"Die Tunesier sind enttäuscht"
Nur noch wenige Touristen trauen sich nach Tunesien, wo vor einigen Monaten Diktator Ben Ali von seinem Volk gestürzt wurde. Das Lager um den Ex-Präsdienten nutze die schwache wirtschaftliche Lage nun, um "das Land weiter zu destabilisieren", befürchtet ARD-Korrespondent Alexander Göbel.
Klaus Pokatzky: Noch im letzten Jahr sind um die vier Millionen Europäer nach Tunesien gereist und haben die riesigen Hotelburgen an den Stränden bevölkert. Dass ein Diktator damals das Land regiert hat, hat sie nicht bekümmert, im Gegenteil: Sie waren zufrieden mit Sauberkeit und Sicherheit. In diesem Sommer hingegen, wenige Monate, nachdem der sogenannte arabische Frühling in Tunesien seinen Anfang genommen hatte, kommen nur noch wenige hunderttausend Touristen in das Land der alten Phönizier. Dabei ist Tunesien dringend auf die Einnahmen durch den Tourismus angewiesen. 400.000 der zehn Millionen Einwohner sind in Hotels und Restaurants, in Autovermietungen oder Souvenirläden beschäftigt. Alexander Göbel ist ARD-Korrespondent im marokkanischen Rabat. Guten Tag, Herr Göbel!
Alexander Göbel: Schönen guten Tag, Herr Pokatzky!
Pokatzky: Herr Göbel, wie enttäuscht sind denn die Tunesier über die untreuen Europäer in ihrer Rolle als Touristen?
Göbel: Die Tunesier sind schon enttäuscht. Es gibt auf jeden Fall Kritik, allerdings wird die nicht laut geäußert. Wenn, dann hinter vorgehaltener Hand, denn niemand will die paar Touristen noch vergraulen, die sich jetzt aufmachen nach Tunesien. Man wünscht sich da schon mehr Solidarität; wenn man mit den Menschen spricht, hört man, dass man mehr Anerkennung gerne hätte dafür, dass dieses Land ja wirklich etwas ganz außergewöhnliches geschafft hat, nämlich Diktator Ben Ali loszuwerden nach mehr als 23 Jahren Diktatur – das ist schon etwas ganz, ganz besonderes, und es ist vergleichsweise – wenn man mal nach Libyen schaut oder eben auch nach Ägypten – vergleichweise friedlich abgelaufen. Leider scheint das bei den Touristen nicht zu verhaften und man bekommt nicht die sogenannte Dividende dafür, dass man sich seines Diktators entledigt hat. Im Gegenteil: Die Touristen bleiben jetzt eben weg.
Pokatzky: Aber die Touristen – die wenigen, die jetzt kommen – bekommen ja sicherlich eine großartige Dividende, weil sie – ich schätze mal – fürstlich behandelt werden, wenn es so wenige sind, von denen, die sich jetzt um sie sorgen. Wie ist denn jetzt aber die akute, aktuelle Sicherheitslage für die? Müssen Touristen befürchten, dass es "nicht mehr so sicher ist" wie früher, in den diktatorischen Zeiten?
Göbel: Der Innenminister hat ja angekündigt, gerade erst, dass die Sicherheitsvorkehrungen in den Touristenhochburgen noch einmal verschärft werden, dass noch mehr Polizisten – die nimmt man ja auch gar nicht wahr, das ist ja oft in zivil – dass die noch mal verstärkt werden, also zum Beispiel in Hammamet oder auf Djerba, auf der Ferieninsel, die auch bei den Deutschen sehr beliebt ist. Die Urlauber bleiben trotzdem weg, weil die politische Lage eben nach der Jasminrevolution so unübersichtlich ist. Das liegt auch daran, dass die Presse oft sehr nervös ist – im Land selber auch –, das dringt natürlich dann an die Reiseveranstalter weiter.
