Die Sufis von Istanbul
Eine Richtung des Islam, die vielen als liberal oder zumindest als unorthodox gilt, ist der Sufismus. Die tanzenden Derwische und ihre Flötenmusik gehören zum Programm von Istanbul-Besuchern. Neben der Touristenattraktion gibt es in der Millionenstadt aber unzählige andere Sufi-Bruderschaften, die das Erbe der islamischen Mystik pflegen und weitergeben.
An die 2000 Tekken, Sufi- Versammlungshäuser gibt es in Istanbul – aber nur selten weist ein Hinweisschild den Weg, sie sind auf keinem Stadtplan verzeichnet und selbst auf den zahlreichen Internetseiten zu Istanbul werden die Treffpunkte der Sufis von Istanbul nur selten erwähnt. Die meisten Tekken liegen in Fatih. Der Stadtteil auf halbem Weg zwischen dem großen Basar und der byzantinischen Stadtmauer hat seinen Namen von der Fatih-Cami. In dieser Moschee liegt der Eroberer von Konstantinopel Mehmet Fatih begraben. In den engen Gassen rings um den Moscheenkomplex prägen Männer mit langen Bärten und Frauen mit Kopftuch das Straßenbild. Von hier scheint das Istanbul der gleißenden Shoppingmalls, der Bars und Straßencafés Lichtjahre weit entfernt. Die erste Station meiner Reise zu den Sufis von Istanbul liegt hier, hinter einer unscheinbaren Holztür: Die Tekke der Halveti Jerrahi Bruderschaft
Zur Linken liegt die Türbe, das Mausoleum mit den Gräbern des Ordensgründers Scheich Muhammad Nureddin al-Jerrahi und seiner Nachfolger. Ein paar ältere Frauen beten leise vor dem vergitterten Fenster. Das eigentliche Versammlungshaus, das Frauen nur selten betreten, liegt versteckt hinter der Türbe. Im Andachtsraum hat das Abendgebet gerade begonnen. Auf den ersten Blick unterscheidet sich hier nichts von einem Gebet in irgendeiner Moschee. Die gleiche Abfolge ritueller Gebetshaltungen: Knien, stehen, vornüberbeugen. Nur, dass alle Männer die typischen weißen Ordenskappen tragen. Nach dem Gebet bleiben alle mit übereinandergeschlagenen Beinen sitzen und stimmen den ersten Sprechgesang zum Lobpreis Gottes an diesem Abend an.
"Sufismus heißt, diese Verbindung mit Gott zu fühlen und zu leben, andauernd. Wir berufen uns dabei auf einen Koranvers, in dem Gott über die Gläubigen sagt: Sie loben Gott und erinnern sich seiner: im Stehen, im Sitzen und im Liegen."
… erklärt mir Ahmet, ein junger Englischlehrer nach dem Gebet. Ein Ordensbruder unterbricht unser Gespräch. Es ist Zeit für das gemeinsame Abendessen. Wir sitzen mit untergeschlagenen Beinen an langen Tischen, Teller gibt es keine, alle essen gemeinsam aus großen Schüsseln.
"Aus Sicht eines Sufis ist keiner fremd, und man darf keinen Menschen ausgrenzen."
Nach dem Essen sitzen die Brüder im kleinen Garten hinter der Tekke, trinken Tee und rauchen. Neugierige Blicke verfolgen mich, während mir Ahmet seine Geschichte erzählt:
"Es ist jetzt zehn Jahre her. Damals spielte ich Gitarre in einer Rockband. Ich war zwar ein gläubiger Muslim, aber unbewusst suchte ich nach einem Neuanfang für mein spirituelles Leben."
Bis ihn eines Abends ein Bekannter mit zum Scheich des Ordens nahm.
"Bei unserem ersten Zusammentreffen waren wir circa 20 Leute. Aber irgendwann fragte der Scheich, wer schon in Mekka war. Ich meldete mich und für die nächste Stunde sprach er nur zu mir. Ohne dass ich sie gestellt hätte, wurden alle meine Fragen beantwortet und ich dachte mir: Okay, das ist mein spiritueller Arzt."
Für Ahmet begann mit der Begegnung eine Liebesgeschichte:
"Ich habe mich gleich in den Scheich verliebt. Ich konnte nur noch an ihn denken, ich hörte auf, regelmäßig zu essen; wenn ich an ihn dachte, bekam ich Herzklopfen."
So wie Ahmet erging es vor 800 Jahren Dschalal Ad-Din Rumi, einem Theologen aus Konya, als er den Sufi Shams-e-Tabrizi trifft.
"Tag und Nacht saß er mit dem Freunde in der Zelle, ohne Essen, ohne Trinken, ohne irgendwelche menschlichen Bedürfnisse."
… heißt es in einer Legende. Rumi kümmert sich nicht mehr um seine Studenten, nicht mehr um seine Familie. Und als der geliebte Freund spurlos verschwindet, schreibt sich Rumi seine Sehnsucht in leidenschaftlicher Liebeslyrik von der Seele.
Die Frage, ob man das, was zwischen dem angesehenen Gelehrten und Familienvater und dem charismatischen Wanderprediger passierte, nicht auch als homosexuelle Liebesgeschichte deuten könnte, würde Ahmet empört zurückweisen. Rumi selbst deutete seine Liebe als Sehnsucht des Menschen nach Allah, die nur ein Ziel kennt: Die Auflösung des Ich in Gott. Ahmets Bild dafür stammt aus einem Rumi-Gedicht:
"So wie ein Stück Eisen in Feuer: Wenn es anfängt zu glühen - kann es dann sagen: Ich bin zu Feuer geworden? Nicht ganz, aber es ist auch nicht mehr getrennt vom Feuer."
"Mein Gott, ich bin ein Liebender geworden und Allah ist mein einziges Begehren auf der Schwelle zu meinem Scheich."
Anders als bei Rumi nahm Ahmets Liebesgeschichte, wenn man so will, ein gutes Ende. Er wurde vom Scheich im Traum auserwählt.
