Die Überreste der Lager
Nach dem Ende der Sowjetunion gab es zwar Veröffentlichen über den Gulag. Aber von den nachfolgenden Generationen wurde zum stalinistischen Terror nur spärlich publiziert. Nun erschien Sergej Lebedews Roman: eine Geschichtsaufarbeitung dieser Zeit und in Russland sehr erfolgreich.
"Wir besitzen kein Porträt, kein Gesicht der Täter, der GULAG- Kommandanten, der Offiziere und Wächter. Im öffentlichen Bewusstsein blieben sie gesichtslos. Wir wissen viel mehr über die deutschen Verbrechen und die in Nürnberg verurteilten Täter. Aber bei uns verschwanden sie einfach, als die Tore des GULAG geschlossen wurden. Sie versteckten sich unter Masken, wir besaßen keine Möglichkeit, sie unter uns ausfindig zu machen? Mein Roman ist nun der Versuch, diesen ein Gesicht zu geben, es ist ein gesichtsloses Gesicht." Sergej Lebedew, 11.April 2013
Sergei Lebedew ist zum ersten Mal in Berlin und in Deutschland überhaupt. Dabei verbindet ihn mit Deutschland mehr, als er selbst lange wusste:
"Eines unserer Familiengeheimnisse waren unsere deutschen Vorfahren. Unsere Familiengräber liegen auf dem deutschen Friedhof in Moskau und ich fragte deswegen als Kind meine Großmutter immer wieder: Warum eigentlich? Ach, das sei nur ein Zufall, antwortete sie. Aber als die Sowjetunion zusammenbrach, öffnete sie unser Familienstammbuch, das bis 1832 zurückreicht. Und so fand ich jetzt endlich meine deutschen Verwandten nach 100 Jahre des Schweigens."
Einer von Sergei Lebedews Vorfahren ist der homöopathische Arzt Julius Schweikert, der eben 1832 nach Russland auswanderte. Lebedew plant daher für seinen zweiten Roman die Geschichte einer deutsch-russischen Begegnung. Die dunklen Familiengeheimnisse beschäftigten ihn bereits in seinem ersten Buch, das in Russland ein Bestseller wurde. "Begraben in der Erinnerungslosigkeit" lautet der Originaltitel übersetzt.
"Vor sechs, sieben Jahren zog ich in die Wohnung meiner Großmutter. Sie war zweimal verheiratet. In einer alten Keksdose bewahrte sie die Orden meines Großvaters auf. Das war mein Bild von der Vergangenheit. Mein Großvater als tapferer Soldat. Aber dann fand ich in der Wohnung Dokumente und erkannte, dass das in Wirklichkeit die Orden ihres zweiten Mannes waren, die er als Oberst der Geheimdienste NKWD und GPU erhalten hatte - die beiden wichtigsten 1937."
1937 war der Höhepunkt des stalinistischen Terrors, dem allein in wenigen Monaten eineinhalb Millionen Menschen zum Opfer fielen. Die eine Hälfte wurde erschossen, die andere wurde in die Lager des GULAG verschleppt. Für Sergei Lebedew war diese Entdeckung ein Schock.
"Ich fragte meine Eltern und sie sagten mir, dass sie dies zwar gewusst hätten aber lieber darüber schweigen wollten. Plötzlich begreift man, dass die eigene Kindheit auf einer Lüge aufbaute. Und dass vielleicht meine geologischen Expeditionen deswegen gar nicht zufällig waren. Und ich darum ein Buch schreiben musste. Viele meiner Leser sagten mir danach: Ach jetzt versteh ich endlich, wer mein Großvater, seine Freunde und all diese anderen waren."
Sergei Lebedew möchte unbedingt in Deutschland erfahren, wie hier die Enkelgeneration mit ihrer Bürde der Vergangenheit umgeht.