Es kommt natürlich immer wieder zu Streiks, Demos, Ausschreitungen. Das beschränkt sich da meistens auf die Hauptstadt Tunis. Da gibt es Kräfte, wahrscheinlich auch aus dem Lager von Ex-Präsident Ben Ali, die diese Situation jetzt nutzen, das Land weiter zu destabilisieren, das sich ja gerade wieder auf einigermaßen demokratische Füße stellen will, eine Wahl in Aussicht hat, im Oktober – aber diese Menschen streuen zum Beispiel Gerüchte, dass eine algerische Touristin in Sousse entführt worden sei. Da ist nichts dran, aber auch wirklich gar nichts! Und trotzdem verhaftet so etwas natürlich schnell bei Reiseveranstaltern, bei Urlaubern. Die Verunsicherung war ja bisher schon groß, es haben ja schon in einer ersten Welle für die Osterzeit sozusagen schon sehr viele Menschen ihre Reisen storniert. Damals gab es ja auch noch Reisewarnungen, auch vom Auswärtigen Amt zum Beispiel, und jetzt ist die Verunsicherung noch größer, auch aus Unwissen vielleicht über die Region. Und das ganze scheint sich noch mal zu steigern.
Pokatzky: Wie weit destabilisiert denn so etwas – also, diese touristische Abstinenz – dann jetzt den Versuch, die Demokratie in diesem Land aufzubauen? Im Oktober sollen ja Wahlen stattfinden. Macht das im Grunde nicht auch die Projekte der demokratischen Kräfte kaputt? Denn noch mal: Es ist ja ein enormer Wirtschaftsfaktor, der Tourismus!
Göbel: Ja, das ist richtig. Das Tourismusministerium von Tunesien hat neue Zahlen gerade herausgegeben, danach sind in diesem Jahr bereits mehr als 3.000 Menschen im Hotelgewerbe entlassen worden, und das sind ausdrückliche Langzeitmitarbeiter, also, keine kurzfristigen Saisonkräfte. Das ist sehr, sehr dramatisch, wenn man bedenkt, wie viele Familien da dranhängen, und Sie haben es gesagt, dass der Tourismussektor bisher über 400.000 Menschen beschäftigt hat. Der Tourismus sorgt für sieben Prozent des Bruttoinlandsproduktes von Tunesien. Und gerade in diesen unruhigen Zeiten wären da Gewinne dringend nötig – stattdessen eben massive Verluste. Die Märkte brechen da ein, und wenn es der Wirtschaft nicht gut geht, dann werden die Menschen unruhig und dann fragt man sich: Wo ist die schon angesprochene Dividende für diese Revolution? Haben wir am Ende des Tages mehr zu essen als zur Ben-Ali-Zeit? Und da muss man momentan sagen: Nein, leider nicht! Deswegen wird die Unruhe immer größer, und auch die Chance, dieses zarte Pflänzchen, wenn man das mal so ausdrücken will, weiter zu destabilisieren.
Pokatzky: Alexander Göbel, ARD-Korrespondent im marokkanischen Rabat zu Tunesien als Urlaubsziel – zu dem Land, in dem der arabische Frühling begann. Herr Göbel, junge Tunesier verlassen ja zunehmend noch das Land, weil sie da keine Arbeit finden. Was tut denn jetzt diese Übergangsregierung bis zu den ersten Wahlen im Oktober, um ihnen überhaupt eine Perspektive zu geben? Beobachten Sie da Entwicklungen, die Hoffnung machen für die Zukunft?
Göbel: Die Übergangsregierung ist eigentlich, muss man sagen, tragischerweise mit sich selbst beschäftigt. Es gibt sehr, sehr viel Unklarheit darüber, wie das mit den Wahlen überhaupt aussehen soll, welche Rolle die Islamisten zum Beispiel im Land spielen werden, da gibt es sehr, sehr viele Demonstrationen – eigentlich jedes Wochenende in Tunis –, die da zu beobachten sind. Es ist eigentlich eine völlig unklare Situation, ob bis zum 23. Oktober, das ist ja der bisher anvisierte Wahltermin, ob sich da für die Jugendlichen im Land wirklich etwas ändern wird. Das sind die Mühen der Ebene sozusagen, auf denen Tunesien sich momentan befindet. Insofern wird sich die Lage da höchstens weiter verschlechtern, als verbessern. Und deswegen muss man schauen, ob die Tunesier auch mit dieser schlechten Wirtschaftslage die Geduld aufbringen und auch die Ruhe aufbringen, wirklich bis zum 23. Oktober durchzuhalten. Und selbst dann – das hat ja auch der Übergangsstaatspräsident gesagt, Essebsi, dass die Wahlen nur ein Tor sind, durch das man durchgehen muss. Dann geht für Tunesien die Arbeit erst richtig los.
