, gewitzt und trashig; immer wieder wartet er mit frischen Vergleichen auf: "Als er auf New York hinaussah, fühlte er sich wie eine Ameise, die über eine Filmleinwand kriecht." Oder: "In dieser relativ schönen Straße wirkte das schmale Gebäude wie ein heruntergekommener Eindringling mit braunen Zähnen."
Der Roman ist selbst ein merkwürdiger Käfer, eine Kreuzung aus Geheimwissenschafts-Thriller, historischem Roman und fabelhaftem Quatsch, geschult an düsteren Comic-Bildwelten, geprägt von einer pynchonesken Lust an überdrehter Erfindung.
Gewiss, zwischen herrlich schrägen Einfällen (wie dem "Burial Reformer", der "Vierteljahreszeitschrift der Londoner Gesellschaft zur Verhütung vorzeitiger Beerdigungen") hat auch mancher schale Gimmick ins Buch gefunden; vor allem das Motiv der verdrängten und dann umso grotesker praktizierten Homosexualität wird überstrapaziert. Aber die Mäkelei heben wir uns für die kommenden Bücher von Beauman auf. Hier ist erst einmal auf ein sehr talentiertes Debüt hinzuweisen. Anophthalmus hitleri gibt es übrigens wirklich.
Besprochen von Wolfgang Schneider
Ned Beauman: Flieg, Hitler, flieg!
Aus dem Englischen von Sophie Kreutzfeldt
DuMont, Köln 2010
286 Seiten, 19,95 Euro