Seine Expeditionen als Geologe - denn dies ist sein erster Beruf, bevor er zuerst Journalist und dann Autor wurde - brachten ihn vor gut zehn Jahren zum ersten Mal in Kontakt mit den Überresten der sowjetischen Straflager im hohen Norden der Tundra, die oft mehr als 100 Kilometer jenseits der regulären Straßen liegen. Sergei Lebedew sah sie daher vom Hubschrauber aus und es erfasste ihn ein Grauen.
"Als erstes sah ich diese Baracken. In meinem Innersten erkannte ich sofort, dass das die Überreste eines Straflagers sein mussten. Denn das ist diese typische Architektur, bei der viele Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht werden müssen. Meine zweite Empfindung war ein Grauen - ein Grauen darüber, wie schnell dies alles verschwunden und vergessen sein wird, denn die gewaltige Natur des Nordens zermalmt alles unter sich, ob Holz oder Stein. Wenn in 15, 20 Jahren mein Sohn kommen sollte, wird er schon gar nichts mehr vorfinden können."
Sein Sohn wird in diesem Mai zur Welt kommen. Lebedew ist erst Anfang dreißig, doch da seine beiden Eltern noch zur Kriegsgeneration gehören, fühlt er sich stärker als seine Altersgenossen mit der sowjetischen Vergangenheit verbunden. Die Schreckensjahre des Krieges hatten seine Eltern in eine Art Schockstarre fallen lassen, bei der sie jegliche Art von Veränderung fürchteten. Sie waren beide auch Geologen. Ihren Beruf gaben sie an Sergei weiter.
"Die Geologie lehrt einen, keine Angst vor der Einsamkeit zu haben und ebenso wenig die endlos langen Wege zu fürchten. Denn wenn man ein Buch beginnt, ist der erste Gedanke: das schaffe ich nie, niemals. Aber die Geologie hat einen gelehrt, dass alles auf der Welt ganz, ganz langsam geschieht."
Und, so lässt sich hinzufügen, auch unaufhaltsam. Mit Autoren wie Sergei Lebedew wird die Erinnerung an den stalinistischen Terror zwangsläufig wieder zurückkehren. Und die wird auch ein Wladimir Putin nicht verhindern können.
Sergei Lebedew ist zum ersten Mal in Berlin und in Deutschland überhaupt. Dabei verbindet ihn mit Deutschland mehr, als er selbst lange wusste:
"Eines unserer Familiengeheimnisse waren unsere deutschen Vorfahren. Unsere Familiengräber liegen auf dem deutschen Friedhof in Moskau und ich fragte deswegen als Kind meine Großmutter immer wieder: Warum eigentlich? Ach, das sei nur ein Zufall, antwortete sie. Aber als die Sowjetunion zusammenbrach, öffnete sie unser Familienstammbuch, das bis 1832 zurückreicht. Und so fand ich jetzt endlich meine deutschen Verwandten nach 100 Jahre des Schweigens."
Einer von Sergei Lebedews Vorfahren ist der homöopathische Arzt Julius Schweikert, der eben 1832 nach Russland auswanderte. Lebedew plant daher für seinen zweiten Roman die Geschichte einer deutsch-russischen Begegnung. Die dunklen Familiengeheimnisse beschäftigten ihn bereits in seinem ersten Buch, das in Russland ein Bestseller wurde. "Begraben in der Erinnerungslosigkeit" lautet der Originaltitel übersetzt.
"Vor sechs, sieben Jahren zog ich in die Wohnung meiner Großmutter. Sie war zweimal verheiratet. In einer alten Keksdose bewahrte sie die Orden meines Großvaters auf. Das war mein Bild von der Vergangenheit. Mein Großvater als tapferer Soldat. Aber dann fand ich in der Wohnung Dokumente und erkannte, dass das in Wirklichkeit die Orden ihres zweiten Mannes waren, die er als Oberst der Geheimdienste NKWD und GPU erhalten hatte - die beiden wichtigsten 1937."
