Die Taliban als Machtfaktor
Die Taliban errichteten 1996 einen Gottesstaat, das "Islamische Emirat Afghanistan". Bis heute sehen sie sich als rechtmäßige Regierung Afghanistans. Nach ihrer Zerschlagung 2001 haben sie sich reorganisiert und wandeln sich allmählich zu einer national-islamischen Bewegung. Das Buch leistet einen profunden Beitrag zum Verständnis der Gotteskämpfer und ihrer vielfältigen politischen Einflussmöglichkeiten.
Vor zehn Jahren begannen die Luftangriffe westlicher "Coalition Forces" auf das Regime der Taliban in Afghanistan. Binnen kurzer Zeit war deren militärischer Widerstand gebrochen, das Land von den Koalitionstruppen besetzt. Für viele symbolisierte die Herrschaft der Taliban ein Revival des Mittelalters in der Gegenwart. Ihre Werte schienen im diametralen Gegensatz zu denen der westlichen Welt zu stehen, verlässliches Wissen über ihre Geschichte, ihre Strukturen und Motive jedoch gab es anfangs nicht. Und selbst heute, nach einem Jahrzehnt (militärischer) Auseinandersetzung, erfährt man im Westen wenig von der Komplexität des Phänomens, das mit dem Schlagwort "Taliban" nur unzureichend erfasst wird.
Dankenswert ist daher das Erscheinen eines Buches, dessen Inhalt auf eine Tagung zurückgeht, die im vergangenen Jahr in Bonn veranstaltet wurde. Islamwissenschaftler, Fachleute aus der Politik, Friedens-und Konfliktforscher kamen dort zusammen, um der Frage, "Wer sind die Taliban?" genauer nachzugehen. Herausgeber der unterschiedlichen Diskussionsbeiträge in Buchform sind Conrad Schetter, Entwicklungsforscher der Uni Bonn, und Jörgen Klußmann, Leiter der Evangelischen Akademie im Rheinland. Unter dem Titel "Der Taliban-Komplex" versammeln sie zehn Aufsätze. Unterteilt in drei Kapitel werden Geschichte und Identität der Taliban untersucht, ihre Rolle in ausgewählten Konfliktfeldern - beispielsweise beim Anbau und Handel mit Drogen - sowie der Verlauf und die Problematik des Militäreinsatzes gegen sie.
Die Taliban, in den 1980er-Jahren entstanden infolge kriegsbedingten Zerfalls der afghanischen Gesellschaft, errichteten 1996 einen Gottesstaat, das "Islamische Emirat Afghanistan". Bis heute sehen sie sich als rechtmäßige Regierung Afghanistans. Ihre Ideologie verbindet tribale und religiöse Vorstellungen und steht nicht selten im Widerspruch zu einer rein religiösen Auslegung der Scharia. Von der Bevölkerung wurden die Taliban nicht geliebt, doch nach Jahren des Bürgerkrieges als Garanten einer gewissen Ordnung angesehen. Nach ihrer Zerschlagung 2001 haben sie sich reorganisiert, mit Kämpfern, die keine einheitliche Bewegung bilden, doch seit 2005 zunehmend in der Lage sind, ihren Einfluss auf die Bevölkerung zu festigen und die ISAF-Truppen militärisch herauszufordern.
Das Buch leistet einen profunden Beitrag zum besseren Verständnis der Taliban und der Gemengelage von Problemen, in die sich Vertreter westlicher Organisationen – gleich ob NGOs, Militärs, Politiker oder Presse – in Afghanistan verstrickt sehen.
Deutlich wird: die Taliban sind Machtfaktor und eine Bewegung im Wandel. Es gibt junge Radikale in ihren Reihen, "Neo-Taliban", von Pakistan unterstützt; die Dominanz eines Stammes, der Paschtunen, in ihren Reihen lässt nach, sie wandeln sich hin zu einer national-islamistischen Bewegung. Von Al Kaida unterscheiden sich die Taliban durch ihren ausschließlich regionalen Kampf.
Der Ton der Aufsätze ist nüchtern. Es gibt gottlob keinen Versuch, eine wie immer geartete absolute Wahrheit zu vermitteln oder das Handeln der Konfliktparteien moralisch zu bewerten. Fakten werden aufgezählt, Informationen sind sachlich formuliert. Für das Wiedererstarken der Taliban wird die korrupte Regierungsführung der Karzai- Administration und "eine in beinahe allen Dimensionen fehlgeleitete Politik des Westens" verantwortlich gemacht. Und auch begründet.
Die perspektivische Beurteilung der Gesamtsituation ist vorsichtig – doch eindeutig: keiner der Autoren glaubt, dass eine afghanische Zivilgesellschaft ohne Unterstützung durch ausländische Militärs Bestand haben würde. Wolle man abziehen, seien Gespräche mit den Taliban unumgänglich. Das politische, ökonomische und soziale Beziehungsgeflecht, innerhalb dessen diese agieren, ist zu stabil, als dass man sie einfach herausoperieren könnte. Sie sind Teil der afghanischen Gesellschaft und "die einzige Alternative zur Regierung Karzai", resümiert einer der Autoren.