Pokatzky: Aber der in Frankreich geborene neue Tourismusminister Mehdi Houas, der ist ja doch recht aktiv, ausländische Reisekorrespondenten werden eingeladen vom Tourismusbüro. Und er betont dann immer, dass Tunesien ja doch auch kulturelle Pfründe haben, mit denen bisher offenbar überhaupt gar nicht ausreichend gewuchert wurde. Er hat gesagt: Ägypten besitzt nur vier historische Stellen, die von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt wurden, Tunesien dagegen sieben. Aber wie ist es denn zum Beispiel mit den Ruinen von Karthago oder den anderen potentiellen Kultursehenswürdigkeiten, wie sind die instand?
Göbel: Die sind auf jeden Fall gut zu besichtigen – das sieht eigentlich auch aus wie beim Zuckerbäcker, das ist alles perfekt geweißt, es gibt sehr gute Infrastruktur für Touristen dort. Es gibt Touristenbusse, die Taxis – es funktioniert irgendwie alles. Und das liegt eben daran, dass die Tunesier eben mit ihrem neuen, doch ziemlich emsigen Tourismusminister, der ja auch auf der ITB in Berlin, soweit ich weiß, vertreten war, dafür sorgen will, dass diese Austauschbarkeit ein Ende hat von Tunesien als Urlaubsdestination – dass man nicht mehr nur für Billigstrand steht, für Sommer und Sonne. Und die Tunesier wollen irgendwie aus diesem banalen rausholen.
Das ist seiner Meinung nach – und ich kann das eigentlich auch sehr gut nachvollziehen – die einzige Chance, wirklich sich jetzt in dieser Krisenphase für die Zukunft aufzustellen und eben nicht mehr austauschbar zu sein, dass die Leute da zum Beispiel sagen: Ich geh nach Gran Canaria, oder ich gehe nach Griechenland, in die Türkei, oder eben auch nach Marokko, wenn es denn hier stabil ist. Dafür braucht man allerdings Sicherheit! Man braucht Geld, man braucht Investoren, und man braucht Touristen. Und die bleiben weg, die sind gerade sehr zögerlich, da können die Ruinen von Karthago noch so spannend sein!
Pokatzky: Aber ist das nicht auch merkwürdig – ich will Sie jetzt nicht unbedingt in die Rolle des Überpsychologen drängen –, aber es ist doch ganz eigenartig irgendwie, wenn wir uns vorstellen, der frühere Herrscher Ben Ali, der hatte gut 150.000 Polizisten – eine reine Prügeltruppe, wie wir bei den Aktionen gegen die Demonstrationen gesehen habe. Und da, als der noch an der Macht war mit diesen 150.000, da sind die Touristen hingefahren. Und jetzt, wo sie im Grunde nichts zu befürchten haben, da kommen sie nicht mehr. Was würden Sie dem tunesischen Tourismusminister raten?
Göbel: Ganz, ganz schwierig. Der Tourismus ist ja das schwächste Glied eigentlich in einer Kette, und abhängig von vielen, vielen Dingen, die einfach zusammenpassen müssen. Wir haben schon einiges angesprochen: Die politische Stabilität muss da sein, die Wirtschaft muss insgesamt wieder ans Laufen kommen. Viele Dinge bedingen sich eben untereinander selbst. Und da ist es unheimlich schwierig für einen Tourismusminister auch in seiner eigenen Regierung – wo er ja gar nicht weiß, ob er auch in der zukünftigen Regierung sitzen wird –, dort klar zu machen, welche Weichen gerade gestellt werden müssen.
