"Die Türkei befindet sich in einer Identitätskrise"

Moderation: Joachim Scholl |
Die Türkei ist emotional geteilt, findet der Sänger Zülfü Livaneli: "Da ist einmal die sehr moderne Welt, dann die sehr religiöse Welt, und dann kommt noch die kurdische Welt hinzu". Er hofft deshalb, dass die Türkei durch einen EU-Beitritt "Teil der europäischen Gesellschaft" wird.
Joachim Scholl: Über 300 Lieder hat er komponiert, die Schallplatten sind kaum zu zählen, die er aufgenommen hat. Aber auch Romane und Filme gehören zum großen Werkregister von Zülfü Livaneli. 65 Jahre ist der Künstler alt mittlerweile, der in seiner Heimat Türkei denselben Rang einnimmt wie Mikis Theodorakis in Griechenland, und wie dieser war Zülfü Livaneli immer auch ein politischer Künstler, der wegen seiner Überzeugung verfolgt, verhaftet, inhaftiert wurde. Jetzt gibt es die Autobiografie von Zülfü Livaneli auf Deutsch, und er ist bei uns im Studio. Willkommen, Zülfü Livaneli, welcome, Mr. Livaneli!

Zülfü Livaneli: Thank you very much, thank you!

Scholl: Kunst und Politik, Herr Livaneli, sind bei Ihnen untrennbar verknüpft in Ihrem ganzen Leben, in Ihrer Musik wie in Ihrer Literatur und in Ihren Filmen. Wenn Sie jetzt zurückblicken auf über 40 Jahre Engagement, glauben Sie, dass Ihre Kunst, Ihre Musik, Ihr Engagement etwas verändert hat in Ihrem Land, auch in der Politik?

Livaneli: Also, das kann ich jetzt natürlich nicht sagen, ich bin ja nun auch nichts weiter als eine Person, als ein Mensch. Und da kann man natürlich das Schicksal eines Landes nicht ändern. Allerdings denke ich doch, dass ich einiges habe bewirken können, kleine Dinge konnte ich verändern. Allerdings kann ich schon sagen, dass meine Lieder, in denen ich von Freiheit singe, in denen ich auch von Menschenrechten singe, dass Generationen mit meinen Liedern aufgewachsen sind, und ich habe auch, als ich im Parlament saß, mich sehr gegen den Artikel 301 ausgesprochen, der ein schrecklicher Artikel war, und außerdem habe ich eben auch versucht, etwas gegen Ehrenmorde zu bewirken.

Scholl: Als Künstler, Herr Livaneli, sind Sie weltberühmt und hoch geehrt, werden von Präsidenten und Staatschefs empfangen, im vergangenen Jahr waren Sie beim deutschen Bundespräsidenten Wulff eingeladen, als dieser in der Türkei war. Was haben Sie ihm gesagt?

Livaneli: Nun, wir hatten ein nettes Abendessen in Istanbul und ich redete mit ihm über die Funktion von türkischen Intellektuellen in Deutschland und wie man da eventuell helfen kann. Alles Fragen, die Multikulti betreffen, auch wenn Multikulti so ein bisschen ausgestorben oder tot ist. Aber es ging auch um den Kulturkampf, nicht nur zwischen Deutschland und der Türkei, sondern auch innerhalb der türkischen Gesellschaft.

Scholl: Im Vorwort Ihres Buches erinnern Sie an die vielen Toten, Ermordeten, die Menschen, die für ihre politischen Überzeugungen in der Türkei gestorben sind, zuletzt der Journalist Hrant Dink, auch er war ein Freund von Ihnen, Orhan Pamuk, der Literaturnobelpreisträger wird regelmäßig geschmäht in der Öffentlichkeit und bedroht. Sie auch, Herr Livaneli?

Livaneli: Sicherlich werde auch ich bedroht, das ist leider Teil eines normalen intellektuellen Lebens in der Türkei, und fast jeder, der sich engagiert, fast jeder, der eine Meinung hat, wird bedroht. Und ein italienischer Journalist hat kürzlich ein Buch über Journalisten geschrieben, und in dem Kapitel über die Türkei hat er eben auch erwähnt, wie viele Intellektuelle von der Polizei geschützt werden. Nun kann man sich fragen, ob das immer ein Schutz ist und was das für ein Schutz ist, aber sicherlich ist es manchmal auch wirklich so, dass die Polizisten einen dann auch schützen.

