Die unbekannte Kreative
Gemeinsam mit dem estnischen Tallinn darf sich Turku an der Finnischen Westküste 2011 mit dem Titel "Kulturhauptstadt Europas" schmücken. Die Hafenstadt blickt auf ein stolzes Erbe zurück und könnte sich wieder einmal neu erfinden, hoffen die Veranstalter des ehrgeizigen Programms.
"Turku in Flammen" – der Regisseur Juha-Pekka Mikkola nimmt das Motto der Kulturhauptstadt wörtlich. In seinem "1827 Infernal Musical" wird die Flammenhölle mit Kunstnebel und Scheinwerfern eindrucksvoll in Szene gesetzt. Für die Probe im Kinder- und Jugendtheater Turun Nuori Teatteri zwängen sich die Nachwuchsschauspieler in eine hautenge Ledermontur.
Ein Bass brummt, Trommeln dröhnen. Vorhang auf für den höllischen Heavy Metal-Totentanz. Im Hardrock erkenne der Finne seine wahre Seele, sagt Mikkola, ein ganz in Schwarz gehüllter Mittdreißiger mit breitem Kreuz und muskulösen Oberarmen. In Turku leitet er das notorisch klamme Traditionstheater, in Helsinki steht er als Schauspieler auf der Bühne und vor der Kamera:
"Wir Finnen leben in urwüchsigen Wäldern. Im Winter ist es lange Monate nur dunkel. Wir empfinden Heavy Metal als Befreiung, als Zugang zur Phantasie. Und er steht für eine gewisse Einstellung: niemals aufgeben und immer für seine Sache einstehen."
Wie so viele Kulturschaffende in Turku lobt Juha-Pekka Mikkola die verblüffende Vielfalt der örtlichen Künstlerszene mit einer blühenden Subkultur. Gleichwohl lebt er mit Frau und Tochter in der 120 Kilometer weiter östlich an der Finnischen Bucht gelegenen Hauptstadt Helsinki. Turku, die alte Heimat aus Kindertagen, ist ihm zu abgelegen:
"In Turku gibt es viel Mainstream, aber auch Underground. Wir haben sehr gute Theater und Orchester. Und eine überaus vitale Musik- und Kunstszene, die nicht auf den Kommerz ausgerichtet ist. Allerdings werden wir vom Magistrat kaum gestützt. Unser Jugendtheater lebt von Sponsoren. Ich kam gleich von der Theaterschule ans Schauspielhaus. Doch nach sechs Jahren hatte ich genug und bin nach Helsinki gegangen, um etwas Neues anzufangen: Film und Fernsehen. So wie ich haben das viele gemacht."
Dem Lockreiz des hippen Helsinki ist kaum zu widerstehen. Dort sind die Kunsthändler, die Kritiker, die Kuratoren. Doch im Kulturjahr wird Turku aus dem Schatten heraustreten, hofft Suvi Innilä. Die gelernte Kunsthistorikerin, Jahrgang 1974, organisiert das anspruchsvolle Kulturprogramm mit einem Budget von 50 Millionen Euro. Die wirtschaftlich gebeutelte Metropole will allein aus dem Stadtsäckel 17 Millionen Euro spendieren, weshalb viele ihrer Bewohner gegen die Bewerbung protestiert haben.
Die Kultur wird Turkus Rettung sein, hält Suvi Innilä dagegen. Die dynamische Programmchefin beruft sich auf Prognosen, die der Kulturhauptstadt bis zu zwei Millionen zusätzliche Besucher und Mehreinnahmen von 200 Millionen Euro verheißen. Die finnische Künstlermetropole kann die Werbung gebrauchen.
Außerhalb Skandinaviens hat nämlich kaum ein Reisender je von ihr gehört.
