Die Tätertröster
Vor dreißig Jahren prägte der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer den Begriff "Helfersyndrom". Ein solcher Helfer, so die These, kümmert sich um Menschen, denen es schlecht geht, damit es ihm selber gut geht. An einer Heilung seiner Zöglinge ist ihm nicht gelegen, sondern nur an seiner eigenen. Es handelt sich also beim Helfersyndrom um eine besondere Form der psychischen Störung.
Inzwischen gibt es eine weitere Kategorie von Helfern, der Begriff von Schmidbauer müsste also erweitert werden. Die neuen Helfer, nennen wir sie Tätertröster, kümmern sich nicht um Menschen, denen es schlecht geht, sondern um Menschen, die Schlechtes tun. Dabei behaupten die Tätertröster, diese Menschen würden nur deswegen Schlechtes tun, weil es ihnen schlecht geht. Wenn Verbrecher etwa Frauen vergewaltigen, Kinder missbrauchen oder Mitschüler quälen, dann haben sie, so die Tätertröster, gute Gründe: eine schwere Kindheit etwa, eine Wohnung in einem Problembezirk, eine Hartz-IV-Problematik oder einen Migrationshintergrund oder gleich alles auf einmal. Man muss ihnen also helfen, ohne Rücksicht auf Verluste.
Ein besonders prominenter Tätertröster ist die Berliner Justizsenatorin Karin Schubert. Kürzlich vergewaltigten in Berlin vier Jugendliche zwischen dreizehn und sechzehn Jahren eine Mitschülerin, zeichneten das Verbrechen mit der Handykamera auf und schickten den Film zur allgemeinen Gaudi an ihre Kumpels. Nach einer Strafanzeige wurden die Verdächtigen kurz festgenommen und dann gleich wieder freigelassen. Das schwer traumatisierte Mädchen, das Opfer, das seinen Peinigern nun schutzlos ausgeliefert ist, vergaßen die Richter, und auch, dass die stolzen Täter sich jetzt in ihrem Tun bestätigt fühlen können. Die ahnungslose Öffentlichkeit zeigte sich empört. Es hagelte Schlagzeilen und wütende Kommentare. Aber gnadenlos konterte die Justizsenatorin: eine Haftstrafe bei Jugendlichen sei selbst nach einer Verurteilung lediglich als ultima ratio angebracht, also eigentlich gar nicht. Statt dessen möchte Schubert, als echter Tätertröster, die Verbrecher lieber betreuen und bemuttern. Schulen, Jugendämter, Familien, Vormundschaftsrichter, alle sollen sie den armen kleinen Vergewaltigern, die von der bösen Gesellschaft so arg misshandelt worden sind, dass sie kriminell werden mussten, ermunternd unter die Ärmchen greifen.
Dieser Trend zum Händchenhalten mit Gewaltverbrechern hat zum einen damit zu tun, dass die Täter immer jünger werden, dass sich Kinder schon mit dreizehn wie Erwachsene benehmen, was sich eben auch in ihrem kriminellen Verhalten zeigt. Hier vergreift sich sowohl das Kindchenschema als auch das Gesetz an der Wirklichkeit. Auch ein gewalttätiges und damit gefährliches Kind bleibt vor dem Gesetz ein Kind. Hinzu kommt die weit verbreitete Einschätzung, man müsse Jugendliche vor einem allzu harten Zugriff des Gesetzes schützen. In dem genannten Fall folgt daraus eine perverse Verdrehung: geschützt werden sollen die vier jugendlichen Täter und nicht das jugendliche Opfer, gerade so, als wäre die Verhaftung und mögliche Bestrafung für die Vergewaltiger ungerecht und damit traumatischer als es die Gruppenvergewaltigung für das Opfer war. Die verantwortlichen Richter wissen offenbar nicht, dass unsere Rechtsordnung nicht primär dem Schutz der Verbrecher, sondern dem Schutz der Bevölkerung dient. Auch die Richter sind immer häufiger Tätertröster. Die Folgen sind Tätermitleid und Opferhass.
Dahinter steht ein gesellschaftspolitischer Wertewandel: Nicht der Täter ist schlecht, die Gesellschaft ist nunmehr schlecht. Der Täter ist nur das Symptom einer kranken Gesellschaft und darum das wahre Opfer. Seine Untat ist ein Hilferuf. Je mehr er um sich schlägt, auf andere einschlägt, andere auch totschlägt, um so mehr Tröstung verdient er. Seine Opfer sind zu vernachlässigen. Mehr noch: vielen gilt der Täter als Rebell, weil er ein - vermeintliches - Unrechtssystem entlarvt. Während er gegen die sozial ungerechte Gesellschaft kämpft, bleibt - in dieser Sicht - das Opfer ein windiger Konformist. Die Tätertröster unter den Richtern wollen nicht den Verbrecher verurteilen, sondern die Gesellschaft. Und damit solidarisieren sie sich mit dem Täter sowohl gegen das für sie belanglose Opfer als auch gegen die repressive Gesellschaft. Solche Richter verstehen sich offenbar als Tupamaros, als Befreier im epochalen Kampf gegen den Staat. Ob unser Rechtssystem damit in guten Händen liegt?