"Es gibt mehrere Wege, ein Derwisch zu werden. Am besten ist, man erhält ein geistiges Zeichen im Traum, so wie es mir passiert ist. Ich darf über die Träume nicht reden, nur so viel, dass der Scheich darin vorkam."
Nur dem Scheich, nur dem Meister darf der Schüler seine Träume offenbaren. Ahmet kann sich noch genau an den Tag erinnern, als er dem Scheich seinen Traumbericht vorlegte:
"An einem Septembertag vor neun Jahren kam ich hierher, und als ich dem Scheich die Aufzeichnungen mit meinen Träumen überreichte, lächelte er nur und meinte: Du legst es echt darauf an."
Wenig später wurde er vom Scheich initiiert, als Derwisch oder Laienbruder. Das Konzept einer Mönchsgemeinschaft, die in einem Kloster lebt und arbeitet, war nie wirklich Teil des Sufismus und so lebt der Derwisch Ahmet wie seine Mitbrüder sein bürgerliches Leben mit Familie und Beruf weiter.
"Die Initiation wird Beera genannt: Das bedeutet Verkauf. Denn der Schüler verkauft seinen freien Willen an den Scheich. Wenn der Scheich echt ist, wird er dieses Gut allerdings nie missbrauchen. Der Scheich ist kein politischer Führer oder religiöser Lehrer. Er ist die Quelle des Lichts und der Spiegel deiner Seele."
"Ich werde zum Liebenden auf der Türschwelle zu meinem Scheich"
Dass nicht alle Scheichs diesem Ideal entsprechen und entsprachen, weiß auch der Halveti-Derwisch Ahmet:
"Einige Sufi-Bruderschaften engagierten sich im osmanischen Reich politisch, wurden einflussreich und wurden korrupt."
Ahmets eigene Halveti Jerrahi Bruderschaft spielte eine große Rolle im politischen Leben der osmanischen Hauptstadt. Kein anderer Orden unterhielt in Istanbul so viele Tekken wie dieser. Als Atatürk die Republik gründete und der Sultan als politischer Herrscher und als Kalif, als religiöses Oberhaupt aller Muslime, abgesetzt wurde, war damit Schluss. Alle Tekken wurden aufgelöst, die Bruderschaften praktisch verboten. Die Halveti Bruderschaft allerdings hatte Glück, ihre Tekke in Fatih überlebte offiziell als Institut für klassische türkische Musik.
Unser Gespräch war Ahmet wichtiger als das Nachtgebet, aber jetzt entschuldigt er sich. Zeit für den "Zikr", das Ritual, in dem sich Sufis die Barmherzigkeit Gottes vergegenwärtigen. Die Halvetis hocken jetzt dicht gedrängt im Nebenraum der großen Halle, in der Mitte ein leerer Stuhl für den Scheich, der in dieser Woche die Halveti-Brüder in Kanada besucht. Das "reine Licht" des Ordens strahlt mittlerweile bis nach Amerika, Allerdings strahlt es hier nur für Männer - zumindest in der Öffentlichkeit. Höchstens von der Tribüne aus können weibliche Anhänger des Scheichs die Zeremonie verborgen hinter einem Holzgitter verfolgen.
"In der Menge bin ich verloren gegangen, auf der Schwelle zu meinem Scheich kehre ich zurück in die Einsamkeit."
Diesmal begleiten die Sufis ihren Sprechgesang mit Trommel und Ney, der traditionellen Schilfrohrflöte, deren Ton Rumi an das Seufzen eines Verliebten erinnerte.
Ein paar Touristinnen und Touristen werden hereingeführt und auf einer niedrigen Holztribüne platziert. Nach dem ersten Gesang wird klar, warum sie gekommen sind: Eine Gruppe Mevlana-Derwische tritt einer nach dem anderen in den Saal: In ihren langen weißen Röcken und den hohen Filzhüten sehen sie so aus, wie sich Türkei-Reisende einen typischen Derwisch vorstellen. Langsam beginnen sie, sich mit geschlossenen Augen zu drehen, immer schneller, die langen weißen Röcke heben sich vom Boden, schlagen Wellen. Hinter ihnen werfen die Halvetis ihre Oberkörper im Takt nach links und nach rechts - es ist, als würden zwei Rituale im gleichen Raum stattfinden, die nichts miteinander zu haben. Tanz gehört nicht zu den Praktiken der Halveti-Sufis, aber man bietet den Mevlana-Derwischen Asyl, weil sie nur noch über wenige aktive Tekken verfügen. Die tanzenden Sufis verschwinden so unvermittelt, wie sie aufgetreten sind - zusammen mit den Touristen. Zum Tee nach der Andacht sind die Halveti-Sufis wieder unter sich. Wie lebt es sich als Derwisch in der Millionenstadt Istanbul in der heutigen Türkei, frage ich Ahmet:
"Es spielt keine Rolle, ob man in dieser oder jener Stadt lebt. Am Ende ist man allein mit sich und dieser unendlichen Quelle der Liebe, die nichts anderes als Gott ist. "
Als gläubiger Muslim und Englischlehrer an einem staatlichen Gymnasium kennt Ahmet beide Seiten, die Argumente der Kemalisten und der Islamisten, die sich in der Türkei seit Jahrzehnten um die Rolle der Religion in der Gesellschaft streiten.
" "Sobald die Leute strenggläubig werden, halten sie sich für die Vollstrecker von Gottes Rache. Und dann fangen die Konflikte erst richtig an. Weil der Islam nicht daraus besteht, sich einen Bart wachsen zu lassen oder sich so oder so zu kleiden. Aber für viele werden die äußeren Zeichen zu Selbstzweck-Götzen. Sie beten den Bart an, den Ramadan und was weiß ich."
Für Ahmet zählt dagegen die tiefe persönliche Gottesbeziehung im Alltag und die gemeinsamen Rituale, dreimal in der Woche in seiner Tekke. Andere zu richten, ist seine Sache nicht.
"In den Fehler der anderen erkenne ich mein eigenes Ungenügen, sie sind nur der Spiegel meiner eigenen unvollkommenen inneren Welt."
