Die unbekannte Weltmacht
China wird aufgrund seines hohen Wachstums aller Voraussicht nach die wirtschaftliche und damit weltpolitische Entwicklung in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts entscheidend beeinflussen. Hierzulande aber sind die Strukturen des Noch-Entwicklungslandes wenig bekannt. Altbundeskanzler Helmut Schmidt bringt uns in "Nachbar China" den künftigen global player näher.
Schon der Titel könnte irritieren: "Nachbar China" – Nachbar? Allerdings! Das jedenfalls wird nach der Lektüre dieses 300-Seiten-Interviews des Journalisten Frank Sieren mit dem ehemaligen Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, Helmut Schmidt, deutlich. Nicht nur die geopolitische Entspannung mit dem Wegfall des eisernen Vorhangs hat uns China näher gebracht, auch und gerade die momentane weltwirtschaftliche und technologische Offensive Pekings hat die Distanz genommen. Der Weltökonom Schmidt bringt uns zudem den "global player" China auf eindrucksvolle Weise näher. Schon in der Einleitung räumt Schmidt mit einem fatalen Fehlurteil der Westeuropäer auf:
"Der dem europäischen Publikum immer wieder erweckte Eindruck, weil China Mitglied des globalen Weltmarktes geworden sei, gefährde es unsere Arbeitsplätze und unseren Wohlstand, ist falsch. Denn Europa und so auch Deutschland wären sehr wohl in der Lage, ihre strukturell bedingte hohe Arbeitslosigkeit zu reduzieren – das beweisen Irland und Österreich und alle skandinavischen Staaten. … Der Westen insgesamt, der in der Theorie den freien Handel propagiert, muss den Entwicklungsländern – und damit auch China – das Recht und die tatsächliche Möglichkeit zugestehen, sich auf dem Weltmarkt mit eigenen Produkten zu präsentieren und einen Teil des Marktes zu erobern."
Für den Altkanzler ist es nach eigenen Worten wichtig, dass den Lesern 1. mehr Respekt vor der chinesischen Kultur bewusst werde, dass 2. besserwisserische Vorurteile abgebaut würden und 3. klar wird, dass China keineswegs schuld an den heutigen ökonomischen und sozialen Problemen Westeuropas trage.
Dazu hat er die Gesprächsform gewählt. Sein Partner ist ein kompetenter China-Kenner: Frank Sieren lebt seit zwölf Jahren als China Korrespondent der "Wirtschaftswoche" in Peking. Und es ist wohl der kennerischen Kongenialität der beiden Dialogpartner zu verdanken, dass ein insgesamt hochinteressantes Panorama der Entwicklung Chinas deutlich wird. Mit seinem Gesprächspartner, so räumt Schmidt selbst ein, habe er nicht immer übereingestimmt, aber das schadet dem Buch keineswegs, ganz im Gegenteil, hier werden Konturen eher verdeutlicht. Beispiel, etwa wenn Sieren die These einbringt, dass stärkerer wirtschaftlicher Wohlstand geradezu zwangsläufig demokratische Entwicklungen mit sich bringen müsse. Dazu Schmidt:
"Das halte ich für einen Wunschtraum. Sie können diesen schönen Satz auch umkehren und behaupten, es sei zwangsläufig, dass eine demokratische Staats- und Gesellschaftsentwicklung zu mehr Wohlstand führt. Auch da würde ich sagen – ein Wunschtraum."
Dennoch schätzt Schmidt das wirtschaftliche Potenzial Chinas als sehr hoch ein. Und das obwohl mit dem Wachstum ein größerer Rohstoffbedarf der Chinesen an den Weltmärkten evident geworden ist. Allerdings, so Schmidt, setze die chinesische Außenpolitik vorläufig auf Verträge und Verhandlungen, etwa um den eigenen gestiegenen Energiebedarf zu sichern. Eine interessante Zukunftsoption hat Schmidt an der Exploration sibirischer Rohstofffelder ausgemacht. Für China aufgrund der geografischen Nähe eine wichtige Möglichkeit.
"Weil wegen der globalen Erwärmung der Parmafrost nach Norden zurückweicht, werden die südlicheren Gegenden von Sibirien bewohnbar werden. Dann werden Geologen und Ingenieure anfangen dort nach Lagerstätten zu suchen. Es könnte sein, dass man sie in größerer Nähe zu China findet."
Eine militärische Option haben nach Schmidts Meinung die Chinesen keineswegs, ihren Energiebedarf in anderen Ländern zu sichern. Schon allein aus dem Militäretat, der mit 30 Milliarden US Dollar etwa so groß wie der deutsche und nur einen Bruchteil der 450 Milliarden der USA sei, verbiete diese Erwägungen. Allerdings schließt Schmidt keineswegs aus, dass aufgrund des gestiegenen Energiebedarfs der Chinesen die Ölpreise noch schneller steigen werden.