Sophie Dannenberg, geboren 1971 in Gießen, studierte Philosophie und Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaften in Bayreuth sowie Theaterwissenschaft in Berlin, wo sie auch lebt. 2004 veröffentlichte Sie den Roman "Das bleiche Herz der Revolution" über die Kinder der 68er.
Ein besonders prominenter Tätertröster ist die Berliner Justizsenatorin Karin Schubert. Kürzlich vergewaltigten in Berlin vier Jugendliche zwischen dreizehn und sechzehn Jahren eine Mitschülerin, zeichneten das Verbrechen mit der Handykamera auf und schickten den Film zur allgemeinen Gaudi an ihre Kumpels. Nach einer Strafanzeige wurden die Verdächtigen kurz festgenommen und dann gleich wieder freigelassen. Das schwer traumatisierte Mädchen, das Opfer, das seinen Peinigern nun schutzlos ausgeliefert ist, vergaßen die Richter, und auch, dass die stolzen Täter sich jetzt in ihrem Tun bestätigt fühlen können. Die ahnungslose Öffentlichkeit zeigte sich empört. Es hagelte Schlagzeilen und wütende Kommentare. Aber gnadenlos konterte die Justizsenatorin: eine Haftstrafe bei Jugendlichen sei selbst nach einer Verurteilung lediglich als ultima ratio angebracht, also eigentlich gar nicht. Statt dessen möchte Schubert, als echter Tätertröster, die Verbrecher lieber betreuen und bemuttern. Schulen, Jugendämter, Familien, Vormundschaftsrichter, alle sollen sie den armen kleinen Vergewaltigern, die von der bösen Gesellschaft so arg misshandelt worden sind, dass sie kriminell werden mussten, ermunternd unter die Ärmchen greifen.
Dieser Trend zum Händchenhalten mit Gewaltverbrechern hat zum einen damit zu tun, dass die Täter immer jünger werden, dass sich Kinder schon mit dreizehn wie Erwachsene benehmen, was sich eben auch in ihrem kriminellen Verhalten zeigt. Hier vergreift sich sowohl das Kindchenschema als auch das Gesetz an der Wirklichkeit. Auch ein gewalttätiges und damit gefährliches Kind bleibt vor dem Gesetz ein Kind. Hinzu kommt die weit verbreitete Einschätzung, man müsse Jugendliche vor einem allzu harten Zugriff des Gesetzes schützen. In dem genannten Fall folgt daraus eine perverse Verdrehung: geschützt werden sollen die vier jugendlichen Täter und nicht das jugendliche Opfer, gerade so, als wäre die Verhaftung und mögliche Bestrafung für die Vergewaltiger ungerecht und damit traumatischer als es die Gruppenvergewaltigung für das Opfer war. Die verantwortlichen Richter wissen offenbar nicht, dass unsere Rechtsordnung nicht primär dem Schutz der Verbrecher, sondern dem Schutz der Bevölkerung dient. Auch die Richter sind immer häufiger Tätertröster. Die Folgen sind Tätermitleid und Opferhass.
Dahinter steht ein gesellschaftspolitischer Wertewandel: Nicht der Täter ist schlecht, die Gesellschaft ist nunmehr schlecht. Der Täter ist nur das Symptom einer kranken Gesellschaft und darum das wahre Opfer. Seine Untat ist ein Hilferuf. Je mehr er um sich schlägt, auf andere einschlägt, andere auch totschlägt, um so mehr Tröstung verdient er. Seine Opfer sind zu vernachlässigen. Mehr noch: vielen gilt der Täter als Rebell, weil er ein - vermeintliches - Unrechtssystem entlarvt. Während er gegen die sozial ungerechte Gesellschaft kämpft, bleibt - in dieser Sicht - das Opfer ein windiger Konformist. Die Tätertröster unter den Richtern wollen nicht den Verbrecher verurteilen, sondern die Gesellschaft. Und damit solidarisieren sie sich mit dem Täter sowohl gegen das für sie belanglose Opfer als auch gegen die repressive Gesellschaft. Solche Richter verstehen sich offenbar als Tupamaros, als Befreier im epochalen Kampf gegen den Staat. Ob unser Rechtssystem damit in guten Händen liegt?
Sophie Dannenberg, geboren 1971 in Gießen, studierte Philosophie und Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaften in Bayreuth sowie Theaterwissenschaft in Berlin, wo sie auch lebt. 2004 veröffentlichte Sie den Roman "Das bleiche Herz der Revolution" über die Kinder der 68er.