Ahmet streicht sich über sein glatt rasiertes Kinn und lächelt verlegen. Dann bittet er mich, nicht seinen vollen Namen zu nennen. Fromme Bescheidenheit oder Vorsicht? Auch wenn unter der Regierung Erdogans, selbst angeblich Mitglied eines Sufi-Ordens, die Bruderschaften relativ unbehelligt operieren, wird es nicht gern gesehen, wenn sich Staatsdiener öffentlich zu Religion äußern.
"Wir sagen im Spaß: Neben den fünf Säulen des Islams: Beten, Almosen geben, Fasten ... und so weiter ... gibt es eine sechste Säule: Erkenne Deine eigenen Grenzen."
Wie ein Sufi im Istanbul von heute an seinen Grenzen scheitert, zeigt der türkische Spielfilm "Takva - Gottesfurcht". Muharrem, ein einfacher Bürobote und Mitglied einer Bruderschaft, wird von seinem Scheich dazu auserwählt, sich um die weltlichen Belange des Ordens zu kümmern.
Szene aus dem Film:
"Du würdest dem Orden Deine Treue zeigen und Gott einen Dienst erweisen. Was meinst Du?"
"Ich weiß nicht, ob ich das schaffe, edler Meister. Ich möchte Euch nicht enttäuschen."
Einen Tag nach dem "Zikr" in Fatih sitze ich im Büro von Drehbuchautor Önder Cakar. Den überzeugten Marxisten hat die widersprüchliche Geschichte der Derwisch-Orden im osmanischen Reich schon immer interessiert:
"Der Sufismus ist eine Volkskultur. Historisch betrachtet, stand er bisweilen auf der Seite der Opposition. Deswegen ist ja aus marxistischer Sicht der Sufismus auch so amüsant und lehrreich zugleich."
Ihr ursprüngliches sozialkritisches Ethos allerdings haben die Sufis für Cakar schon lange verraten:
"Ich kann nicht erkennen, wann zuletzt die Sufis ihren enormen Einfluss auf die Bevölkerung innerhalb der letzten 80 Jahren positiv genutzt haben sollen. Vor 100 Jahren hat ein Völkermord an den Armeniern stattgefunden - die Sufis haben nichts dagegen unternommen, sie haben sich dem Massaker nicht entgegengestellt. Heute sind es die Kurden, die sterben. Auch die Kurden sind Muslime und diese Orden sind auch in Kurdistan präsent. Doch auch hier stellen sie sich nicht gegen den Krieg, im Gegenteil: Sie begrüßen ihn. Von einem romantischen, mystischen oder humanistischen Sufismus, wie er in vielen Büchern beschrieben wird, kann in der Türkei schon lange nicht mehr die Rede sein."
In Cakars Film "Takva" versucht Muharrem sein Bestes, um seinen Scheich nicht zu enttäuschen. Er kassiert die Mieten für die Immobilien des Ordens, tätigt Bankgeschäfte, verhandelt mit Geschäftsleuten. Aber schließlich zerbricht er am Widerspruch zwischen Sufi-Demut und den wirtschaftlichen Interessen seines Ordens.
Szene aus dem Film:
"Es gibt kein Zurück. Ich muss verkaufen und immer wieder verkaufen."
"Die Bruderschaften haben verschiedene Finanzquellen. Wenn etwa jemandem ein Fenster zu Bruch geht, wird dies nicht vom nächstbesten Glaser repariert. Nein, hier kommt der Glaser aus dem Orden zum Einsatz. Wie Sie sehen, ist dies ein geschlossenes Wirtschaftssystem."
Einige Bruderschaften unterhalten ihre eigenen Geldinstitute, weil sie Bankzinsen als unislamisch ablehnen, und ihre eigenen Reiseunternehmen:
"Nimm beispielsweise die Pilgerfahrten, das sind riesige Organisationsanstrengungen. Diese Art der Geschäfte bringen ihnen viel, viel Geld ein, zu vergleichen vielleicht mit einer Welttournee von Madonna."
Daneben, so Cakar, treten Bruderschaften als Medienunternehmen auf:
"Ich zum Beispiel habe für den Film 'Takva' 1,2 Millionen Euro ausgegeben. Die DVD hat sich rund 500.000 Mal verkauft. Aber jemand wie Cübbeli Ahmet Hoca stellt sich einfach vor eine Kamera, erzählt nur Unfug und seine DVD wird auch noch zum gleichen Preis verkauft wie mein Film. Doch dieser Mann verkauft etwa zehn Millionen DVDs!"
Meine nächste Station ist die Ismael Aga Moschee in Fatih. Im Schaufenster des Buchladens gegenüber liegen die DVDs von Cübbeli Ahmet Hoca, von dem der Drehbuchautor erzählt hatte. Frauen im schwarzen Ganzkörper-Hidschab huschen vorbei. Männer in Turban, Pluderhosen und langen Mänteln flanieren durch die Gassen wie Statisten für einen Historienfilm über das osmanische Reich. Hier ist der Naqschibendi-Orden zu Hause, zu dem Cübelli Ahmet gehört. Der Gründer Baha-ud-Din Naqschband lebte im 14. Jahrhundert in Buchara. Von dort breitete sich der Orden in der ganzen islamischen Welt aus. Im osmanischen Reich gelangten die verschiedenen Zweige des Ordens rasch zu Einfluss, der bis heute nachwirkt, trotz Atatürks Verbot. Allein drei Ministerpräsidenten wird eine Mitgliedschaft nachgesagt: Turgut Özal, Necmettin Erbakan und Recep Erdogan.
Vor der Moschee spricht mich ein junger Turbanträger in fließendem Deutsch an: Idris, ein türkischstämmiger Deutscher aus Freiburg. Gerade hat er sein Betriebswirtschaftsexamen bestanden. Jetzt verbringt er mit seiner Familie die Semesterferien in Istanbul. Nein, ein Interview will er mir nicht geben, aber in den nächsten Tagen werden sich mir mit seiner Hilfe manche Türen öffnen. Als Erstes führt er mich in die Koranschule des Ordens. In dem schmucklosen Betonbau wohnen Studenten aus der gesamten islamischen Welt von Bosnien bis Indonesien und lernen den strengen Islam der Naqschibendi. Ein Lehrer aus Pakistan erklärt dem Besucher aus Deutschland in gebrochenem Englisch die Grundzüge des Zikr, wie es von den Naqschibendis praktiziert wird:
"There is also zikr, this is the sufism. There is also something about sufisms they destroy the name of Sufism. A lot of people they also use the music, this is islamic music, this is sufi music. These things are haram."