Suvi Innilä: "Wir wollen die Kultur dorthin tragen, wo die Menschen sind. Der Musiker Kimmo Pohjonen – wir nennen ihn den 'Jimmy Hendrix des Akkordeons' – hat sich etwas ganz Besonderes ausgedacht: Er will den sportlichen Ringkampf mit aufwühlenden Akkordeon-Klängen kombinieren. Zu einer Choreografie, in der sich die Athleten in Künstler verwandeln. Bei den Proben saßen zu unserer Freude viele kampflustige Männer im Stadion. Unser größtes Anliegen ist es, neue Zielgruppen für die Kultur zu gewinnen. Und ich muss zugeben, eine solche Zielgruppe sind besonders die Männer."
Besucher lockt Turku mit Wahrzeichen wie der Domkirche St. Marien, seit ihrer Weihe um das Jahr 1300 Bischofssitz und Nationalheiligtum. Die Festung am Hafen war im Mittelalter ein Vorposten schwedischer Königsmacht. Um 1157 gründete König Erik hier, an der Mündung des Flusses Aura in die Ostsee, einen strategischen Handelsposten mit besten Kontakten zur Hanse. An der Uferpromenade des flachen Stroms ist das maritime Erbe noch sehr lebendig. Die alten Docks bergen heute die Kunstakademie mit Zeichenschule und Konservatorium.
Ein paar Schritte flussaufwärts ragt ein roter Ziegelbau mit eisernen Toren und hohen Fensterbändern am Ufer empor. Für den privaten Investor Hartela leitet Jukka Mäkinen den Umbau dieses 130 Jahre alten Eisenbahndepots zum Kulturzentrum "Logomo".
Zur bombastischen Eröffnungsfeier Mitte Januar lädt die Stadt bereits in das Gebäude ein, das noch eine Baustelle ist. Bis zur letzten Minute müssen Mäkinen und seine Arbeiter anpacken, um den Konzertsaal wenigstens provisorisch für die Gäste herzurichten.
Jukka Mäkinen: "Dies ist der älteste Gebäudeteil. Hier liegen überall Gleise.
Die Züge konnten durch den ganzen Komplex rollen. Wir haben alles leergeräumt. Hier drüben entstehen kleinere Räume für Ausstellungen. Und dort die Ateliers für die Kreativen. Man hat schon eine Ahnung, wie es werden könnte, aber es gibt noch einiges zu tun."
Mit Investitionen von 50 Millionen Euro rechnet auch Jukka Mäkinen. Man plant hier weit über das Kulturjahr hinaus. In einigen Jahren soll der weitläufige Komplex mit
24.000 Quadratmetern Gestaltungsfläche Heimstatt für Künstler, Architekten und Werber sein.
Die europäische Kulturinitiative wird den Strukturwandel beflügeln, prophezeit Lauri Karvonen. An der schwedischsprachigen Åbo Akademi erforscht der Soziologe das gemeinsame Erbe von Schweden und Finnen. Seit dem Mittelalter waren sie in Harmonie verbunden. Doch 1809 endeten jäh alle Blütenträume: Russlands Zar Alexander I. zwang Finnland unter die russische Herrschaft. Als in Turku bald darauf das Feuer ausbrach, blieben dort nur rauchende Trümmer zurück.
Lauri Karvonen: "Wenn man es brutal ausdrücken will, dann hat sich Turku nie von diesem Tiefschlag erholt. Auch der erhoffte wirtschaftliche Aufschwung blieb aus.
Von unserer Schwerindustrie ist wenig übrig. Wir bangen um das Überleben der Werft. In einer Welt, die vom Freihandel geprägt ist, werden die Schiffe dort gebaut, wo das am billigsten geht. Wir müssen in Zukunft beinhart auf unsere klugen Köpfe und auf den Tourismus setzen. Wir haben doch eine einzigartige Kathedrale, ein prachtvolles Schloss und unser großartiges Kulturerbe hier."