So stimmt die Lektüre des Bandes einigermaßen verzweifelt: nach einem Jahrzehnt Krieg mit Tausenden von Toten und finanziellen Verlusten, die für die westlichen Volkswirtschaften bedrohlich sind, gibt es offensichtlich kein befriedigendes Rezept, Demokratie und Frieden in Afghanistan zu gewährleisten.
Besprochen von Carsten Hueck
Conrad Schetter, Jörgen Klußmann (Hg.): Der Taliban-Komplex - Zwischen Aufstandsbewegung und Militäreinsatz
Campus Verlag, Frankfurt/New York 2011
266 Seiten, 29,90 Euro
Dankenswert ist daher das Erscheinen eines Buches, dessen Inhalt auf eine Tagung zurückgeht, die im vergangenen Jahr in Bonn veranstaltet wurde. Islamwissenschaftler, Fachleute aus der Politik, Friedens-und Konfliktforscher kamen dort zusammen, um der Frage, "Wer sind die Taliban?" genauer nachzugehen. Herausgeber der unterschiedlichen Diskussionsbeiträge in Buchform sind Conrad Schetter, Entwicklungsforscher der Uni Bonn, und Jörgen Klußmann, Leiter der Evangelischen Akademie im Rheinland. Unter dem Titel "Der Taliban-Komplex" versammeln sie zehn Aufsätze. Unterteilt in drei Kapitel werden Geschichte und Identität der Taliban untersucht, ihre Rolle in ausgewählten Konfliktfeldern - beispielsweise beim Anbau und Handel mit Drogen - sowie der Verlauf und die Problematik des Militäreinsatzes gegen sie.
Die Taliban, in den 1980er-Jahren entstanden infolge kriegsbedingten Zerfalls der afghanischen Gesellschaft, errichteten 1996 einen Gottesstaat, das "Islamische Emirat Afghanistan". Bis heute sehen sie sich als rechtmäßige Regierung Afghanistans. Ihre Ideologie verbindet tribale und religiöse Vorstellungen und steht nicht selten im Widerspruch zu einer rein religiösen Auslegung der Scharia. Von der Bevölkerung wurden die Taliban nicht geliebt, doch nach Jahren des Bürgerkrieges als Garanten einer gewissen Ordnung angesehen. Nach ihrer Zerschlagung 2001 haben sie sich reorganisiert, mit Kämpfern, die keine einheitliche Bewegung bilden, doch seit 2005 zunehmend in der Lage sind, ihren Einfluss auf die Bevölkerung zu festigen und die ISAF-Truppen militärisch herauszufordern.
Das Buch leistet einen profunden Beitrag zum besseren Verständnis der Taliban und der Gemengelage von Problemen, in die sich Vertreter westlicher Organisationen – gleich ob NGOs, Militärs, Politiker oder Presse – in Afghanistan verstrickt sehen.
Deutlich wird: die Taliban sind Machtfaktor und eine Bewegung im Wandel. Es gibt junge Radikale in ihren Reihen, "Neo-Taliban", von Pakistan unterstützt; die Dominanz eines Stammes, der Paschtunen, in ihren Reihen lässt nach, sie wandeln sich hin zu einer national-islamistischen Bewegung. Von Al Kaida unterscheiden sich die Taliban durch ihren ausschließlich regionalen Kampf.
Der Ton der Aufsätze ist nüchtern. Es gibt gottlob keinen Versuch, eine wie immer geartete absolute Wahrheit zu vermitteln oder das Handeln der Konfliktparteien moralisch zu bewerten. Fakten werden aufgezählt, Informationen sind sachlich formuliert. Für das Wiedererstarken der Taliban wird die korrupte Regierungsführung der Karzai- Administration und "eine in beinahe allen Dimensionen fehlgeleitete Politik des Westens" verantwortlich gemacht. Und auch begründet.
Die perspektivische Beurteilung der Gesamtsituation ist vorsichtig – doch eindeutig: keiner der Autoren glaubt, dass eine afghanische Zivilgesellschaft ohne Unterstützung durch ausländische Militärs Bestand haben würde. Wolle man abziehen, seien Gespräche mit den Taliban unumgänglich. Das politische, ökonomische und soziale Beziehungsgeflecht, innerhalb dessen diese agieren, ist zu stabil, als dass man sie einfach herausoperieren könnte. Sie sind Teil der afghanischen Gesellschaft und "die einzige Alternative zur Regierung Karzai", resümiert einer der Autoren.
So stimmt die Lektüre des Bandes einigermaßen verzweifelt: nach einem Jahrzehnt Krieg mit Tausenden von Toten und finanziellen Verlusten, die für die westlichen Volkswirtschaften bedrohlich sind, gibt es offensichtlich kein befriedigendes Rezept, Demokratie und Frieden in Afghanistan zu gewährleisten.
Besprochen von Carsten Hueck
Conrad Schetter, Jörgen Klußmann (Hg.): Der Taliban-Komplex - Zwischen Aufstandsbewegung und Militäreinsatz
Campus Verlag, Frankfurt/New York 2011
266 Seiten, 29,90 Euro