Ich finde, dass diese Weichen, die er gerade versucht zu stellen, eigentlich ganz gut sind, dass man versucht, wirklich auf eine, wie soll man sagen, eine Nicht-Austauschbarkeit von Tunesien hinzuarbeiten. Aber mehr kann er eigentlich nicht tun, weil er auch nicht die Mittel dafür hat, aber der Optimismus, der sollte ihm auf jeden Fall erhalten bleiben, das wäre schon mal ein erster, sehr, sehr wichtiger Schritt in dieser sehr, sehr spannenden Phase, in der Tunesien sich gerade befindet.
Pokatzky: Und dieses Konzept, einerseits vorrangig auf Kultur zu setzen, auf die tunesischen historischen Kulturschätze, andererseits aber ja auch so auf "Eventkultur" – er möchte ja zum Beispiel mit Hilfe von Facebook Jugendliche zu sommerlichen Chill-out-Partys mit DJs an die Küste locken – wie schätzen Sie da mittelfristig betrachtet die Chancen ein? Wie kann das in drei Jahren aussehen, vielleicht?
Göbel: Also, wenn er mit den Jugendlichen zusammenarbeitet, zum Beispiel mit den Bewegungen, die sich über Facebook schon organisiert haben zur Zeit der Diktatur, und die ja auch mit für das berühmte Degáge gesorgt haben, für das Hau ab dieser alten Machthaber, dann könnte er wirklich eine Chance haben. Denn es gibt eine gut ausgebildete, sehr, sehr motivierte, sehr revolutionstrunkene Schicht immer noch von jungen Leuten – gerade in der Hauptstadt, in Tunis –, wenn er mit denen zusammenarbeiten könnte, wenn es da eine Art Brücke geben könnte, dann wäre das wirklich eine sehr, sehr spannende Sache. Zum Beispiel auch diese Revolutionstouren anzubieten für Touristen durch die Innenstadt von Tunis, dass man zum Beispiel schaut, wie sieht es im Ministerium aus? Dass man schaut, wie sieht es auf der Avenue Bourguibar aus, direkt vor diesem vor langer Zeit ja gefürchteten Betonklotz in Tunesien, dem Innenministerium - da kommen einem dann die Bilder wieder ins Gedächtnis. Dass man die Revolution zum Beispiel nutzt, um die Revolution auch am Laufen zu halten, dass man diese Touren nutzt, um den Menschen zu zeigen: Das ist das, worauf wir stolz sein können, das ist das neue Tunesien, und vielleicht auch ein bisschen eine Art Klebstoff zu schaffen in dieser Gesellschaft, um auch den Tourismus stärker kulturell in diesem Land zu verankern.
Pokatzky: Sagt Alexander Göbel, ARD-Korrespondent in Nordafrika. Vielen Dank für diese Auskünfte zum Touristenland Tunesien und zur Touristenpsychologie, da wo der arabische Frühling begann!
Die Äußerungen unserer Gesprächspartner geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Alexander Göbel: Schönen guten Tag, Herr Pokatzky!
Pokatzky: Herr Göbel, wie enttäuscht sind denn die Tunesier über die untreuen Europäer in ihrer Rolle als Touristen?
Göbel: Die Tunesier sind schon enttäuscht. Es gibt auf jeden Fall Kritik, allerdings wird die nicht laut geäußert. Wenn, dann hinter vorgehaltener Hand, denn niemand will die paar Touristen noch vergraulen, die sich jetzt aufmachen nach Tunesien. Man wünscht sich da schon mehr Solidarität; wenn man mit den Menschen spricht, hört man, dass man mehr Anerkennung gerne hätte dafür, dass dieses Land ja wirklich etwas ganz außergewöhnliches geschafft hat, nämlich Diktator Ben Ali loszuwerden nach mehr als 23 Jahren Diktatur – das ist schon etwas ganz, ganz besonderes, und es ist vergleichsweise – wenn man mal nach Libyen schaut oder eben auch nach Ägypten – vergleichweise friedlich abgelaufen. Leider scheint das bei den Touristen nicht zu verhaften und man bekommt nicht die sogenannte Dividende dafür, dass man sich seines Diktators entledigt hat. Im Gegenteil: Die Touristen bleiben jetzt eben weg.
