Die Tödliche Doris und das Westberlin der 80er-Jahre
Vorwärts in die Vergangenheit: Der Berliner Künstler Wolfgang Müller streift durch das Westberlin vor dem Mauerfall. Ein wahre Fundgrube für alle Postpunks, die in Erinnerungen schwelgen wollen - und eine Hommage an die von Müller gegründete Künstlergruppe "Die Tödliche Doris".
An den freien Willen glaubt der Künstler Wolfgang Müller nicht. Kaum war er Ende der Siebziger nach Westberlin gekommen, um Bildende Kunst zu studieren, "begann sich 1980 überraschend Die Tödliche Doris in mein Leben einzumischen. Sie zwang mich, Entscheidungen zu treffen, die in der Folge zu Verwirrung und Missverständnissen führten. Die Tödliche Doris instrumentalisierte mich."
So schreibt Müller es in der Einleitung seines Buches "Subkultur. Westberlin 1979 - 1989". Und dieses Buch selbst ist gleichfalls nur entstanden, weil Müllers 1987 aufgelöste Band und Künstlergruppe "Die Tödliche Doris" plötzlich erneut auftauchte und "mich zwang, durch längst vergangene Zeiten, Räume und Orte zu streifen."
Das ist eine feine Sache. Müller erzählt mal stringent, mal assoziativ, durchaus auch in die Gegenwart ausgreifend und bisweilen ein wenig chaotisch, wie es in diesem legendären Jahrzehnt im Schatten der Mauer zugegangen ist, was für herrliche Blüten die Westberliner Subkultur in Kreuzberg und Schöneberg so trieb. Das reicht von der Eröffnung der Bar Kumpelnest 3000 in der Lützowstraße, durch den späteren Hard-Wax-Plattenladen-Betreiber Mark Ernestus, bis zu jener des Frontkinos in der Waldemar- und später Mansteinstraße, aus dem später die Kneipe Ex´n’ Pop werden sollte.
Müller erzählt von Festivals wie dem Atonal und dem der "Genialen Dillettanten" oder von der Gründung der Einstürzenden Neubauten, von Martin Kippenbergers Treiben im SO 36, vom Risiko und der alternativen Lesbenkneipe Blocksberg, von Ratten-Jenny, dem Merve Verlag und und und.
Dabei stellt er, wie er einmal formuliert und wie das der Subkultur durchaus angemessen ist, "Unbedeutendes neben Bedeutendes, Bekanntes neben Unbekanntes". Sein Buch liefert so schöne, lustige und tiefe Einblicke in eine Szene, deren Protagonisten mitunter heute noch in der Pop- und Clubkultur sowie dem Kunstbetrieb tätig sind und mit denen Müller Gespräche geführt hat.
Leider stellt Müller aber auch, und das macht sein Buch zu einem eher zweifelhaften Vergnügen, wenn nicht gar zu einem Ärgernis, allzu oft das Treiben der "Tödlichen Doris" in den Mittelpunkt des subkulturellen Geschehens. Die Entwicklung der Band, ihr theoretischer Überbau, ihre Veröffentlichungen, ihre Körperpolitik, ihr Spiel mit Zeit und Raum – manchmal entsteht der Eindruck, als sei "Die Tödliche Doris" das wichtigste Kraftzentrum gewesen, von dem aus die Westberliner Subkultur erst ihre Energien entfaltete. Darum muss man "Subkultur" wohl auch als Tödliche-Doris-Biografie lesen, als den Versuch Müllers, der in dem Buch von sich nur in der dritten Person spricht, seine Band in ihr kunsthistorisches Recht zu setzen.
Und wer sich seinerzeit über Müllers bei Merve erschienenes Manifest über die Genialen Dillettanten – Ja, mit Doppel-L! – lustig machte, wie der taz-Autor Helmut Höge, mit dem rechnet Müller noch einmal vehement ab und beschuldigt diesen des Borderline-Journalismus und des Ideen-Klaus: "Helmut Höges Grenzverwischungen führen manchmal zu grotesken Resultaten."
All das macht dieses Buch trotz einiger Vorzüge zu einer manchmal quälenden Lektüre; auch das durchgängig von Müller gewählte historische Präsens holpert an vielen Stellen. Um den Geist der 70er und 80er Jahre, des Punk und Postpunks auf die Spur zu kommen, eignen sich Jürgen Teipels "Verschwende Deine Jugend" und Sven von Thülens und Felix Denks "Der Klang der Familie" doch besser. "Subkultur" hat Anlagen für einen Reader dieser Art – doch leider kommen Wolfgang Müller immer wieder sein Doppelgänger und vor allem die Tödliche Doris in die Quere.