Das "Zikr"-Ritual der Naqschibendi -Sufis geschehe in vollkommener Stille. Gesang oder Musik wie bei anderen Orden gelte als haram - verboten, sündig, erklärt der Lehrer. Leider bleibt keine Zeit für ein längeres Gespräch. Mein Freiburger Begleiter drängt zum Aufbruch. Unter keinen Umständen würde Idris eines der fünf vorgeschriebenen Gebete versäumen. Am Eingang zur Moschee werden wir von einem alten Mann angesprochen. "Der Friseur unseres Sheikhs", flüstert Idris. Mit Verschwörermiene fischt der Greis ein Plastikbeutelchen aus seiner Brusttasche: Barthaare des Meisters, die er wie einen Talisman bei sich trägt.
Ein paar Tage später treffe ich Scheich Mahmut persönlich. Idris hat eine Audienz vereinbart. Die Villa des Ordensführers weit draußen in einem Vorort auf der asiatischen Seite der Stadt erinnert mit den hohen Mauern, dem Stacheldraht und den Kameras an ein luxuriöses Hochsicherheitsgefängnis: Allein zwei Imame und zwei Mitglieder der Bruderschaft wurden in den letzten 15 Jahren ermordet. Bis heute ist nicht geklärt, ob sie Opfer eines internen Machtkampfs um die Nachfolge des Scheichs wurden. Im Warteraum bleiben wir nicht lange allein. Männer mit Turban kommen und gehen. Im Fernsehen laufen die Bilder der Überwachungskameras.
Als wir nach zwei Stunden endlich vorgelassen werden, treffe ich auf einen alten Mann im Rollstuhl, der kaum noch hören und sehen kann. Auf meine Frage nach einer Geschichte oder einem Gleichnis aus der Naqschibendi-Tradition krächzt Scheich Mahmut. "Diesmal nicht", wird mir die Antwort übersetzt. Ein Händedruck, ein Foto, dann ist die Audienz zu Ende. Idris ist glücklich. So nahe sei er seinem Scheich noch nie gewesen, gesteht er mir auf der Heimfahrt.
Mein nächster Interviewpartner ist gesprächiger. Die Nummer zwei der Ordens, der Bestseller-Autor Cübelli Ahmet Hoca, empfängt mich in seinem nagelneuen Verlagsgebäude. Cübelli Ahmet, Ahmet mit dem Mantel, wie er wegen seines grünen Umhangs genannt wird, ist eine der umstrittensten Figuren des konservativen Islams in der Türkei. Die Frage nach dem Einfluss seines Ordens beantwortet er selbstbewusst:
"Der Naqschibendi-Orden ist sehr präsent und auf diesem Wege erreicht er die Menschen. Wir unterhalten Fernsehsender, eigene Radiostationen, Zeitschriften, Heime sowie Korankurse und -schulen. Da vergleichbare Aktivitäten bei anderen Orden nicht existieren, kommt niemand, der sich mit dem Sufismus beschäftigt, an der Naqschibendi-Bruderschaft vorbei."
Auf dem Fernsehkanal der Bruderschaft und im Internet wettert Ahmet Hoca vor allem gegen die Feinde des wahren Islams: Das sind auf der einen Seite die arabischen Wahabiten und islamistische Terroristen und auf der anderen Seite: Juden, der Staat Israel, Freimaurer und Christen.
Predigtausschnitt: "Haltet Euch nicht Juden und Christen als Freunde, solange es diesen Koranvers gibt, erwartet von mir keinen jüdisch-christlichen Dialog, erwartet keine solche Freundschaft."
Vor 12 Jahren deutete Cübelli ein schweres Erdbeben 100 Kilometer östlich von Istanbul als gerechte Strafe Gottes für Wucherer, Prostituierte und Ehebrecher. Vom türkischen Staat wurde er daraufhin wegen Volksverhetzung verurteilt.
"Worauf es in unserem Orden ankommt, ist, sich der Verbindung mit Allah mit dem Herzen in der Stille zu vergegenwärtigen. Das kann man überall machen."
Auch im Gefängnis. Wenige Wochen nach unserem Gespräch wurde Ahmet Hoca verhaftet: Die Staatsanwaltschaft wirft dem Gottesmann Kontakte zur türkischen Mafia vor, Erpressung und Zuhälterei.
Auf der Suche nach den Sufis von Istanbul habe ich zwei Gemeinschaften gefunden, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die einen sind einem in sich gekehrten Islam verpflichtet, die anderen sehnen sich nach einer strengreligiösen Gesellschaft wie zu Zeiten des osmanischen Reichs. Beide, Naqschibendis und Halvetis, füllen eine Lücke, die viele Muslime in der Türkei erfahren.
"So viele Menschen sind enttäuscht von der offiziellen Religion und suchen irgendeine spirituelle Dimension."
Der französische Religionswissenschaftler Alexandre Toumarkine untersucht seit Jahren die türkische Alltagsreligion:
"Sagt der offizielle Islam irgendetwas über Körper? Gut, vielleicht darüber, wie man sich kleiden soll, aber das ist nicht ganz dasselbe. Oder sagt der orthodoxe Islam etwas über Gefühle? Nein - Aber der Sufismus hat etwas dazu zu sagen. Wenn man niedergeschlagen ist, wenn man Trost braucht, ratlos ist - die Scheichs der Sufis haben darauf eine therapeutische Antwort. Sie stehen für eine Art alternative Medizin."
Und ob die Sufis wollen oder nicht: Sie müssen sich auf dem Basar der Weltanschauungen behaupten.
"Auch in der Türkei ist Religion zum Markt geworden. Und die Sufi-Bruderschaften müssen auf diesem Markt irgendwie bestehen und verkaufen."
