Warum viele Türken Erdogan unterstützen
Die Mehrheit der Türken steht weiter hinter ihrem Staatspräsidenten. Das Problem sei nicht Erdogan selbst, sondern die türkische Gesellschaft, die nie gelernt habe, dass Demokratie mehr ist als die Macht der Wahlgewinner über die Wahlverlierer. Da nütze auch alles Erdogan-Bashing nichts, kommentiert Luise Sammann.
Erdogan, der Diktator. Erdogan, der Islamist. Erdogan, der Schreckliche: Selten haben Deutschland und Europa so sehr über den türkischen Präsidenten geschimpft, wie in diesen Tagen. Zurecht, wenn man die ständig wachsende Zahl von Entlassungen, Suspendierungen und vor allem Verhaftungen am Bosporus verfolgt.
Doch bei all der Fassungslosigkeit über die Vorgänge in der Türkei wird eines häufig übersehen: Die Empörung in Deutschland ist dieser Tage viel größer als die in der Türkei selbst. Eine Umfrage zeigt: 96 Prozent der Türken stehen hinter den von Präsident Erdogan als "Säuberungen" bezeichneten Maßnahmen. Und auch, wenn solche Erhebungen dieser Tage sicherlich mit Vorsicht zu genießen sind, erst recht, wenn sie wie in diesem Fall in der regierungsnahen Zeitung "Sabah" abgedruckt werden, zeigt allein schon die Zurückhaltung der sonst so lauten Opposition im türkischen Parlament: Die Türken – ausgenommen einer kleinen intellektuellen Elite – fürchten die undurchschaubare Gülen-Bewegung zur Zeit mehr als den zwar nicht überall beliebten, aber doch immerhin gewählten Erdogan.
Erdogan ist nicht das alleinige Problem
All das zeigt: Das Problem der Türkei ist nicht allein ein Präsident, der tut was er will. Es ist auch eine Gesellschaft, die ihn tun lässt, was er will. Auch in Frankreich herrscht seit Monaten der Ausnahmezustand. Auch dort könnte der Präsident seine Befugnisse sehr viel weiter ausdehnen. Dass es nicht passiert, ist nicht allein ein Zeichen für die Gutmütigkeit des Herrn Hollande, sondern auch für das Demokratie- und Rechtsverständnis der französischen Gesellschaft.
Doch in einer Gesellschaft wie der türkischen, die seit Jahren immer nur gelernt hat, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden, zwischen religiös oder säkular, Türke oder Kurde, Erdogan-Anhänger oder Erdogan-Gegner, wirkt der augenblickliche Ruf nach der Todesstrafe für Putschisten wenn nicht verständlich, dann zumindest erklärbar. Die Mehrheit der Türken hat nie gelernt, zu verzeihen, genauso wie sie nie gelernt hat, dass Demokratie mehr ist als die Macht der Wahlgewinner über die Wahlverlierer.
Erdogan-Bashing hilft nicht
Das in Deutschland fast schon zur Mode gewordene Erdogan-Bashing wird der türkischen Bevölkerung deswegen langfristig nicht helfen. Kurzfristig stärkt es den Präsidenten sogar weiter, der sich einmal mehr als Opfer antitürkischer und antiislamischer Verschwörungen darstellen kann. Natürlich müssen Deutschland und Europa klar gegen undemokratische Entwicklungen Position beziehen.
Mindestens genauso wichtig aber ist es, der türkischen Gesellschaft dabei zu helfen, demokratischer zu werden und dabei vor allem auch zu verstehen, welche Vorteile und Reize eine echte Demokratie ihnen bieten könnte. Mit EU-Beitrittsverhandlungen, die auch in besseren Zeiten nie mehr als ein Spiel waren, gelingt das nicht. Mit einer Politik, bei der angeblich europäische Werte augenblicklich über Bord geworfen werden, um Millionen von Flüchtlingen fernzuhalten, erst recht nicht.
Das lauthalse Schweigen
Wenn die Türken in den vergangenen Monaten eine Botschaft aus Europa verinnerlicht haben, dann die, dass Demokratie und Menschenrechte eben doch verhandelbar sind. Vor allem die türkischen Intellektuellen fühlen sich von einem Europa im Stich gelassen, das lauthals schwieg, als – lange vor dem Putschversuch – Journalisten verhaftet und Kritiker angeklagt wurden.
Solange das aber so bleibt, solange die türkische Gesellschaft nicht wirklich und wahrhaftig und vor allem in der Mehrheit demokratisch denkt, wird Erdogan weiter tun, was er will. Und wenn er es nicht täte, dann vielleicht ein anderer.