"Das kann in den nächsten Jahren passieren. Einstweilen genügt eine kleine Revolution in einem Ölförderland oder ein kleiner Bürgerkrieg. Dann sind wir schnell beim doppelten Preis fürs Öl, bevor noch die Chinesen sich richtig eingedeckt haben. In den siebziger Jahren etwa ist innerhalb von sieben Jahren der Ölpreis auf das Zwanzigfache gestiegen."
Mit der chinesischen Option bis zum Jahr 2020 noch 30 weitere Kernkraftwerke zu bauen, mischt sich Schmidt gewiss nicht ohne Hintersinn in die deutsche Atom-Ausstiegsdiskussion ein.
"Grund genug für die Deutschen darüber nachzudenken, ob sie die Schlausten der Welt sind. Sie verzichten als einziger Großstaat der Welt darauf, Atomkraftwerke zu erreichten…Diese generelle populäre Welle der Antipathie gegen Kernkraftwerke, die ist sehr deutsch. Die gibt es in anderen Nationen nicht, nicht in Frankreich, nicht in Kanada, nicht in den USA."
Keinen Zweifel lässt Schmidt an seiner Überzeugung, dass die Entwicklung in China nicht mit europäischen Maßstäben zu messen ist.
"China ist einerseits schwer zu steuern, weil die chinesischen Provinzen viel selbständiger gegenüber Peking sind als etwa die Bundesländer gegenüber Berlin. … Andererseits ist China einfach zu steuern, denn die Provinzgouverneure und die Parteisekretäre werden von Peking ernannt. Wenn also ein Gouverneur über die Stränge schlägt, wird er ausgetauscht… Die Umsetzung von Lösungen ist in Diktaturen leichter. Aber in Diktaturen können Regierende oft die entscheidenden Probleme nicht rechtzeitig begreifen, weil ja keine offene Diskussion stattfinden darf."
Diese wenigen Aspekte und ihre Erörterung stehen als pars pro toto für ein hochinteressantes Buch über die Strukturen eines bislang auch hierzulande viel zu wenig bekannten Landes, eines Noch-Entwicklungslandes, das jedoch in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts die weltwirtschaftliche und damit weltpolitische Entwicklung entscheidend mit beeinflussen wird. Es ist das große Verdienst des Altbundeskanzlers auch im Hinblick auf das System, die Machthaber, die Kultur und die sozialen Möglichkeiten Aspekte aufgezeigt zu haben, die niemanden unberührt lassen können. China muss ernst genommen werden, China muss auch und gerade im Hinblick auf die Wirtschaftsregion Asien auch in Konkurrenz zu Japan, möglichst offen und fair beurteilt werden. Den nahe liegenden Gedanken, China stärker in das Machtgeflecht der so genannten großen Industrienationen einzubinden dementiert Helmut Schmidt indessen kurz und bündig:
"China wird beim Wiederaufstieg zur Weltmacht seinen eigenen Weg gehen."
Na dann – auf gute Nachbarschaft!
"Der dem europäischen Publikum immer wieder erweckte Eindruck, weil China Mitglied des globalen Weltmarktes geworden sei, gefährde es unsere Arbeitsplätze und unseren Wohlstand, ist falsch. Denn Europa und so auch Deutschland wären sehr wohl in der Lage, ihre strukturell bedingte hohe Arbeitslosigkeit zu reduzieren – das beweisen Irland und Österreich und alle skandinavischen Staaten. … Der Westen insgesamt, der in der Theorie den freien Handel propagiert, muss den Entwicklungsländern – und damit auch China – das Recht und die tatsächliche Möglichkeit zugestehen, sich auf dem Weltmarkt mit eigenen Produkten zu präsentieren und einen Teil des Marktes zu erobern."
Für den Altkanzler ist es nach eigenen Worten wichtig, dass den Lesern 1. mehr Respekt vor der chinesischen Kultur bewusst werde, dass 2. besserwisserische Vorurteile abgebaut würden und 3. klar wird, dass China keineswegs schuld an den heutigen ökonomischen und sozialen Problemen Westeuropas trage.
Dazu hat er die Gesprächsform gewählt. Sein Partner ist ein kompetenter China-Kenner: Frank Sieren lebt seit zwölf Jahren als China Korrespondent der "Wirtschaftswoche" in Peking. Und es ist wohl der kennerischen Kongenialität der beiden Dialogpartner zu verdanken, dass ein insgesamt hochinteressantes Panorama der Entwicklung Chinas deutlich wird. Mit seinem Gesprächspartner, so räumt Schmidt selbst ein, habe er nicht immer übereingestimmt, aber das schadet dem Buch keineswegs, ganz im Gegenteil, hier werden Konturen eher verdeutlicht. Beispiel, etwa wenn Sieren die These einbringt, dass stärkerer wirtschaftlicher Wohlstand geradezu zwangsläufig demokratische Entwicklungen mit sich bringen müsse. Dazu Schmidt:
"Das halte ich für einen Wunschtraum. Sie können diesen schönen Satz auch umkehren und behaupten, es sei zwangsläufig, dass eine demokratische Staats- und Gesellschaftsentwicklung zu mehr Wohlstand führt. Auch da würde ich sagen – ein Wunschtraum."