Zu bieten haben die Sufis Trost, Macht, Erkenntnis, Ekstase, Einheit mit Gott oder etwas ganz anderes. Der Halveti-Derwisch Ahmet formuliert es so:
"Im Sufismus gibt es viele Metaphern, in denen vom Reisen die Rede ist, aber dahintersteckt, dass man nirgendwo ankommen kann, außer bei sich selbst. Das letzte Ziel der Reise liegt in deinem eigenen Herzen."
Links bei dradio.de:
Jeden Samstag tanzen bis zum Umfallen - Sufis in Berlin
Dschihad und Mitmenschlichkeit
Kristiane Backer: "Der Islam als Weg des Herzens", Ullstein Berlin
Zur Linken liegt die Türbe, das Mausoleum mit den Gräbern des Ordensgründers Scheich Muhammad Nureddin al-Jerrahi und seiner Nachfolger. Ein paar ältere Frauen beten leise vor dem vergitterten Fenster. Das eigentliche Versammlungshaus, das Frauen nur selten betreten, liegt versteckt hinter der Türbe. Im Andachtsraum hat das Abendgebet gerade begonnen. Auf den ersten Blick unterscheidet sich hier nichts von einem Gebet in irgendeiner Moschee. Die gleiche Abfolge ritueller Gebetshaltungen: Knien, stehen, vornüberbeugen. Nur, dass alle Männer die typischen weißen Ordenskappen tragen. Nach dem Gebet bleiben alle mit übereinandergeschlagenen Beinen sitzen und stimmen den ersten Sprechgesang zum Lobpreis Gottes an diesem Abend an.
"Sufismus heißt, diese Verbindung mit Gott zu fühlen und zu leben, andauernd. Wir berufen uns dabei auf einen Koranvers, in dem Gott über die Gläubigen sagt: Sie loben Gott und erinnern sich seiner: im Stehen, im Sitzen und im Liegen."
… erklärt mir Ahmet, ein junger Englischlehrer nach dem Gebet. Ein Ordensbruder unterbricht unser Gespräch. Es ist Zeit für das gemeinsame Abendessen. Wir sitzen mit untergeschlagenen Beinen an langen Tischen, Teller gibt es keine, alle essen gemeinsam aus großen Schüsseln.
"Aus Sicht eines Sufis ist keiner fremd, und man darf keinen Menschen ausgrenzen."
Nach dem Essen sitzen die Brüder im kleinen Garten hinter der Tekke, trinken Tee und rauchen. Neugierige Blicke verfolgen mich, während mir Ahmet seine Geschichte erzählt:
"Es ist jetzt zehn Jahre her. Damals spielte ich Gitarre in einer Rockband. Ich war zwar ein gläubiger Muslim, aber unbewusst suchte ich nach einem Neuanfang für mein spirituelles Leben."
Bis ihn eines Abends ein Bekannter mit zum Scheich des Ordens nahm.
"Bei unserem ersten Zusammentreffen waren wir circa 20 Leute. Aber irgendwann fragte der Scheich, wer schon in Mekka war. Ich meldete mich und für die nächste Stunde sprach er nur zu mir. Ohne dass ich sie gestellt hätte, wurden alle meine Fragen beantwortet und ich dachte mir: Okay, das ist mein spiritueller Arzt."
Für Ahmet begann mit der Begegnung eine Liebesgeschichte:
"Ich habe mich gleich in den Scheich verliebt. Ich konnte nur noch an ihn denken, ich hörte auf, regelmäßig zu essen; wenn ich an ihn dachte, bekam ich Herzklopfen."
So wie Ahmet erging es vor 800 Jahren Dschalal Ad-Din Rumi, einem Theologen aus Konya, als er den Sufi Shams-e-Tabrizi trifft.
"Tag und Nacht saß er mit dem Freunde in der Zelle, ohne Essen, ohne Trinken, ohne irgendwelche menschlichen Bedürfnisse."
… heißt es in einer Legende. Rumi kümmert sich nicht mehr um seine Studenten, nicht mehr um seine Familie. Und als der geliebte Freund spurlos verschwindet, schreibt sich Rumi seine Sehnsucht in leidenschaftlicher Liebeslyrik von der Seele.
Die Frage, ob man das, was zwischen dem angesehenen Gelehrten und Familienvater und dem charismatischen Wanderprediger passierte, nicht auch als homosexuelle Liebesgeschichte deuten könnte, würde Ahmet empört zurückweisen. Rumi selbst deutete seine Liebe als Sehnsucht des Menschen nach Allah, die nur ein Ziel kennt: Die Auflösung des Ich in Gott. Ahmets Bild dafür stammt aus einem Rumi-Gedicht:
"So wie ein Stück Eisen in Feuer: Wenn es anfängt zu glühen - kann es dann sagen: Ich bin zu Feuer geworden? Nicht ganz, aber es ist auch nicht mehr getrennt vom Feuer."
"Mein Gott, ich bin ein Liebender geworden und Allah ist mein einziges Begehren auf der Schwelle zu meinem Scheich."
Anders als bei Rumi nahm Ahmets Liebesgeschichte, wenn man so will, ein gutes Ende. Er wurde vom Scheich im Traum auserwählt.
"Es gibt mehrere Wege, ein Derwisch zu werden. Am besten ist, man erhält ein geistiges Zeichen im Traum, so wie es mir passiert ist. Ich darf über die Träume nicht reden, nur so viel, dass der Scheich darin vorkam."
Nur dem Scheich, nur dem Meister darf der Schüler seine Träume offenbaren. Ahmet kann sich noch genau an den Tag erinnern, als er dem Scheich seinen Traumbericht vorlegte:
"An einem Septembertag vor neun Jahren kam ich hierher, und als ich dem Scheich die Aufzeichnungen mit meinen Träumen überreichte, lächelte er nur und meinte: Du legst es echt darauf an."