Pokatzky: Aber die Touristen – die wenigen, die jetzt kommen – bekommen ja sicherlich eine großartige Dividende, weil sie – ich schätze mal – fürstlich behandelt werden, wenn es so wenige sind, von denen, die sich jetzt um sie sorgen. Wie ist denn jetzt aber die akute, aktuelle Sicherheitslage für die? Müssen Touristen befürchten, dass es "nicht mehr so sicher ist" wie früher, in den diktatorischen Zeiten?
Göbel: Der Innenminister hat ja angekündigt, gerade erst, dass die Sicherheitsvorkehrungen in den Touristenhochburgen noch einmal verschärft werden, dass noch mehr Polizisten – die nimmt man ja auch gar nicht wahr, das ist ja oft in zivil – dass die noch mal verstärkt werden, also zum Beispiel in Hammamet oder auf Djerba, auf der Ferieninsel, die auch bei den Deutschen sehr beliebt ist. Die Urlauber bleiben trotzdem weg, weil die politische Lage eben nach der Jasminrevolution so unübersichtlich ist. Das liegt auch daran, dass die Presse oft sehr nervös ist – im Land selber auch –, das dringt natürlich dann an die Reiseveranstalter weiter.
Es kommt natürlich immer wieder zu Streiks, Demos, Ausschreitungen. Das beschränkt sich da meistens auf die Hauptstadt Tunis. Da gibt es Kräfte, wahrscheinlich auch aus dem Lager von Ex-Präsident Ben Ali, die diese Situation jetzt nutzen, das Land weiter zu destabilisieren, das sich ja gerade wieder auf einigermaßen demokratische Füße stellen will, eine Wahl in Aussicht hat, im Oktober – aber diese Menschen streuen zum Beispiel Gerüchte, dass eine algerische Touristin in Sousse entführt worden sei. Da ist nichts dran, aber auch wirklich gar nichts! Und trotzdem verhaftet so etwas natürlich schnell bei Reiseveranstaltern, bei Urlaubern. Die Verunsicherung war ja bisher schon groß, es haben ja schon in einer ersten Welle für die Osterzeit sozusagen schon sehr viele Menschen ihre Reisen storniert. Damals gab es ja auch noch Reisewarnungen, auch vom Auswärtigen Amt zum Beispiel, und jetzt ist die Verunsicherung noch größer, auch aus Unwissen vielleicht über die Region. Und das ganze scheint sich noch mal zu steigern.
Pokatzky: Wie weit destabilisiert denn so etwas – also, diese touristische Abstinenz – dann jetzt den Versuch, die Demokratie in diesem Land aufzubauen? Im Oktober sollen ja Wahlen stattfinden. Macht das im Grunde nicht auch die Projekte der demokratischen Kräfte kaputt? Denn noch mal: Es ist ja ein enormer Wirtschaftsfaktor, der Tourismus!
Göbel: Ja, das ist richtig. Das Tourismusministerium von Tunesien hat neue Zahlen gerade herausgegeben, danach sind in diesem Jahr bereits mehr als 3.000 Menschen im Hotelgewerbe entlassen worden, und das sind ausdrückliche Langzeitmitarbeiter, also, keine kurzfristigen Saisonkräfte. Das ist sehr, sehr dramatisch, wenn man bedenkt, wie viele Familien da dranhängen, und Sie haben es gesagt, dass der Tourismussektor bisher über 400.000 Menschen beschäftigt hat. Der Tourismus sorgt für sieben Prozent des Bruttoinlandsproduktes von Tunesien. Und gerade in diesen unruhigen Zeiten wären da Gewinne dringend nötig – stattdessen eben massive Verluste. Die Märkte brechen da ein, und wenn es der Wirtschaft nicht gut geht, dann werden die Menschen unruhig und dann fragt man sich: Wo ist die schon angesprochene Dividende für diese Revolution? Haben wir am Ende des Tages mehr zu essen als zur Ben-Ali-Zeit? Und da muss man momentan sagen: Nein, leider nicht! Deswegen wird die Unruhe immer größer, und auch die Chance, dieses zarte Pflänzchen, wenn man das mal so ausdrücken will, weiter zu destabilisieren.