Scholl: 2002 gingen Sie selbst in die Politik, Herr Livaneli, saßen fünf Jahre im türkischen Parlament. Darüber schreiben Sie in Ihrer Autobiografie jetzt nur wenige Zeilen. Warum eigentlich, hat sich das Schreiben darüber nicht gelohnt?

Livaneli: Nun, da konnte man nichts wirklich Wichtiges machen, es war letztendlich eine Zeitverschwendung. Es war eine sehr unproduktive Zeit, es war regelrecht langweilig. Als ich in Ankara im Gefängnis saß, war ich letztendlich sehr, sehr viel produktiver, und das war gar nicht so weit von diesem Parlament entfernt, in dem man nicht sehr viel machen konnte. Das liegt an dem politischen System, das liegt an der Parteienpolitik, die einfach dafür sorgt, dass man nichts Nützliches tun kann.

Scholl: Sie sind seit 1996 UNESCO-Botschafter, aber als Sie 2009 für den Posten des UNESCO-Generaldirektors nominiert waren, hat das türkische Außenministerium das verhindert. Sie sagten jetzt selbst, Sie haben nicht viel bewirkt in Ihrer Zeit als Parlamentarier, aber man scheint ja dennoch Respekt oder vielleicht sogar Angst vor Ihnen zu haben, oder?

Livaneli: Nun, es war eigentlich so, dass Präsident Gül dieses Angebot von dem State Department aus den USA bekommen hatte und es eigentlich auch als ein sehr schönes Angebot empfand, und er war auch relativ stolz darauf. Allerdings hatte sich die türkische Regierung schon darauf geeinigt, den ehemaligen ägyptischen Kulturminister Faruk Hosni zu unterstützen, der UNESCO-Generalsekretär werden sollte, der allerdings gesagt hatte, er würde jedes israelische Buch in einer Bibliothek persönlich verbrennen, sollte es da Exemplare geben. Und so ein Mensch ist natürlich nicht tragbar für solch einen Posten. Aber es ist jetzt die Bulgarin geworden, Irina Bokova, und ich finde, sie ist letztendlich auch sehr viel besser geeignet, als ich es gewesen wäre. Insofern bin ich sehr froh, dass sie diesen wichtigen Posten ausfüllt.

Scholl: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem türkischen Künstler Zülfü Livaneli. An einer Stelle Ihres Buches, Herr Livaneli, als Sie zum dritten Mal verhaftet wurden, in den 1980er-Jahren, liest man diesen Stoßseufzer: "Aus diesem Land wird doch nie was!"
Denken Sie heute auch noch so über Ihre Heimat, die Türkei?

Livaneli: Nun, ich muss leider sagen, dass mein Land sich in einer Art ewigem Zwielicht befindet. Ich habe auch kürzlich für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" einen Artikel geschrieben, wo ich meinen Artikel so genannt habe: "Das ewige Zwielichtland". Es ist einfach so, dass wir im Gegensatz zu Ländern wie Portugal, zu Spanien oder auch zu Griechenland, die sehr, sehr dunkle, dann aber auch wieder sehr viel lichte politische Perioden hatten, immer irgendwie nur so dazwischen waren.

Und bei uns ist es so, dass die Pressefreiheit zum Beispiel immer noch bedroht ist, man ist sich nie sicher, wenn man Journalist ist. Und das hat aber auch mit unserer geopolitischen Lage zu tun, seit Jahrhunderten – wenn man das Osmanische Reich noch mit hinzuzählt – haben wir zwischen dem Balkan, zwischen dem Kaukasus, zwischen dem Osten und dem Westen eine Lage eben eingenommen, die eine politische Stabilität in unserem Land eigentlich unmöglich machen lässt.

Es war so, dass wir im Kalten Krieg als Nachbarland von Russland sozusagen eine Mission hatten, wir hatten eine Aufgabe. Heute besteht unsere Aufgabe darin, dass wir ein Bollwerk gegen den Nahen Osten sein sollen, darin besteht heute unsere Mission. Also wir haben immer von ausländischen Mächten eine Aufgabe aufoktroyiert bekommen.