Wenig später wurde er vom Scheich initiiert, als Derwisch oder Laienbruder. Das Konzept einer Mönchsgemeinschaft, die in einem Kloster lebt und arbeitet, war nie wirklich Teil des Sufismus und so lebt der Derwisch Ahmet wie seine Mitbrüder sein bürgerliches Leben mit Familie und Beruf weiter.
"Die Initiation wird Beera genannt: Das bedeutet Verkauf. Denn der Schüler verkauft seinen freien Willen an den Scheich. Wenn der Scheich echt ist, wird er dieses Gut allerdings nie missbrauchen. Der Scheich ist kein politischer Führer oder religiöser Lehrer. Er ist die Quelle des Lichts und der Spiegel deiner Seele."
"Ich werde zum Liebenden auf der Türschwelle zu meinem Scheich"
Dass nicht alle Scheichs diesem Ideal entsprechen und entsprachen, weiß auch der Halveti-Derwisch Ahmet:
"Einige Sufi-Bruderschaften engagierten sich im osmanischen Reich politisch, wurden einflussreich und wurden korrupt."
Ahmets eigene Halveti Jerrahi Bruderschaft spielte eine große Rolle im politischen Leben der osmanischen Hauptstadt. Kein anderer Orden unterhielt in Istanbul so viele Tekken wie dieser. Als Atatürk die Republik gründete und der Sultan als politischer Herrscher und als Kalif, als religiöses Oberhaupt aller Muslime, abgesetzt wurde, war damit Schluss. Alle Tekken wurden aufgelöst, die Bruderschaften praktisch verboten. Die Halveti Bruderschaft allerdings hatte Glück, ihre Tekke in Fatih überlebte offiziell als Institut für klassische türkische Musik.
Unser Gespräch war Ahmet wichtiger als das Nachtgebet, aber jetzt entschuldigt er sich. Zeit für den "Zikr", das Ritual, in dem sich Sufis die Barmherzigkeit Gottes vergegenwärtigen. Die Halvetis hocken jetzt dicht gedrängt im Nebenraum der großen Halle, in der Mitte ein leerer Stuhl für den Scheich, der in dieser Woche die Halveti-Brüder in Kanada besucht. Das "reine Licht" des Ordens strahlt mittlerweile bis nach Amerika, Allerdings strahlt es hier nur für Männer - zumindest in der Öffentlichkeit. Höchstens von der Tribüne aus können weibliche Anhänger des Scheichs die Zeremonie verborgen hinter einem Holzgitter verfolgen.
"In der Menge bin ich verloren gegangen, auf der Schwelle zu meinem Scheich kehre ich zurück in die Einsamkeit."
Diesmal begleiten die Sufis ihren Sprechgesang mit Trommel und Ney, der traditionellen Schilfrohrflöte, deren Ton Rumi an das Seufzen eines Verliebten erinnerte.
Ein paar Touristinnen und Touristen werden hereingeführt und auf einer niedrigen Holztribüne platziert. Nach dem ersten Gesang wird klar, warum sie gekommen sind: Eine Gruppe Mevlana-Derwische tritt einer nach dem anderen in den Saal: In ihren langen weißen Röcken und den hohen Filzhüten sehen sie so aus, wie sich Türkei-Reisende einen typischen Derwisch vorstellen. Langsam beginnen sie, sich mit geschlossenen Augen zu drehen, immer schneller, die langen weißen Röcke heben sich vom Boden, schlagen Wellen. Hinter ihnen werfen die Halvetis ihre Oberkörper im Takt nach links und nach rechts - es ist, als würden zwei Rituale im gleichen Raum stattfinden, die nichts miteinander zu haben. Tanz gehört nicht zu den Praktiken der Halveti-Sufis, aber man bietet den Mevlana-Derwischen Asyl, weil sie nur noch über wenige aktive Tekken verfügen. Die tanzenden Sufis verschwinden so unvermittelt, wie sie aufgetreten sind - zusammen mit den Touristen. Zum Tee nach der Andacht sind die Halveti-Sufis wieder unter sich. Wie lebt es sich als Derwisch in der Millionenstadt Istanbul in der heutigen Türkei, frage ich Ahmet:
"Es spielt keine Rolle, ob man in dieser oder jener Stadt lebt. Am Ende ist man allein mit sich und dieser unendlichen Quelle der Liebe, die nichts anderes als Gott ist. "
Als gläubiger Muslim und Englischlehrer an einem staatlichen Gymnasium kennt Ahmet beide Seiten, die Argumente der Kemalisten und der Islamisten, die sich in der Türkei seit Jahrzehnten um die Rolle der Religion in der Gesellschaft streiten.
" "Sobald die Leute strenggläubig werden, halten sie sich für die Vollstrecker von Gottes Rache. Und dann fangen die Konflikte erst richtig an. Weil der Islam nicht daraus besteht, sich einen Bart wachsen zu lassen oder sich so oder so zu kleiden. Aber für viele werden die äußeren Zeichen zu Selbstzweck-Götzen. Sie beten den Bart an, den Ramadan und was weiß ich."
Für Ahmet zählt dagegen die tiefe persönliche Gottesbeziehung im Alltag und die gemeinsamen Rituale, dreimal in der Woche in seiner Tekke. Andere zu richten, ist seine Sache nicht.
"In den Fehler der anderen erkenne ich mein eigenes Ungenügen, sie sind nur der Spiegel meiner eigenen unvollkommenen inneren Welt."
Ahmet streicht sich über sein glatt rasiertes Kinn und lächelt verlegen. Dann bittet er mich, nicht seinen vollen Namen zu nennen. Fromme Bescheidenheit oder Vorsicht? Auch wenn unter der Regierung Erdogans, selbst angeblich Mitglied eines Sufi-Ordens, die Bruderschaften relativ unbehelligt operieren, wird es nicht gern gesehen, wenn sich Staatsdiener öffentlich zu Religion äußern.
"Wir sagen im Spaß: Neben den fünf Säulen des Islams: Beten, Almosen geben, Fasten ... und so weiter ... gibt es eine sechste Säule: Erkenne Deine eigenen Grenzen."