Besprochen von Gerrit Bartels
Wolfgang Müller: Subkultur. Westberlin 1979 - 1989
Philo Fine Arts, Berlin 2013
600 Seiten, 24,00 Euro
Wolfgang Müller im Gespräch mit dradio.de:
"Vom Sozialhilfeempfänger bis zum wirklichen Superstar" - Wolfgang Müller über die Westberliner Subkultur der 80er-Jahre
So schreibt Müller es in der Einleitung seines Buches "Subkultur. Westberlin 1979 - 1989". Und dieses Buch selbst ist gleichfalls nur entstanden, weil Müllers 1987 aufgelöste Band und Künstlergruppe "Die Tödliche Doris" plötzlich erneut auftauchte und "mich zwang, durch längst vergangene Zeiten, Räume und Orte zu streifen."
Das ist eine feine Sache. Müller erzählt mal stringent, mal assoziativ, durchaus auch in die Gegenwart ausgreifend und bisweilen ein wenig chaotisch, wie es in diesem legendären Jahrzehnt im Schatten der Mauer zugegangen ist, was für herrliche Blüten die Westberliner Subkultur in Kreuzberg und Schöneberg so trieb. Das reicht von der Eröffnung der Bar Kumpelnest 3000 in der Lützowstraße, durch den späteren Hard-Wax-Plattenladen-Betreiber Mark Ernestus, bis zu jener des Frontkinos in der Waldemar- und später Mansteinstraße, aus dem später die Kneipe Ex´n’ Pop werden sollte.
Müller erzählt von Festivals wie dem Atonal und dem der "Genialen Dillettanten" oder von der Gründung der Einstürzenden Neubauten, von Martin Kippenbergers Treiben im SO 36, vom Risiko und der alternativen Lesbenkneipe Blocksberg, von Ratten-Jenny, dem Merve Verlag und und und.
Dabei stellt er, wie er einmal formuliert und wie das der Subkultur durchaus angemessen ist, "Unbedeutendes neben Bedeutendes, Bekanntes neben Unbekanntes". Sein Buch liefert so schöne, lustige und tiefe Einblicke in eine Szene, deren Protagonisten mitunter heute noch in der Pop- und Clubkultur sowie dem Kunstbetrieb tätig sind und mit denen Müller Gespräche geführt hat.
Leider stellt Müller aber auch, und das macht sein Buch zu einem eher zweifelhaften Vergnügen, wenn nicht gar zu einem Ärgernis, allzu oft das Treiben der "Tödlichen Doris" in den Mittelpunkt des subkulturellen Geschehens. Die Entwicklung der Band, ihr theoretischer Überbau, ihre Veröffentlichungen, ihre Körperpolitik, ihr Spiel mit Zeit und Raum – manchmal entsteht der Eindruck, als sei "Die Tödliche Doris" das wichtigste Kraftzentrum gewesen, von dem aus die Westberliner Subkultur erst ihre Energien entfaltete. Darum muss man "Subkultur" wohl auch als Tödliche-Doris-Biografie lesen, als den Versuch Müllers, der in dem Buch von sich nur in der dritten Person spricht, seine Band in ihr kunsthistorisches Recht zu setzen.
Und wer sich seinerzeit über Müllers bei Merve erschienenes Manifest über die Genialen Dillettanten – Ja, mit Doppel-L! – lustig machte, wie der taz-Autor Helmut Höge, mit dem rechnet Müller noch einmal vehement ab und beschuldigt diesen des Borderline-Journalismus und des Ideen-Klaus: "Helmut Höges Grenzverwischungen führen manchmal zu grotesken Resultaten."
All das macht dieses Buch trotz einiger Vorzüge zu einer manchmal quälenden Lektüre; auch das durchgängig von Müller gewählte historische Präsens holpert an vielen Stellen. Um den Geist der 70er und 80er Jahre, des Punk und Postpunks auf die Spur zu kommen, eignen sich Jürgen Teipels "Verschwende Deine Jugend" und Sven von Thülens und Felix Denks "Der Klang der Familie" doch besser. "Subkultur" hat Anlagen für einen Reader dieser Art – doch leider kommen Wolfgang Müller immer wieder sein Doppelgänger und vor allem die Tödliche Doris in die Quere.
Besprochen von Gerrit Bartels
Wolfgang Müller: Subkultur. Westberlin 1979 - 1989
Philo Fine Arts, Berlin 2013
600 Seiten, 24,00 Euro
Wolfgang Müller im Gespräch mit dradio.de:
"Vom Sozialhilfeempfänger bis zum wirklichen Superstar" - Wolfgang Müller über die Westberliner Subkultur der 80er-Jahre