Die Ungewaschene
Der Journalist Günter Liehr wirft einen Blick auf die Kulturhauptstadt Marseille. Er lebt seit 1977 in Frankreich, ist Redakteur bei Radio France Internationale und widmet seiner Wahlheimat ein fundiertes Porträt.
Noch vor wenigen Jahrzehnten galt die Stadt als dreckig und kriminell, als Drogenhölle, Hort der Armut, kleinkrimineller Einwanderer und rechtsradikaler Politiker. Die meisten Provence-Reisenden machten einen großen Bogen um Marseille. Heute ist die Stadt hingegen Ziel von Kreuzfahrtschiffen und Kurzurlaubern - und zudem Kulturhauptstadt Europas. Günter Liehr widmet ihr ein fundiertes und vielschichtiges Porträt.
Das flüssig geschriebene, eher historisch angelegte Buch konzentriert sich auf die letzten 200 Jahre der Stadtgeschichte. Liehr beschreibt anschaulich, wie sich der Hafen entwickelt, wie Seifensiedereien und Fettfabriken entstehen und wie ab 1860 die ersten Einwanderer aus Italien kommen. Damit beginnt ein Einwandererstrom, der bis heute nicht endet.
Es ist erstaunlich, wie einzelne Akteure die Geschichte der Stadt bestimmten: Der Korse Simon Sambiani beispielsweise legt eine beispiellose Karriere hin: Er steigt vom kleinen Transportunternehmer, der 1920 als erster kommunistischer Abgeordneter ins Rathaus gewählt wird, zum stellvertretenden Bürgermeister auf, entwickelt sich politisch immer mehr nach rechts und ist später während der deutschen Besatzung einer der wichtigsten Kollaborateure in der Stadt. Alles im engen Schulterschluss mit der Unterwelt.
Günther Liehr erzählt vom Klientelismus, der seit Sambiani zur Marseiller Politikfolklore gehört, davon, wie die Hochburg der Kommunisten sich in eine des Front National verwandelt und Marseille in den 70er-Jahren Zentrum des internationalen Drogenhandels wird. Aus vielen einzelnen Pinselstrichen entsteht so ein durchaus meinungsfreudiges und kenntnisreiches Porträt der widerspenstigen Mittelmeermetropole.
Das flüssig geschriebene, eher historisch angelegte Buch konzentriert sich auf die letzten 200 Jahre der Stadtgeschichte. Liehr beschreibt anschaulich, wie sich der Hafen entwickelt, wie Seifensiedereien und Fettfabriken entstehen und wie ab 1860 die ersten Einwanderer aus Italien kommen. Damit beginnt ein Einwandererstrom, der bis heute nicht endet.
Es ist erstaunlich, wie einzelne Akteure die Geschichte der Stadt bestimmten: Der Korse Simon Sambiani beispielsweise legt eine beispiellose Karriere hin: Er steigt vom kleinen Transportunternehmer, der 1920 als erster kommunistischer Abgeordneter ins Rathaus gewählt wird, zum stellvertretenden Bürgermeister auf, entwickelt sich politisch immer mehr nach rechts und ist später während der deutschen Besatzung einer der wichtigsten Kollaborateure in der Stadt. Alles im engen Schulterschluss mit der Unterwelt.
Günther Liehr erzählt vom Klientelismus, der seit Sambiani zur Marseiller Politikfolklore gehört, davon, wie die Hochburg der Kommunisten sich in eine des Front National verwandelt und Marseille in den 70er-Jahren Zentrum des internationalen Drogenhandels wird. Aus vielen einzelnen Pinselstrichen entsteht so ein durchaus meinungsfreudiges und kenntnisreiches Porträt der widerspenstigen Mittelmeermetropole.
Marseille - eine Transitmetropole am Mittelmeer
Der Sündenpfuhl Marseille lockte schon in den 20er-Jahren deutsche Reporter, die sich, der eine mehr, der andere weniger, weit in die Bordellgassen des Hafenviertels hineinwagten. Viele von ihnen kamen 20 Jahre später erneut: als Flüchtlinge aus Nazideutschland, darauf hoffend, Europa verlassen zu können.
Liehr berichtet von den Nöten der Exilierten und von dem Amerikaner Varian Fry, der ab 1940 durch das Centre Américain de Secours zahlreiche Flüchtlinge rettet. 1942 besetzen deutsche Truppen die Stadt, und 1943 sprengen sie das Hafenviertel, ein Akt der Barbarei, der ironischerweise von den Franzosen, zumindest der Oberschicht, nicht als solcher angesehen wird: Schon in den 30er-Jahren hat es Pläne gegeben, es niederzureißen.
Das Gassengewirr verschwand, doch eines klappte nicht: Das Leben, das Widersprüchliche, das aus der Kultur der unterschiedlichen Menschen- und Einwanderergruppen resultiert und das Marseilles Stadtzentrum in seiner Ungewaschenheit für Liehr so anziehend macht, zu vertreiben. Marseille verweigert und entzieht sich großen, geplanten Entwürfen.
Immer noch? Die Innenstadt Marseilles wird wie die vieler Metropolen seit einigen Jahren für Touristen und Investoren aufgehübscht. Die Armen werden in Wohnsilos an den Stadtrand verdrängt. Aber Liehr kennt sein Marseille, und er setzt und hofft auf seine Widerstandsfähigkeit.
Besprochen von Günther Wessel
Liehr berichtet von den Nöten der Exilierten und von dem Amerikaner Varian Fry, der ab 1940 durch das Centre Américain de Secours zahlreiche Flüchtlinge rettet. 1942 besetzen deutsche Truppen die Stadt, und 1943 sprengen sie das Hafenviertel, ein Akt der Barbarei, der ironischerweise von den Franzosen, zumindest der Oberschicht, nicht als solcher angesehen wird: Schon in den 30er-Jahren hat es Pläne gegeben, es niederzureißen.
Das Gassengewirr verschwand, doch eines klappte nicht: Das Leben, das Widersprüchliche, das aus der Kultur der unterschiedlichen Menschen- und Einwanderergruppen resultiert und das Marseilles Stadtzentrum in seiner Ungewaschenheit für Liehr so anziehend macht, zu vertreiben. Marseille verweigert und entzieht sich großen, geplanten Entwürfen.
Immer noch? Die Innenstadt Marseilles wird wie die vieler Metropolen seit einigen Jahren für Touristen und Investoren aufgehübscht. Die Armen werden in Wohnsilos an den Stadtrand verdrängt. Aber Liehr kennt sein Marseille, und er setzt und hofft auf seine Widerstandsfähigkeit.
Besprochen von Günther Wessel
Günter Liehr: Marseille. Porträt einer widerspenstigen Stadt
Rotpunktverlag, Zürich 2013
302 Seiten, 29,90 Euro
Rotpunktverlag, Zürich 2013
302 Seiten, 29,90 Euro