Pokatzky: Alexander Göbel, ARD-Korrespondent im marokkanischen Rabat zu Tunesien als Urlaubsziel – zu dem Land, in dem der arabische Frühling begann. Herr Göbel, junge Tunesier verlassen ja zunehmend noch das Land, weil sie da keine Arbeit finden. Was tut denn jetzt diese Übergangsregierung bis zu den ersten Wahlen im Oktober, um ihnen überhaupt eine Perspektive zu geben? Beobachten Sie da Entwicklungen, die Hoffnung machen für die Zukunft?
Göbel: Die Übergangsregierung ist eigentlich, muss man sagen, tragischerweise mit sich selbst beschäftigt. Es gibt sehr, sehr viel Unklarheit darüber, wie das mit den Wahlen überhaupt aussehen soll, welche Rolle die Islamisten zum Beispiel im Land spielen werden, da gibt es sehr, sehr viele Demonstrationen – eigentlich jedes Wochenende in Tunis –, die da zu beobachten sind. Es ist eigentlich eine völlig unklare Situation, ob bis zum 23. Oktober, das ist ja der bisher anvisierte Wahltermin, ob sich da für die Jugendlichen im Land wirklich etwas ändern wird. Das sind die Mühen der Ebene sozusagen, auf denen Tunesien sich momentan befindet. Insofern wird sich die Lage da höchstens weiter verschlechtern, als verbessern. Und deswegen muss man schauen, ob die Tunesier auch mit dieser schlechten Wirtschaftslage die Geduld aufbringen und auch die Ruhe aufbringen, wirklich bis zum 23. Oktober durchzuhalten. Und selbst dann – das hat ja auch der Übergangsstaatspräsident gesagt, Essebsi, dass die Wahlen nur ein Tor sind, durch das man durchgehen muss. Dann geht für Tunesien die Arbeit erst richtig los.
Pokatzky: Aber der in Frankreich geborene neue Tourismusminister Mehdi Houas, der ist ja doch recht aktiv, ausländische Reisekorrespondenten werden eingeladen vom Tourismusbüro. Und er betont dann immer, dass Tunesien ja doch auch kulturelle Pfründe haben, mit denen bisher offenbar überhaupt gar nicht ausreichend gewuchert wurde. Er hat gesagt: Ägypten besitzt nur vier historische Stellen, die von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt wurden, Tunesien dagegen sieben. Aber wie ist es denn zum Beispiel mit den Ruinen von Karthago oder den anderen potentiellen Kultursehenswürdigkeiten, wie sind die instand?
Göbel: Die sind auf jeden Fall gut zu besichtigen – das sieht eigentlich auch aus wie beim Zuckerbäcker, das ist alles perfekt geweißt, es gibt sehr gute Infrastruktur für Touristen dort. Es gibt Touristenbusse, die Taxis – es funktioniert irgendwie alles. Und das liegt eben daran, dass die Tunesier eben mit ihrem neuen, doch ziemlich emsigen Tourismusminister, der ja auch auf der ITB in Berlin, soweit ich weiß, vertreten war, dafür sorgen will, dass diese Austauschbarkeit ein Ende hat von Tunesien als Urlaubsdestination – dass man nicht mehr nur für Billigstrand steht, für Sommer und Sonne. Und die Tunesier wollen irgendwie aus diesem banalen rausholen.
Das ist seiner Meinung nach – und ich kann das eigentlich auch sehr gut nachvollziehen – die einzige Chance, wirklich sich jetzt in dieser Krisenphase für die Zukunft aufzustellen und eben nicht mehr austauschbar zu sein, dass die Leute da zum Beispiel sagen: Ich geh nach Gran Canaria, oder ich gehe nach Griechenland, in die Türkei, oder eben auch nach Marokko, wenn es denn hier stabil ist. Dafür braucht man allerdings Sicherheit! Man braucht Geld, man braucht Investoren, und man braucht Touristen. Und die bleiben weg, die sind gerade sehr zögerlich, da können die Ruinen von Karthago noch so spannend sein!