150 Veranstaltungen sind geplant – vom spartanischen Fingertheater bis zum modernen Tanz. Von Künstlern gestaltete Saunas sollen zum öffentlichen Schwitzen animieren. Installationen und Konzerte locken Kulturtouristen hinaus in den Archipel der Schären: 20 000 Inseln, Felsen und Holme, die meisten davon unbewohnt. Turku lässt den Winter wie den Sommer leuchten.
Mehr zum Thema:
Auf derenglischsprachigen Webseite "Turku - European Capital of Culture" finden Sie Informationen zu Aktivitäten und Programm in Turku.
Ein Bass brummt, Trommeln dröhnen. Vorhang auf für den höllischen Heavy Metal-Totentanz. Im Hardrock erkenne der Finne seine wahre Seele, sagt Mikkola, ein ganz in Schwarz gehüllter Mittdreißiger mit breitem Kreuz und muskulösen Oberarmen. In Turku leitet er das notorisch klamme Traditionstheater, in Helsinki steht er als Schauspieler auf der Bühne und vor der Kamera:
"Wir Finnen leben in urwüchsigen Wäldern. Im Winter ist es lange Monate nur dunkel. Wir empfinden Heavy Metal als Befreiung, als Zugang zur Phantasie. Und er steht für eine gewisse Einstellung: niemals aufgeben und immer für seine Sache einstehen."
Wie so viele Kulturschaffende in Turku lobt Juha-Pekka Mikkola die verblüffende Vielfalt der örtlichen Künstlerszene mit einer blühenden Subkultur. Gleichwohl lebt er mit Frau und Tochter in der 120 Kilometer weiter östlich an der Finnischen Bucht gelegenen Hauptstadt Helsinki. Turku, die alte Heimat aus Kindertagen, ist ihm zu abgelegen:
"In Turku gibt es viel Mainstream, aber auch Underground. Wir haben sehr gute Theater und Orchester. Und eine überaus vitale Musik- und Kunstszene, die nicht auf den Kommerz ausgerichtet ist. Allerdings werden wir vom Magistrat kaum gestützt. Unser Jugendtheater lebt von Sponsoren. Ich kam gleich von der Theaterschule ans Schauspielhaus. Doch nach sechs Jahren hatte ich genug und bin nach Helsinki gegangen, um etwas Neues anzufangen: Film und Fernsehen. So wie ich haben das viele gemacht."
Dem Lockreiz des hippen Helsinki ist kaum zu widerstehen. Dort sind die Kunsthändler, die Kritiker, die Kuratoren. Doch im Kulturjahr wird Turku aus dem Schatten heraustreten, hofft Suvi Innilä. Die gelernte Kunsthistorikerin, Jahrgang 1974, organisiert das anspruchsvolle Kulturprogramm mit einem Budget von 50 Millionen Euro. Die wirtschaftlich gebeutelte Metropole will allein aus dem Stadtsäckel 17 Millionen Euro spendieren, weshalb viele ihrer Bewohner gegen die Bewerbung protestiert haben.
Die Kultur wird Turkus Rettung sein, hält Suvi Innilä dagegen. Die dynamische Programmchefin beruft sich auf Prognosen, die der Kulturhauptstadt bis zu zwei Millionen zusätzliche Besucher und Mehreinnahmen von 200 Millionen Euro verheißen. Die finnische Künstlermetropole kann die Werbung gebrauchen.
Außerhalb Skandinaviens hat nämlich kaum ein Reisender je von ihr gehört.
Suvi Innilä: "Wir wollen die Kultur dorthin tragen, wo die Menschen sind. Der Musiker Kimmo Pohjonen – wir nennen ihn den 'Jimmy Hendrix des Akkordeons' – hat sich etwas ganz Besonderes ausgedacht: Er will den sportlichen Ringkampf mit aufwühlenden Akkordeon-Klängen kombinieren. Zu einer Choreografie, in der sich die Athleten in Künstler verwandeln. Bei den Proben saßen zu unserer Freude viele kampflustige Männer im Stadion. Unser größtes Anliegen ist es, neue Zielgruppen für die Kultur zu gewinnen. Und ich muss zugeben, eine solche Zielgruppe sind besonders die Männer."