Wie ein Sufi im Istanbul von heute an seinen Grenzen scheitert, zeigt der türkische Spielfilm "Takva - Gottesfurcht". Muharrem, ein einfacher Bürobote und Mitglied einer Bruderschaft, wird von seinem Scheich dazu auserwählt, sich um die weltlichen Belange des Ordens zu kümmern.
Szene aus dem Film:
"Du würdest dem Orden Deine Treue zeigen und Gott einen Dienst erweisen. Was meinst Du?"
"Ich weiß nicht, ob ich das schaffe, edler Meister. Ich möchte Euch nicht enttäuschen."
Einen Tag nach dem "Zikr" in Fatih sitze ich im Büro von Drehbuchautor Önder Cakar. Den überzeugten Marxisten hat die widersprüchliche Geschichte der Derwisch-Orden im osmanischen Reich schon immer interessiert:
"Der Sufismus ist eine Volkskultur. Historisch betrachtet, stand er bisweilen auf der Seite der Opposition. Deswegen ist ja aus marxistischer Sicht der Sufismus auch so amüsant und lehrreich zugleich."
Ihr ursprüngliches sozialkritisches Ethos allerdings haben die Sufis für Cakar schon lange verraten:
"Ich kann nicht erkennen, wann zuletzt die Sufis ihren enormen Einfluss auf die Bevölkerung innerhalb der letzten 80 Jahren positiv genutzt haben sollen. Vor 100 Jahren hat ein Völkermord an den Armeniern stattgefunden - die Sufis haben nichts dagegen unternommen, sie haben sich dem Massaker nicht entgegengestellt. Heute sind es die Kurden, die sterben. Auch die Kurden sind Muslime und diese Orden sind auch in Kurdistan präsent. Doch auch hier stellen sie sich nicht gegen den Krieg, im Gegenteil: Sie begrüßen ihn. Von einem romantischen, mystischen oder humanistischen Sufismus, wie er in vielen Büchern beschrieben wird, kann in der Türkei schon lange nicht mehr die Rede sein."
In Cakars Film "Takva" versucht Muharrem sein Bestes, um seinen Scheich nicht zu enttäuschen. Er kassiert die Mieten für die Immobilien des Ordens, tätigt Bankgeschäfte, verhandelt mit Geschäftsleuten. Aber schließlich zerbricht er am Widerspruch zwischen Sufi-Demut und den wirtschaftlichen Interessen seines Ordens.
Szene aus dem Film:
"Es gibt kein Zurück. Ich muss verkaufen und immer wieder verkaufen."
"Die Bruderschaften haben verschiedene Finanzquellen. Wenn etwa jemandem ein Fenster zu Bruch geht, wird dies nicht vom nächstbesten Glaser repariert. Nein, hier kommt der Glaser aus dem Orden zum Einsatz. Wie Sie sehen, ist dies ein geschlossenes Wirtschaftssystem."
Einige Bruderschaften unterhalten ihre eigenen Geldinstitute, weil sie Bankzinsen als unislamisch ablehnen, und ihre eigenen Reiseunternehmen:
"Nimm beispielsweise die Pilgerfahrten, das sind riesige Organisationsanstrengungen. Diese Art der Geschäfte bringen ihnen viel, viel Geld ein, zu vergleichen vielleicht mit einer Welttournee von Madonna."
Daneben, so Cakar, treten Bruderschaften als Medienunternehmen auf:
"Ich zum Beispiel habe für den Film 'Takva' 1,2 Millionen Euro ausgegeben. Die DVD hat sich rund 500.000 Mal verkauft. Aber jemand wie Cübbeli Ahmet Hoca stellt sich einfach vor eine Kamera, erzählt nur Unfug und seine DVD wird auch noch zum gleichen Preis verkauft wie mein Film. Doch dieser Mann verkauft etwa zehn Millionen DVDs!"
Meine nächste Station ist die Ismael Aga Moschee in Fatih. Im Schaufenster des Buchladens gegenüber liegen die DVDs von Cübbeli Ahmet Hoca, von dem der Drehbuchautor erzählt hatte. Frauen im schwarzen Ganzkörper-Hidschab huschen vorbei. Männer in Turban, Pluderhosen und langen Mänteln flanieren durch die Gassen wie Statisten für einen Historienfilm über das osmanische Reich. Hier ist der Naqschibendi-Orden zu Hause, zu dem Cübelli Ahmet gehört. Der Gründer Baha-ud-Din Naqschband lebte im 14. Jahrhundert in Buchara. Von dort breitete sich der Orden in der ganzen islamischen Welt aus. Im osmanischen Reich gelangten die verschiedenen Zweige des Ordens rasch zu Einfluss, der bis heute nachwirkt, trotz Atatürks Verbot. Allein drei Ministerpräsidenten wird eine Mitgliedschaft nachgesagt: Turgut Özal, Necmettin Erbakan und Recep Erdogan.
Vor der Moschee spricht mich ein junger Turbanträger in fließendem Deutsch an: Idris, ein türkischstämmiger Deutscher aus Freiburg. Gerade hat er sein Betriebswirtschaftsexamen bestanden. Jetzt verbringt er mit seiner Familie die Semesterferien in Istanbul. Nein, ein Interview will er mir nicht geben, aber in den nächsten Tagen werden sich mir mit seiner Hilfe manche Türen öffnen. Als Erstes führt er mich in die Koranschule des Ordens. In dem schmucklosen Betonbau wohnen Studenten aus der gesamten islamischen Welt von Bosnien bis Indonesien und lernen den strengen Islam der Naqschibendi. Ein Lehrer aus Pakistan erklärt dem Besucher aus Deutschland in gebrochenem Englisch die Grundzüge des Zikr, wie es von den Naqschibendis praktiziert wird:
"There is also zikr, this is the sufism. There is also something about sufisms they destroy the name of Sufism. A lot of people they also use the music, this is islamic music, this is sufi music. These things are haram."