Dennoch schätzt Schmidt das wirtschaftliche Potenzial Chinas als sehr hoch ein. Und das obwohl mit dem Wachstum ein größerer Rohstoffbedarf der Chinesen an den Weltmärkten evident geworden ist. Allerdings, so Schmidt, setze die chinesische Außenpolitik vorläufig auf Verträge und Verhandlungen, etwa um den eigenen gestiegenen Energiebedarf zu sichern. Eine interessante Zukunftsoption hat Schmidt an der Exploration sibirischer Rohstofffelder ausgemacht. Für China aufgrund der geografischen Nähe eine wichtige Möglichkeit.
"Weil wegen der globalen Erwärmung der Parmafrost nach Norden zurückweicht, werden die südlicheren Gegenden von Sibirien bewohnbar werden. Dann werden Geologen und Ingenieure anfangen dort nach Lagerstätten zu suchen. Es könnte sein, dass man sie in größerer Nähe zu China findet."
Eine militärische Option haben nach Schmidts Meinung die Chinesen keineswegs, ihren Energiebedarf in anderen Ländern zu sichern. Schon allein aus dem Militäretat, der mit 30 Milliarden US Dollar etwa so groß wie der deutsche und nur einen Bruchteil der 450 Milliarden der USA sei, verbiete diese Erwägungen. Allerdings schließt Schmidt keineswegs aus, dass aufgrund des gestiegenen Energiebedarfs der Chinesen die Ölpreise noch schneller steigen werden.
"Das kann in den nächsten Jahren passieren. Einstweilen genügt eine kleine Revolution in einem Ölförderland oder ein kleiner Bürgerkrieg. Dann sind wir schnell beim doppelten Preis fürs Öl, bevor noch die Chinesen sich richtig eingedeckt haben. In den siebziger Jahren etwa ist innerhalb von sieben Jahren der Ölpreis auf das Zwanzigfache gestiegen."
Mit der chinesischen Option bis zum Jahr 2020 noch 30 weitere Kernkraftwerke zu bauen, mischt sich Schmidt gewiss nicht ohne Hintersinn in die deutsche Atom-Ausstiegsdiskussion ein.
"Grund genug für die Deutschen darüber nachzudenken, ob sie die Schlausten der Welt sind. Sie verzichten als einziger Großstaat der Welt darauf, Atomkraftwerke zu erreichten…Diese generelle populäre Welle der Antipathie gegen Kernkraftwerke, die ist sehr deutsch. Die gibt es in anderen Nationen nicht, nicht in Frankreich, nicht in Kanada, nicht in den USA."
Keinen Zweifel lässt Schmidt an seiner Überzeugung, dass die Entwicklung in China nicht mit europäischen Maßstäben zu messen ist.
"China ist einerseits schwer zu steuern, weil die chinesischen Provinzen viel selbständiger gegenüber Peking sind als etwa die Bundesländer gegenüber Berlin. … Andererseits ist China einfach zu steuern, denn die Provinzgouverneure und die Parteisekretäre werden von Peking ernannt. Wenn also ein Gouverneur über die Stränge schlägt, wird er ausgetauscht… Die Umsetzung von Lösungen ist in Diktaturen leichter. Aber in Diktaturen können Regierende oft die entscheidenden Probleme nicht rechtzeitig begreifen, weil ja keine offene Diskussion stattfinden darf."
Diese wenigen Aspekte und ihre Erörterung stehen als pars pro toto für ein hochinteressantes Buch über die Strukturen eines bislang auch hierzulande viel zu wenig bekannten Landes, eines Noch-Entwicklungslandes, das jedoch in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts die weltwirtschaftliche und damit weltpolitische Entwicklung entscheidend mit beeinflussen wird. Es ist das große Verdienst des Altbundeskanzlers auch im Hinblick auf das System, die Machthaber, die Kultur und die sozialen Möglichkeiten Aspekte aufgezeigt zu haben, die niemanden unberührt lassen können. China muss ernst genommen werden, China muss auch und gerade im Hinblick auf die Wirtschaftsregion Asien auch in Konkurrenz zu Japan, möglichst offen und fair beurteilt werden. Den nahe liegenden Gedanken, China stärker in das Machtgeflecht der so genannten großen Industrienationen einzubinden dementiert Helmut Schmidt indessen kurz und bündig:
"China wird beim Wiederaufstieg zur Weltmacht seinen eigenen Weg gehen."
Na dann – auf gute Nachbarschaft!

Helmut Schmidt & Frank Sieren: "Nachbar China"© Econ Verlag