1937 war der Höhepunkt des stalinistischen Terrors, dem allein in wenigen Monaten eineinhalb Millionen Menschen zum Opfer fielen. Die eine Hälfte wurde erschossen, die andere wurde in die Lager des GULAG verschleppt. Für Sergei Lebedew war diese Entdeckung ein Schock.
"Ich fragte meine Eltern und sie sagten mir, dass sie dies zwar gewusst hätten aber lieber darüber schweigen wollten. Plötzlich begreift man, dass die eigene Kindheit auf einer Lüge aufbaute. Und dass vielleicht meine geologischen Expeditionen deswegen gar nicht zufällig waren. Und ich darum ein Buch schreiben musste. Viele meiner Leser sagten mir danach: Ach jetzt versteh ich endlich, wer mein Großvater, seine Freunde und all diese anderen waren."
Sergei Lebedew möchte unbedingt in Deutschland erfahren, wie hier die Enkelgeneration mit ihrer Bürde der Vergangenheit umgeht.
Seine Expeditionen als Geologe - denn dies ist sein erster Beruf, bevor er zuerst Journalist und dann Autor wurde - brachten ihn vor gut zehn Jahren zum ersten Mal in Kontakt mit den Überresten der sowjetischen Straflager im hohen Norden der Tundra, die oft mehr als 100 Kilometer jenseits der regulären Straßen liegen. Sergei Lebedew sah sie daher vom Hubschrauber aus und es erfasste ihn ein Grauen.
"Als erstes sah ich diese Baracken. In meinem Innersten erkannte ich sofort, dass das die Überreste eines Straflagers sein mussten. Denn das ist diese typische Architektur, bei der viele Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht werden müssen. Meine zweite Empfindung war ein Grauen - ein Grauen darüber, wie schnell dies alles verschwunden und vergessen sein wird, denn die gewaltige Natur des Nordens zermalmt alles unter sich, ob Holz oder Stein. Wenn in 15, 20 Jahren mein Sohn kommen sollte, wird er schon gar nichts mehr vorfinden können."
Sein Sohn wird in diesem Mai zur Welt kommen. Lebedew ist erst Anfang dreißig, doch da seine beiden Eltern noch zur Kriegsgeneration gehören, fühlt er sich stärker als seine Altersgenossen mit der sowjetischen Vergangenheit verbunden. Die Schreckensjahre des Krieges hatten seine Eltern in eine Art Schockstarre fallen lassen, bei der sie jegliche Art von Veränderung fürchteten. Sie waren beide auch Geologen. Ihren Beruf gaben sie an Sergei weiter.
"Die Geologie lehrt einen, keine Angst vor der Einsamkeit zu haben und ebenso wenig die endlos langen Wege zu fürchten. Denn wenn man ein Buch beginnt, ist der erste Gedanke: das schaffe ich nie, niemals. Aber die Geologie hat einen gelehrt, dass alles auf der Welt ganz, ganz langsam geschieht."
Und, so lässt sich hinzufügen, auch unaufhaltsam. Mit Autoren wie Sergei Lebedew wird die Erinnerung an den stalinistischen Terror zwangsläufig wieder zurückkehren. Und die wird auch ein Wladimir Putin nicht verhindern können.
Sergej Lebedew: Der Himmel auf ihren Schultern
Roman. Aus dem Russischen von Franziska Zwerg
Fischer Verlag 2013, 336 Seiten, 19,99 Euro
Roman. Aus dem Russischen von Franziska Zwerg
Fischer Verlag 2013, 336 Seiten, 19,99 Euro
Links auf dradio.de:
Überleben in Workuta- Horst Bienek: "Workuta", Wallstein Verlag, Göttingen 2013, 80 Seiten
Spott für ein bröckelndes System - Julia Kissina: "Frühling auf dem Mond", Suhrkamp Verlag, Berlin 2013, 252 Seiten