Besucher lockt Turku mit Wahrzeichen wie der Domkirche St. Marien, seit ihrer Weihe um das Jahr 1300 Bischofssitz und Nationalheiligtum. Die Festung am Hafen war im Mittelalter ein Vorposten schwedischer Königsmacht. Um 1157 gründete König Erik hier, an der Mündung des Flusses Aura in die Ostsee, einen strategischen Handelsposten mit besten Kontakten zur Hanse. An der Uferpromenade des flachen Stroms ist das maritime Erbe noch sehr lebendig. Die alten Docks bergen heute die Kunstakademie mit Zeichenschule und Konservatorium.
Ein paar Schritte flussaufwärts ragt ein roter Ziegelbau mit eisernen Toren und hohen Fensterbändern am Ufer empor. Für den privaten Investor Hartela leitet Jukka Mäkinen den Umbau dieses 130 Jahre alten Eisenbahndepots zum Kulturzentrum "Logomo".
Zur bombastischen Eröffnungsfeier Mitte Januar lädt die Stadt bereits in das Gebäude ein, das noch eine Baustelle ist. Bis zur letzten Minute müssen Mäkinen und seine Arbeiter anpacken, um den Konzertsaal wenigstens provisorisch für die Gäste herzurichten.
Jukka Mäkinen: "Dies ist der älteste Gebäudeteil. Hier liegen überall Gleise.
Die Züge konnten durch den ganzen Komplex rollen. Wir haben alles leergeräumt. Hier drüben entstehen kleinere Räume für Ausstellungen. Und dort die Ateliers für die Kreativen. Man hat schon eine Ahnung, wie es werden könnte, aber es gibt noch einiges zu tun."
Mit Investitionen von 50 Millionen Euro rechnet auch Jukka Mäkinen. Man plant hier weit über das Kulturjahr hinaus. In einigen Jahren soll der weitläufige Komplex mit
24.000 Quadratmetern Gestaltungsfläche Heimstatt für Künstler, Architekten und Werber sein.
Die europäische Kulturinitiative wird den Strukturwandel beflügeln, prophezeit Lauri Karvonen. An der schwedischsprachigen Åbo Akademi erforscht der Soziologe das gemeinsame Erbe von Schweden und Finnen. Seit dem Mittelalter waren sie in Harmonie verbunden. Doch 1809 endeten jäh alle Blütenträume: Russlands Zar Alexander I. zwang Finnland unter die russische Herrschaft. Als in Turku bald darauf das Feuer ausbrach, blieben dort nur rauchende Trümmer zurück.
Lauri Karvonen: "Wenn man es brutal ausdrücken will, dann hat sich Turku nie von diesem Tiefschlag erholt. Auch der erhoffte wirtschaftliche Aufschwung blieb aus.
Von unserer Schwerindustrie ist wenig übrig. Wir bangen um das Überleben der Werft. In einer Welt, die vom Freihandel geprägt ist, werden die Schiffe dort gebaut, wo das am billigsten geht. Wir müssen in Zukunft beinhart auf unsere klugen Köpfe und auf den Tourismus setzen. Wir haben doch eine einzigartige Kathedrale, ein prachtvolles Schloss und unser großartiges Kulturerbe hier."
150 Veranstaltungen sind geplant – vom spartanischen Fingertheater bis zum modernen Tanz. Von Künstlern gestaltete Saunas sollen zum öffentlichen Schwitzen animieren. Installationen und Konzerte locken Kulturtouristen hinaus in den Archipel der Schären: 20 000 Inseln, Felsen und Holme, die meisten davon unbewohnt. Turku lässt den Winter wie den Sommer leuchten.
Auf derenglischsprachigen Webseite "Turku - European Capital of Culture" finden Sie Informationen zu Aktivitäten und Programm in Turku.