Scholl: Mit Macht drängt die Türkei nun nach Europa, sie will Mitglied der Europäischen Union werden. Unterstützen Sie diesen Prozess, Herr Livaneli?

Livaneli: Oh sicherlich, und ich glaube, es handelt sich hier um die längste Verlobung aller Zeiten. Schon seit 60 Jahren hält diese Verlobung an und ist noch nicht zu einer Heirat gekommen, aber ich glaube, es ist die einzige Lösung für die Türkei, Teil der europäischen Gesellschaft erst einmal zu werden und dann auch Teil der EU zu werden. Und wir brauchen diesen Mentalitätswechsel, ein Großteil, Millionen von Türken hat schon diese europäische Zivilisation und ihre Werte mit angenommen, und ich denke, das ist unsere einzige Chance und das ist auch unsere einzige Hoffnung!

Scholl: Sie haben einmal – das ist schon bald 15 Jahre her – in einem Zeitungsartikel geschrieben: Identitätskrisen sind mein großes Thema. Wozu gehört man, zur islamischen Welt oder zur mediterranen Zivilisation? Ja, Herr Livaneli, was würden Sie heuten auf diese Frage antworten, wozu gehören Sie?

Livaneli: Also ich persönlich fühle mich der europäischen Kultur zugehörig, mit anatolischen Wurzeln, und ich sehe darin eigentlich auch keinen Widerspruch. Aber die Türkei selbst befindet sich in einer Identitätskrise. Da ist einmal die säkulare Welt, die sehr, sehr moderne Welt, dann die sehr religiöse Welt, und dann kommt noch die kurdische Welt hinzu. Und das sind drei Pole, die sich manchmal fast hassen. Und diese emotionale Teilung, das größte Problem der Türkei ist diese Identitätskrise.

Scholl: Ruhm und Glück sind wie Feuer und Schnee, der Schnee muss sich sehr vor dem Feuer hüten, heißt es am Schluss Ihrer Autobiografie. Ist es Ihnen gelungen, den Schnee des Glücks vom Feuer des Ruhms fernzuhalten?

Livaneli: Also ich glaube, ja. Weil es ist gefährlich, eine öffentliche Person zu sein, nicht nur in der Türkei, überall auf der Welt. Und das kann deine Identität bedrohen, deine Familie, deine Liebe, aber auch deine Intimität. Und bei mir ist es eigentlich so, dass ich mir dessen eben nicht so bewusst bin, ich fühle das nicht so.

Wenn ich auf einer Bühne stehe und danach vielleicht auch meine Bücher signiere und dann wieder von der Bühne herunterkomme, dann werde ich wieder ein ganz normaler Mensch. Also dieses Berühmtsein, das empfinde ich gar nicht so, und ich glaube, das hat mich auch letztendlich immer sehr lebendig gehalten.

Weil mir sind andere Dinge viel wichtiger wie meine Kreativität und mein Schreiben, mein Denken, Songs schreiben, Komponieren, all diese Dinge. Weil wenn man sich von seinem Ruhm zu sehr beeinflussen lässt, wird das wirklich viel zu gefährlich, ich habe Leute gesehen, die sind von ihrem eigenen Ruhm ruiniert worden.

Und im vorigen Sommer gab ich zusammen mit Bono von U2 ein Konzert vor 80.000 Zuschauern und die Leute sangen all meine Lieder mit, und Bono sagte zu mir, ja wie machst du das, du siehst so aus, als würdest du gerade in deinem eigenen Schlafzimmer sitzen! Aber so bin ich, ich brauche keine Show und ich bin wirklich kein Star.

Scholl: Zülfü Livaneli, "Roman meines Lebens. Ein Europäer vom Bosporus", so heißt die Autobiografie von Zülfü Livaneli, sie ist jetzt auf Deutsch erschienen im Verlag Klett-Cotta und kostet 22,95 Euro. Herr Livaneli, wir danken Ihnen für Ihren Besuch, alles Gute weiterhin für Sie und Ihre Kunst!

Livaneli: Danke schön, ich danke auch!