Pokatzky: Aber ist das nicht auch merkwürdig – ich will Sie jetzt nicht unbedingt in die Rolle des Überpsychologen drängen –, aber es ist doch ganz eigenartig irgendwie, wenn wir uns vorstellen, der frühere Herrscher Ben Ali, der hatte gut 150.000 Polizisten – eine reine Prügeltruppe, wie wir bei den Aktionen gegen die Demonstrationen gesehen habe. Und da, als der noch an der Macht war mit diesen 150.000, da sind die Touristen hingefahren. Und jetzt, wo sie im Grunde nichts zu befürchten haben, da kommen sie nicht mehr. Was würden Sie dem tunesischen Tourismusminister raten?
Göbel: Ganz, ganz schwierig. Der Tourismus ist ja das schwächste Glied eigentlich in einer Kette, und abhängig von vielen, vielen Dingen, die einfach zusammenpassen müssen. Wir haben schon einiges angesprochen: Die politische Stabilität muss da sein, die Wirtschaft muss insgesamt wieder ans Laufen kommen. Viele Dinge bedingen sich eben untereinander selbst. Und da ist es unheimlich schwierig für einen Tourismusminister auch in seiner eigenen Regierung – wo er ja gar nicht weiß, ob er auch in der zukünftigen Regierung sitzen wird –, dort klar zu machen, welche Weichen gerade gestellt werden müssen.
Ich finde, dass diese Weichen, die er gerade versucht zu stellen, eigentlich ganz gut sind, dass man versucht, wirklich auf eine, wie soll man sagen, eine Nicht-Austauschbarkeit von Tunesien hinzuarbeiten. Aber mehr kann er eigentlich nicht tun, weil er auch nicht die Mittel dafür hat, aber der Optimismus, der sollte ihm auf jeden Fall erhalten bleiben, das wäre schon mal ein erster, sehr, sehr wichtiger Schritt in dieser sehr, sehr spannenden Phase, in der Tunesien sich gerade befindet.
Pokatzky: Und dieses Konzept, einerseits vorrangig auf Kultur zu setzen, auf die tunesischen historischen Kulturschätze, andererseits aber ja auch so auf "Eventkultur" – er möchte ja zum Beispiel mit Hilfe von Facebook Jugendliche zu sommerlichen Chill-out-Partys mit DJs an die Küste locken – wie schätzen Sie da mittelfristig betrachtet die Chancen ein? Wie kann das in drei Jahren aussehen, vielleicht?
Göbel: Also, wenn er mit den Jugendlichen zusammenarbeitet, zum Beispiel mit den Bewegungen, die sich über Facebook schon organisiert haben zur Zeit der Diktatur, und die ja auch mit für das berühmte Degáge gesorgt haben, für das Hau ab dieser alten Machthaber, dann könnte er wirklich eine Chance haben. Denn es gibt eine gut ausgebildete, sehr, sehr motivierte, sehr revolutionstrunkene Schicht immer noch von jungen Leuten – gerade in der Hauptstadt, in Tunis –, wenn er mit denen zusammenarbeiten könnte, wenn es da eine Art Brücke geben könnte, dann wäre das wirklich eine sehr, sehr spannende Sache. Zum Beispiel auch diese Revolutionstouren anzubieten für Touristen durch die Innenstadt von Tunis, dass man zum Beispiel schaut, wie sieht es im Ministerium aus? Dass man schaut, wie sieht es auf der Avenue Bourguibar aus, direkt vor diesem vor langer Zeit ja gefürchteten Betonklotz in Tunesien, dem Innenministerium - da kommen einem dann die Bilder wieder ins Gedächtnis. Dass man die Revolution zum Beispiel nutzt, um die Revolution auch am Laufen zu halten, dass man diese Touren nutzt, um den Menschen zu zeigen: Das ist das, worauf wir stolz sein können, das ist das neue Tunesien, und vielleicht auch ein bisschen eine Art Klebstoff zu schaffen in dieser Gesellschaft, um auch den Tourismus stärker kulturell in diesem Land zu verankern.
Pokatzky: Sagt Alexander Göbel, ARD-Korrespondent in Nordafrika. Vielen Dank für diese Auskünfte zum Touristenland Tunesien und zur Touristenpsychologie, da wo der arabische Frühling begann!
Die Äußerungen unserer Gesprächspartner geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.