Das "Zikr"-Ritual der Naqschibendi -Sufis geschehe in vollkommener Stille. Gesang oder Musik wie bei anderen Orden gelte als haram - verboten, sündig, erklärt der Lehrer. Leider bleibt keine Zeit für ein längeres Gespräch. Mein Freiburger Begleiter drängt zum Aufbruch. Unter keinen Umständen würde Idris eines der fünf vorgeschriebenen Gebete versäumen. Am Eingang zur Moschee werden wir von einem alten Mann angesprochen. "Der Friseur unseres Sheikhs", flüstert Idris. Mit Verschwörermiene fischt der Greis ein Plastikbeutelchen aus seiner Brusttasche: Barthaare des Meisters, die er wie einen Talisman bei sich trägt.
Ein paar Tage später treffe ich Scheich Mahmut persönlich. Idris hat eine Audienz vereinbart. Die Villa des Ordensführers weit draußen in einem Vorort auf der asiatischen Seite der Stadt erinnert mit den hohen Mauern, dem Stacheldraht und den Kameras an ein luxuriöses Hochsicherheitsgefängnis: Allein zwei Imame und zwei Mitglieder der Bruderschaft wurden in den letzten 15 Jahren ermordet. Bis heute ist nicht geklärt, ob sie Opfer eines internen Machtkampfs um die Nachfolge des Scheichs wurden. Im Warteraum bleiben wir nicht lange allein. Männer mit Turban kommen und gehen. Im Fernsehen laufen die Bilder der Überwachungskameras.
Als wir nach zwei Stunden endlich vorgelassen werden, treffe ich auf einen alten Mann im Rollstuhl, der kaum noch hören und sehen kann. Auf meine Frage nach einer Geschichte oder einem Gleichnis aus der Naqschibendi-Tradition krächzt Scheich Mahmut. "Diesmal nicht", wird mir die Antwort übersetzt. Ein Händedruck, ein Foto, dann ist die Audienz zu Ende. Idris ist glücklich. So nahe sei er seinem Scheich noch nie gewesen, gesteht er mir auf der Heimfahrt.
Mein nächster Interviewpartner ist gesprächiger. Die Nummer zwei der Ordens, der Bestseller-Autor Cübelli Ahmet Hoca, empfängt mich in seinem nagelneuen Verlagsgebäude. Cübelli Ahmet, Ahmet mit dem Mantel, wie er wegen seines grünen Umhangs genannt wird, ist eine der umstrittensten Figuren des konservativen Islams in der Türkei. Die Frage nach dem Einfluss seines Ordens beantwortet er selbstbewusst:
"Der Naqschibendi-Orden ist sehr präsent und auf diesem Wege erreicht er die Menschen. Wir unterhalten Fernsehsender, eigene Radiostationen, Zeitschriften, Heime sowie Korankurse und -schulen. Da vergleichbare Aktivitäten bei anderen Orden nicht existieren, kommt niemand, der sich mit dem Sufismus beschäftigt, an der Naqschibendi-Bruderschaft vorbei."
Auf dem Fernsehkanal der Bruderschaft und im Internet wettert Ahmet Hoca vor allem gegen die Feinde des wahren Islams: Das sind auf der einen Seite die arabischen Wahabiten und islamistische Terroristen und auf der anderen Seite: Juden, der Staat Israel, Freimaurer und Christen.
Predigtausschnitt: "Haltet Euch nicht Juden und Christen als Freunde, solange es diesen Koranvers gibt, erwartet von mir keinen jüdisch-christlichen Dialog, erwartet keine solche Freundschaft."
Vor 12 Jahren deutete Cübelli ein schweres Erdbeben 100 Kilometer östlich von Istanbul als gerechte Strafe Gottes für Wucherer, Prostituierte und Ehebrecher. Vom türkischen Staat wurde er daraufhin wegen Volksverhetzung verurteilt.
"Worauf es in unserem Orden ankommt, ist, sich der Verbindung mit Allah mit dem Herzen in der Stille zu vergegenwärtigen. Das kann man überall machen."
Auch im Gefängnis. Wenige Wochen nach unserem Gespräch wurde Ahmet Hoca verhaftet: Die Staatsanwaltschaft wirft dem Gottesmann Kontakte zur türkischen Mafia vor, Erpressung und Zuhälterei.
Auf der Suche nach den Sufis von Istanbul habe ich zwei Gemeinschaften gefunden, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die einen sind einem in sich gekehrten Islam verpflichtet, die anderen sehnen sich nach einer strengreligiösen Gesellschaft wie zu Zeiten des osmanischen Reichs. Beide, Naqschibendis und Halvetis, füllen eine Lücke, die viele Muslime in der Türkei erfahren.
"So viele Menschen sind enttäuscht von der offiziellen Religion und suchen irgendeine spirituelle Dimension."
Der französische Religionswissenschaftler Alexandre Toumarkine untersucht seit Jahren die türkische Alltagsreligion:
"Sagt der offizielle Islam irgendetwas über Körper? Gut, vielleicht darüber, wie man sich kleiden soll, aber das ist nicht ganz dasselbe. Oder sagt der orthodoxe Islam etwas über Gefühle? Nein - Aber der Sufismus hat etwas dazu zu sagen. Wenn man niedergeschlagen ist, wenn man Trost braucht, ratlos ist - die Scheichs der Sufis haben darauf eine therapeutische Antwort. Sie stehen für eine Art alternative Medizin."
Und ob die Sufis wollen oder nicht: Sie müssen sich auf dem Basar der Weltanschauungen behaupten.
"Auch in der Türkei ist Religion zum Markt geworden. Und die Sufi-Bruderschaften müssen auf diesem Markt irgendwie bestehen und verkaufen."
Zu bieten haben die Sufis Trost, Macht, Erkenntnis, Ekstase, Einheit mit Gott oder etwas ganz anderes. Der Halveti-Derwisch Ahmet formuliert es so:
"Im Sufismus gibt es viele Metaphern, in denen vom Reisen die Rede ist, aber dahintersteckt, dass man nirgendwo ankommen kann, außer bei sich selbst. Das letzte Ziel der Reise liegt in deinem eigenen Herzen."
Links bei dradio.de:
Jeden Samstag tanzen bis zum Umfallen - Sufis in Berlin
Dschihad und Mitmenschlichkeit
Kristiane Backer: "Der Islam als Weg des Herzens", Ullstein Berlin